AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs11
AsylG 2005 §58 Abs2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §27
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §28 Abs5
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2022:I405.2163263.3.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Sirma KAYA über die Beschwerden von
1.) XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria (BF1), vertreten durch BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.09.2021, Zl. XXXX und
2.) XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria (BF2), gesetzlich vertreten durch ihre Mutter XXXX , diese wiederum vertreten durch BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.09.2021, ZI. XXXX und
3.) XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria (BF3), gesetzlich vertreten durch seine Mutter XXXX , diese wiederum vertreten durch BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.09.2021, ZI. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.08.2022, zu Recht erkannt:
A) I. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt I. und VI. (im Hinblick auf die BF1) der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ sowie XXXX und XXXX gemäß §§ 54 Abs. 1 Z 2, 55 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ jeweils für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkte II. bis V. (im Hinblick auf die BF1) bzw. II. bis IV. (im Hinblick auf die BF2 und den BF3) der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und diese ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Erstbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF1) ist die Mutter der mindjährigen Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF2) und des minderjährigen Drittbeschwerdeführers (im Folgenden: BF3). Allesamt sind Staatsangehörige von Nigeria.
2. Die BF1 reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 15.09.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.
3. Am XXXX wurde die BF2 in Österreich nachgeboren und für diese von der BF1, als deren gesetzliche Vertreterin am 06.04.2017 ein Antrag auf Familienverfahren gestellt, wobei keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht wurden.
4. Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 08.06.2017 wurden die Anträge der BF1 und der BF2 hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten sowie hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug ihren Herkunftsstaat Nigeria als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen wurde nicht erteilt, gegen die BF eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde bestimmt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
5. Am XXXX wurde der BF3 im Bundesgebiet nachgeboren und für diesen von der BF1 als dessen gesetzliche Vertreterin ein Antrag auf Familienverfahren gestellt.
6. Mit Bescheid vom 07.12.2018 wurde für diesen eine den Bescheiden betreffend die BF1 und die BF2 gleichlautende Entscheidung getroffen.
7. Die gegen diese Bescheide in weiterer Folge erhobenen Beschwerden wurden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11.07.2019, Zln. I412 2163262-1/6E, I412 2211968-1/6E, I412 2163263-1/6E als unbegründet abgewiesen.
8. Am 19.09.2019 stellte die BF1 für sich und als gesetzliche Vertreterin für die BF2 und den BF3 die gegenständlichen Erstanträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln aus den Gründen des Art. 8 EMRK iSd § 55 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AsylG 2005.
9. Mit Verbesserungsauftrag der belangten Behörde vom 19.09.2019 wurden die BF aufgefordert, ihre Anträge schriftlich zu begründen sowie gültige Reisedokumente vorzulegen.
10. In weiterer Folge legten die BF durch ihren Rechtsvertreter diverse Unterlagen zum Privat- und Familienleben vor und stellten zugleich einen Antrag auf Mängelheilung, zumal sie nicht der Lage seien, gültige Reisedokumente in Vorlage zu bringen.
11. Mit Bescheiden des BFA vom 29.09.2020 wurden die Anträge der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus den Gründen des Art. 8 EMRK gem. § 58 Abs. 10 AsylG 2005 zurückgewiesen.
12. Gegen diese Bescheide wurden in weiterer Folge fristgerecht Beschwerden erhoben. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30.11.2020, Zln. I405 2163262-2/2E, I405 2211968-2/2E und I405 2163263-2/2E wurden die angefochtenen Bescheide gem. § 28 Abs. 3 VwGVG aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung neuer Bescheid an das BFA zurückverwiesen.
13. Daraufhin wurde die BF1 am 22.06.2021 durch das BFA niederschriftlich einvernommen und zu ihren persönlichen und familiären Verhältnissen befragt.
14. Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 29.06.2021 wurde die BF1 von der belangten Behörde vom Ergebnis des Ermittlungsverfahrens in Kenntnis gesetzt und ihr die Möglichkeit eingeräumt dazu innerhalb von 14 Tagen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben, wovon die BF am 19.07.2021 Gebrauch machte.
