VwGH 2008/01/0266

VwGH2008/01/026617.3.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Kleiser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Jäger, über die Beschwerde des H A in T, geboren 1990 alias 1986, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher und Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwälte in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 7. März 2008, Zl. 317.426-1/5E-V/15/08, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §37;
AVG §45 Abs2;
AVG §37;
AVG §45 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein somalischer Staatsangehöriger, reiste über eine griechische Außengrenze in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und gelangte in der Folge in das Bundesgebiet, wo er am 26. September 2007 um internationalen Schutz ansuchte.

Bei seiner Erstbefragung am 27. September 2007 gab er als Geburtsdatum den 7