15. Mit gegenständlich angefochtenen Bescheiden jeweils vom 20.09.2021, Zln. XXXX (BF1), XXXX (BF2) und XXXX (BF3) wies die belangte Behörde die Anträge der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Zugleich wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde bestimmt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Gegen die BF1 wurde zudem ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt V.) und der Antrag auf Mängelheilung gemäß § 4 AsylG-DV vom 17.10.2019 abgewiesen (Spruchpunkt VI.).
16. Mit den am 20.10.2021 beim BFA eingebrachten Schriftsätzen erhoben die BF fristgerecht und vollumfänglich Beschwerde gegen die vorangeführten Bescheide wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung, Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens und der Verletzung von Verfahrensvorschriften.
17. Die gegenständlichen Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakte wurden in weiterer Folge vom BFA vorgelegt und sind am 25.10.2021 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
18. Mit Schriftsatz vom 21.06.2022 wurden diverse Unterlagen zum Gesundheitszustand der BF in Vorlage gebracht, am 04.08.2022 langten weitere Urkunden ein.
19. Am 11.08.2022 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, an welcher die BF sowie deren Rechtsvertretung teilnahmen. Im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Englisch wurde die BF1 u.a. zu ihrer Identität, den persönlichen Lebensumständen, zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat sowie zu ihrem Leben in Österreich ausführlich befragt.
20. Mit Schriftsatz vom 23.08.2022 bezogen die BF durch ihre Rechtsvertretung Stellung zu den einschlägigen Länderberichten zu Nigeria sowie insbesondere zur Anfragebeantwortung der Staatendokumentation „Nigeria – frühkindlicher Autismus (F84.0)“ vom 19.03.2021.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt und darüber hinaus folgende Feststellungen getroffen:
1.1. Zur Person der BF:
Die volljährige BF1 ist ledig und die Mutter der am XXXX in Österreich nachgeborenen BF2 und des am XXXX ebenso im Bundesgebiet nachgeborenen BF3. Allesamt sind Staatsangehörige von Nigeria. Die Identität der BF2 und des BF3 steht fest, jene der BF1 hingegen nicht.
Die BF1 stammt aus Ishan, Edo State und verfügt über eine mehrjährige Schulbildung. Zudem hat sie in Nigeria Berufserfahrung als Friseurin gesammelt. Auch verfügt sie dort nach wie vor über familiäre Anknüpfungspunkte.
Die BF1 reiste unrechtmäßig in Österreich ein und hält sich seit spätestens September 2014 im Bundesgebiet auf.
Die BF1 stellte am 19.09.2019 für sich und als gesetzliche Vertretung für die BF2 und den BF3 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 AsylG für eine Aufenthaltsberechtigung plus sowie zugleich einen Antrag auf Heilung des Mangels der Vorlage eines Reisedokumentes.
Die BF1 steht seit 13.05.2022 in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung beim psychosozialen Zentrum ESRA, zuvor hat sie ab 15.04.2022 einmal wöchentlich eine klinisch-psychologische Beratung beim Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende HEMAYAT in Anspruch genommen. Sie leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie an einer mittelgradigen depressiven Episode, weswegen sie auch medikamentös behandelt wird. Bei der BF2 wurde eine umschriebene sprachliche Entwicklungsstörung festgestellt und eine regelmäßige Deutschförderung empfohlen, wobei ein Termin beim Logopäden zeitnah geplant ist. Beim BF3 wurde eine behandlungsbedürftige Autismus-Spektrum-Störung im Sinne eines frühkindlichen Autismus diagnostiziert, es zeigten sich deutliche Auffälligkeiten im Bereich der sozialen Interaktion und Kommunikation. Er befindet sich seit dem 27.09.2021 in Betreuung des Zentrums für Entwicklungsförderung, ein langfristiger Therapieplatz (im Hinblick auf eine autismusspezifische Therapie und Ergotherapie) sowie ein Sonderkindergartenplatz konnten bislang allerdings nicht gefunden werden. Außerdem ist ein operativer Eingriff im HNO-Bereich (Adenotomie und Parazentese) geplant, eine für den 28.07.2022 angesetzte Operation musste jedoch krankheitsbedingt verschoben werden.
Die BF beziehen Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, sie sind nicht selbsterhaltungsfähig. Die BF ist bislang im Bundesgebiet strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Die BF2 und der BF3 sind strafunmündig.
Zum Kindsvater der BF2 und des BF3, bei dem es sich ebenfalls um einen nigerianischen Staatsangehörigen handelt, hat die BF1 keinen Kontakt mehr und erhält sie von diesem auch keine finanzielle Unterstützung.
Die BF1 verfügt über mehrere Empfehlungsschreiben (Schreiben Hr. XXXX vom 11.03.2019, Schreiben XXXX vom 16.04.2019, Schreiben XXXX vom 21.06.2021, Schreiben Fr. XXXX vom 19.07.2022, Schreiben Fr. XXXX ) und Einstellungszusagen (Schreiben XXXX vom 10.09.2019, Schreiben der XXXX vom 16.03.2021 und vom 16.08.2022). Sie ist aktives Mitglied einer afrikanischen Kirchengemeinschaft und verfügt über ein Zeugnis zur Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau A2 vom 19.07.2018. In sozialer Hinsicht hat sie sich im Verein der Straßenzeitung Augustin engagiert, seit 2021 ist sie im Verein für Sozialen Transfer – Wiener Tafel ehrenamtlich tätig. Die BF2 und der BF3 besuchen derzeit einen Kindergarten.
1.2. Zur allgemeinen Situation in Nigeria:
Zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat der BF wird auf das ins Verfahren eingebrachte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria vom 29.07.2022 verwiesen. Außerdem wird der gegenständlichen Entscheidung die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 19.03.2021 (Nigeria - frühkindlicher Autismus (F84.0)) zugrunde gelegt, welcher den BF im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung zur Kenntnis gebracht wurde.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakte des BFA und der vorliegenden Gerichtsakte des Bundesverwaltungsgerichtes. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR), der Grundversorgung (GVS), und dem Hauptverband österreichischen Sozialversicherungsträger (AJ-WEB) wurden ergänzend zu den vorliegenden Akten eingeholt. Außerdem wurde das "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Nigeria (Stand 29.07.2022) sowie die ins Verfahren eingebrachte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation: „Nigeria – frühkindlicher Autismus (F84.0)“ vom 19.03.2021 berücksichtigt.
2.2. Zur Person der BF:
Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität und zur Staatsangehörigkeit der BF getroffen wurden, beruhen diese auf den in den angefochtenen Bescheiden getroffenen Feststellungen, denen auch in den gegenständlichen Beschwerden nicht entgegengetreten wurde.
Die Identität der BF2 und des BF3 steht aufgrund der in den Akten erliegenden Geburtsurkunden des Standesamtes XXXX fest, jene der BF1 steht mangels der Vorlage identitätsbezeugender Dokumente nicht zweifelsfrei fest. Die von der BF1 vorgelegten Dokumente (Staatsbürgerschaftsnachweis, Geburtsurkunde, Alterserklärung) reichen für eine glaubhafte Identitätsfeststellung nicht aus, ist doch den einschlägigen Länderberichten zu Nigeria zu entnehmen, dass gefälschte Dokumente in Lagos und anderen Städten ohne Schwierigkeiten zu erwerben sind und diese – sofern sie professionell gemacht sind – von echten Dokumenten kaum zu unterscheiden sind und inhaltlich unwahre, aber von den zuständigen Behörden ausgestellte (Gefälligkeits-)Bescheinigungen vorkommen.
Die Feststellung zur Antragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Artikel 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 AsylG für eine Aufenthaltsberechtigung plus sowie auf Heilung des Mangels nach § 4 Abs. 1 Z 2 und 3 AsylG-DV der Vorlage eines Reisedokumentes ergibt sich aus den jeweiligen Anträgen vom 19.09.2019 und 17.10.2019 und dem Akteninhalt.
Die Feststellungen zur regionalen Herkunft, der Schulbildung und Berufserfahrung sowie zu den familiären Anknüpfungspunkten der BF1 in Nigeria basieren auf den rechtskräftigen Feststellungen im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11.07.2019, Zln. I412 2163262-1/6E, I412 2211968-1/6E, I412 2163263-1/6E sowie auf ihren dahingehenden Ausführungen.
Die Feststellung zum Aufenthalt der BF1 in Österreich ergibt sich aus ihren Angaben sowie aus einem aktuell eingeholten Auszug aus dem Zentralen Melderegister.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der BF ergeben sich aus den ins Verfahren eingebrachten medizinischen Unterlagen, welche mit den Aussagen der BF1 in der mündlichen Verhandlung in Einklang stehen. Die Diagnose eines frühkindlichen Autismus im Hinblick auf den BF3 ergibt sich zweifelsfrei aus dem klinisch-psychologischen Befundbericht vom 22.04.2022.
Dass die BF1 in Österreich strafrechtlich unbescholten ist, basiert auf einer dazu eingeholten Abfrage aus dem Strafregister der Republik Österreich. Die Feststellungen zum gegenwärtigen Bezug der Grundversorgung sind durch die im Akt erliegenden Speicherauszüge aus dem Betreuungsinformationssystem belegt.
Dass zum Kindsvater kein Kontakt mehr besteht, hat die BF1 in der Beschwerdeverhandlung selbst angeführt und lässt sich dies überdies mit den Feststellungen im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11.07.2019 in Einklang bringen.
Die Feststellungen betreffend die persönlichen Verhältnisse, die Lebensumstände und die Integration der BF, insbesondere jedoch jene der BF1 in Österreich beruhen ebenfalls auf ihren Aussagen und den dazu in Vorlage gebrachten Dokumente.
2.3. Zu den Länderfeststellungen:
Der gegenständlichen Entscheidung wurde das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria vom 29.07.2022 sowie die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 19.03.2021 (Nigeria – frühkindlicher Autismus (F84.0)) zugrundegelegt.
Zu den darin verwendeten Quellen wird angeführt, dass es sich hierbei um eine ausgewogene Auswahl verschiedener Quellen, sowohl staatlichen als auch nichtstaatlichen Ursprungs handelt, welche es ermöglichen, sich ein möglichst umfassendes Bild von der Lage im Herkunftsstaat zu machen.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Die BF traten diesen Quellen und deren Kernaussagen zur Situation im Herkunftsland im Zuge des Verfahrens nicht substantiiert entgegen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zur Erteilung von Aufenthaltstiteln aus Gründen des Art. 8 EMRK und dem Heilungstatbestand der Z 2 des § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 Spruchpunkt I. und Spruchpunkt VI. [betreffend BF1] der angefochtenen Bescheide):
3.1.1. Rechtslage:
Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist gemäß Abs. 2 leg. cit. eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen.
Gemäß § 8 Abs. 1 der AsylG-DV 2005 sind folgende Urkunden und Nachweise - unbeschadet weiterer Urkunden und Nachweise nach den Abs. 2 und 3 leg. cit. - im amtswegigen Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 3) beizubringen oder dem Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels (§ 3) anzuschließen:
1. gültiges Reisedokument (§ 2 Abs. 1 Z 2 und 3 NAG);
2. Geburtsurkunde oder ein dieser gleichzuhaltendes Dokument;
3. Lichtbild des Antragstellers gemäß § 5;
4. erforderlichenfalls Heiratsurkunde, Urkunde über die Ehescheidung, Partnerschafts-urkunde, Urkunde über die Auflösung der eingetragenen Partnerschaft, Urkunde über die Annahme an Kindesstatt, Nachweis oder Urkunde über das Verwandtschaftsverhältnis, Sterbeurkunde."
Nach dem Heilungstatbestand des § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 „kann“ die Behörde die Heilung eines Mangels u.a. nach § 8 AsylG-DV 2005 (unterbliebene Vorlage der dort genannten Urkunden) „auf begründeten Antrag“ des Drittstaatsangehörigen zulassen, wenn das zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK erforderlich ist.
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere die in § 9 Abs. 2 Z 1 bis 9 BFA-VG aufgezählten Gesichtspunkte zu berücksichtigen (die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration, die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist).
Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung zuletzt etwa VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0034, Rn 9, mwN).
3.1.2. Anwendung der Rechtslage auf die gegenständlichen Beschwerdefälle:
Die BF haben am 19.09.2019 die Erteilung von Aufenthaltstiteln aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AsylG 2005 beantragt und da sie keinen Reisepass besitzt, hat sie – in Ergänzung ihres Antrages gemäß § 55 AsylG 2005 – am 19.10.2019 durch ihre Rechtsvertreterin auch einen Antrag auf Mängelheilung gemäß § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 gestellt, weswegen gegenständlich eine Abwägung zwischen den betroffenen Rechtsgütern der BF und den öffentlichen Interessen vorzunehmen ist und anhand derer es zu überprüfen gilt, ob sich die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 bzw. die Stattgabe des Antrages auf Mängelheilung gemäß § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 im Sinne des Art. 8 EMRK als geboten darstellt.
Zunächst ist hinsichtlich eines Familienlebens der BF zu konstatieren, dass sie familiäre Bezüge in Österreich verneint haben und solche auch im Verfahren nicht hervorgekommen sind, insbesondere besteht zum Kindsvater kein aufrechter Kontakt mehr. Zudem sind die BF im selben Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen. Ist von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme die gesamte Familie betroffen, so greift sie wohl in das Privatleben der Familienmitglieder ein, nicht aber in ihr Familienleben (EGMR, 9.10.2003, 48321/99, Slivenko gg Lettland, EGMR, 16.6.2005, 60654/00 Sisojeva gg Lettland oder auch VwGH 22.11.2012, 2011/23/067; 26.02.2013, 2012/22/0239; 19.02.2014, 2013/22/0037).
Ein schützenswertes Familienleben führen die BF in Österreich daher nicht. Zu prüfen wäre daher ein etwaiger Eingriff in das Privatleben der BF. Unter "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg Lettland, EuGRZ 2006, 554). Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 EMRK, in ÖJZ 2007, 852 ff).
Die BF1 hält sich spätestens seit dem Zeitpunkt ihrer Antragstellung auf internationalen Schutz und damit seit September 2014 im Bundesgebiet auf, am 19.09.2019 wurden die gegenständlichen Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln aus Gründen des Art. 8 EMRK gestellt und ist zugunsten der BF festzustellen, dass sie an der langen Verfahrensdauer kein Verschulden trifft. Der fast acht Jahre andauernde Aufenthalt der BF1, der rund fünfjährige Aufenthalt der BF2 und der fast vierjährige Aufenthalt des BF3 beruhte dessen ungeachtet auf einer vorläufigen, nicht endültig gesicherten rechtlichen Grundlage, weshalb sie während der gesamten Dauer des Aufenthaltes in Österreich nicht darauf vertrauen durften, dass sie sich in Österreich auf rechtlich gesicherte Weise bleibend verfestigen können.
Wie bereits erwähnt, befindet sich die BF1 seit rund acht Jahren im Bundesgebiet, die BF2 und der BF3 leben seit ihrer Geburt in Österreich. Grundsätzlich nehmen nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (VwGH 05.10.2020, Ra 2020/19/0330).
Wie den getroffenen Feststellungen zu entnehmen ist, hat die BF1 ihren rund achtjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet für eine Integration in sprachlicher, beruflicher und sozialer Hinsicht erfolgreich genutzt. So ist sie aktives Mitglied einer afrikanischen Kirchengemeinschaft und hat sich im Verein der Straßenzeitung Augustin engagiert. Seit 2021 ist sie zudem im Verein für sozialen Transfer – Wiener Tafel ehrenamtlich tätig. Außerdem konnte sich die BF1 im Bundesgebiet einen Freundes- und Bekanntenkreis aufbauen und verfügt sie infolgedessen über mehrere Empfehlungsschreiben. In sprachlicher Hinsicht weist sie zertifizierte Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 auf. Auch wenn die BF1 darüber hinaus derzeit nicht selbsterhaltungsfähig ist und Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung bezieht, ist sie angesichts der in Vorlage gebrachten Einstellungszusagen jedenfalls bestrebt eine Selbsterhaltungsfähigkeit herzustellen und bestätigte sie gegenüber dem erkennenden Gericht glaubhaft, dass sie bemüht ist Arbeit zu finden. Die BF2 und der BF3 besuchen regelmäßig einen Kindergarten.
Zu berücksichtigen gilt, dass die BF1 seit der Geburt der BF2 am XXXX sowie jener des BF3 am XXXX , insbesondere jedoch seit der Trennung des Kindsvaters den überwiegenden Teil der Versorgung und Erziehung ihrer Kinder und insbesondere ihres an Autismus leidenden minderjährigen Sohnes übernimmt, weshalb ihr das Fehlen weitergehender Integrationsmaßnahmen zumindest ab dem Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder bzw. der Trennung vom Kindsvater grundsätzlich in keiner gewichtigen Form angelastet werden kann.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ist es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG jedoch maßgeblich relativierend, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN), sodass die Integrationsbemühungen inbesondere der BF1 dahingehend eine Relativierung erfahren.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die BF1 bislang strafrechtlich nicht in Erscheingung getreten ist, weshalb im Falle ihres Verbleibes im Bundesgebiet keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu erkennen ist, wenngleich letztlich nicht verkannt wird, dass die strafgerichtliche Unbescholtenheit allein die persönlichen Interessen eines Fremden am Verbleib in Österreich gemäß der verwaltungsgerichtlichen Judikatur nicht entscheidend zu verstärken vermag (Vgl. VwGH 25.02.2010, 2010/18/0029).
Es sind - unter der Schwelle des Art. 2 und 3 EMRK - aber auch die Verhältnisse im Herkunftsstaat unter dem Gesichtspunkt des Privatlebens zu berücksichtigen, so sind etwa Schwierigkeiten beim Beschäftigungszugang oder auch Behandlungsmöglichkeiten bei medizinischen Problemen bzw. eine etwaigen wegen der dort herrschenden Verhältnisse bewirkte maßgebliche Verschlechterung psychischer Probleme auch in die bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung vorzunehmende Interessensabwägung nach § 9 BFA-VG miteinzubeziehen (vgl. dazu VwGH, 16.12.2015, Ra 2015/21/0119). Des Weiteren müssen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 BFA-VG auch die Auswirkungen der Entscheidung auf das Kindeswohl berücksichtigt werden. Hinsichtlich der beim BF3 diagnostizierten Autismus-Spektrum-Störung im Sinne eines frühkindlichen Autismus ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, dass in Zusammenhang mit der vorzunehmenden Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK auch dem Umstand Bedeutung zukommt, dass eine medizinische Behandlung in Österreich vorgenommen wird, die im Einzelfall zu einer maßgeblichen Verstärkung des persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich führen kann (vgl. VwGH 29.02.2012, 2010/21/0310 bis 0314 und 2010/21/0366, mwN).
Nach der auf Art. 8 EMRK abstellenden (aus der Rechtsprechung des EGMR übernommenen) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hat jedoch im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in seinem aktuellen Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielstaat nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, fällt nicht entscheidend ins Gewicht, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielland gibt. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang überdies festgehalten, dass es einem Fremden obliegt, substantiiert darzulegen, auf Grund welcher Umstände eine bestimmte medizinische Behandlung für ihn notwendig sei und dass diese nur in Österreich erfolgen könnte. Denn nur dann wäre ein sich daraus (allenfalls) ergebendes privates Interesse im Sinne des Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich - auch in seinem Gewicht - beurteilbar (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 30. Juli 2015, Ra 2014/22/0055 bis 0058, vom 17. April 2013, 2013/22/0068, und vom 13. September 2011, 2010/22/0003). In Bezug auf die Behauptung der Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung haben die für die Beurteilung nach Art. 3 EMRK maßgeblichen Kriterien grundsätzlich auch in die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK einzufließen (vgl. VwGH 15.10.2015, Ra 2015/20/0218 mwN).
Der dem gegenständlichen Erkenntnis zugrundeliegenden Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 19.03.2021 „Nigeria – Frühkindlicher Autismus (F84.0)“ ist zu entnehmen, dass in Nigeria keine speziellen Kliniken für Autismus und auch keine Einrichtungen, die sich mit diesen Erkrankungen befassen vorhanden sind, da es an geschultem Gesundheitspersonal und an der notwendigen Infrastruktur mangelt. Außerdem sind die Behandlungskosten sehr hoch, sodass diese für durchschnittliche nigerianische Eltern nicht finanzierbar sind. Die meisten der spezialisierten Zentren befinden sich in Privatbesitz und erhalten keine staatliche Unterstützung, was dazu führt, dass sie für die Mehrheit der betroffenen Kinder nicht zugänglich sind.
Auch wenn daher Autismus in Nigeria grundsätzlich behandelbar ist, dürfen die damit verbundenen hohen Behandlungskosten sowie der Umstand, dass es um ein sehr beschränktes Angebot an Behandlungsmöglichkeiten handelt, keinesfalls unberücksichtigt bleiben. Es wäre dem BF3 nur erschwert möglich, eine regelmäßige medizinische Behandlung in Anspruch zu nehmen und führt daher das Vorliegen des beim BF3 attestierten frühkindlichen Autismus im Sinne einer behandlungsbedürftigen Erkrankung zu einer gewichtigen Verstärkung seiner persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich, was letztlich auch auf jene der BF1 als dessen Obsorgeberechtigte zutrifft. So ist davon auszugehen, dass sich die alleinerziehende BF1 im Falle einer Rückkehr nach Nigeria aufgrund der Erkrankung ihres minderjährigen Sohnes überwiegend seiner Betreuung wird widmen müssen, weshalb es ihr letztlich auch nicht möglich sein wird, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Angesichts dessen, insbesondere jedoch aufgrund der damit einhergehenden Betreuungsbedürftigkeit des BF3 sowie unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich bei der BF1 um eine alleinerziehende Mutter handelt, die auch in finanzieller Hinsicht nicht durch den Kindsvater unterstützt wird, die selbst psychisch angeschlagen ist und sich überdies um die minderjährige BF2, bei welcher eine sprachliche Entwicklungsstörung diagnostiziert wurde, zu kümmern hat, ist nicht davon auszugehen, dass sie imstande sein wird, den Familienunterhalt, insbesondere jedoch eine angemesse Versorgung der minderjährigen BF2 und des minderjährigen BF3 sicherzustellen, was wiederum im Hinblick auf das im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK bzw. § 9 BFA-VG zu berücksichtigende Kindeswohl, maßgeblich ins Gewicht fällt.
Es wird seitens des Bundesverwaltungsgerichtes auch keineswegs verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften im Rahmen einer Güterabwägung grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukommt. Aus den eben dargelegten Gründen, insbesondere jedoch aufgrund der besonderen Vulnerabilität der BF (alleinerziehende und psychisch angeschlagene BF1, die für die Versorgung und Erziehung ihres an Autismus leidenden Sohnes, den minderjährigen BF3 sowie für die minderjährige BF2, bei welcher eine sprachliche Entwicklungsstörung festgestellt wurde, veranwortlich ist) überwiegen jedoch in einer Gesamtschau und Abwägung aller Umstände die privaten Interessen der BF das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung, eine Rückkehrentscheidung würde einen unverhältnismäßigen Eingriff in die durch Art. 8 EMRK geschützen Rechte der BF darstellen, weshalb den BF gemäß § 55 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel zu erteilen war.
Dass die Erteilung eines solchen jedenfalls gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens der BF iSd Art. 8 EMRK geboten ist, ergibt sich bereits aus der vorangeführten rechtlichen Beurteilung.
Folglich ist es zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens der BF1 iSd Art. 8 EMRK erforderlich, dass die BF1 in Österreich verbleibt. Daher ist auch der Heilungstatbestand der Z 2 des § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 erfüllt.
Der Vollständigkeit halber ist schließlich noch darauf hinzuweisen, dass nach § 8 Asylgesetz-Durchführungsverordnung einem Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels unter anderem auch ein gültiges Reisedokument anzuschließen ist, was gegenständlich nicht der Fall war. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes rechtfertigt die Nichtvorlage eines gültigen Reisepasses (bei Nichtvorliegen der Voraussetzung des § 4 Abs. 1 Z 3 Asylgesetz-Durchführungsverordnung 2005) grundsätzlich eine auf § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 gestützte Zurückweisung (VwGH, 17.05.2017, Ra 2017/22/0059). Allerdings hatte der Verwaltungsgerichtshof zur Heilung nach § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 bereits ausgesprochen, dass die Bedingung, wonach die Erteilung des Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK erforderlich sein muss, in jenen Konstellationen, in denen von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen ist, voraussetzungsgemäß erfüllt ist (vgl. das Erkenntnis vom 15.09.2016, Ra 2016/21/0187).
Auch im Fall eines Antrags auf Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels gilt, dass die Voraussetzungen für die verfahrensrechtliche Heilung nach § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 die gleichen sind wie für die materielle Stattgabe des verfahrenseinleitenden Antrags. Die Prüfung, ob einem Heilungsantrag nach § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 stattzugeben ist, unterscheidet sich also inhaltlich nicht von der Beurteilung, ob der Titel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen ist. Daraus folgt auch, dass bei einem Antrag nach § 55 AsylG 2005 in Bezug auf die Heilung nach § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 in erster Linie und vorrangig die Voraussetzungen der Z 2 der genannten Bestimmung zum Tragen kommen und dass es unzulässig ist, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 trotz Vorliegens der Voraussetzung nach Abs. 1 Z 1 dieser Bestimmung – die Erteilung des Aufenthaltstitels ist gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten – wegen Nichtvorlage von Identitätsdokumenten zurückzuweisen (vgl. VwGH, 26.06.2019, Ra 2019/21/0092 bis 0094 mwN).
Die BF1 hat darüber hinaus einen entsprechenden Nachweis über die Absolvierung einer Deutsch-Prüfung auf A2-Niveau bzw. ein Zeugnis zur Integrationsprüfung in Vorlage gebracht und erfüllt sie sohin das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG. Die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 AsylG 2005 sind daher im Hinblick auf die BF1 erfüllt, weshalb ihr eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen war. Im Falle der BF2 und des BF3 liegen hingegen lediglich die Voraussetzungen des Abs. 1 Z 1 leg. cit. vor, weshalb ihnen gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 eine „Aufenhaltsberechtigung“ zu erteilen war.
Die Aufenthaltstitel sind gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 auf die Dauer von zwölf Monaten, beginnend mit dem Ausstellungsdatum, auszustellen und sind nicht verlängerbar. Das BFA hat die Aufenthaltstitel gemäß § 58 AsylG 2005 auszufolgen und haben die BF daran gemäß § 58 Abs. 11 AsylG 2005 mitzuwirken.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Aufgrund der erteilten Aufenthaltstiteln waren die Spruchpunkte II. bis V. (im Hinblick auf die BF1) bzw. II. bis IV. (im Hinblick auf die BF2 und den BF3) der angefochtenen Bescheide ersatzlos zu beheben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.
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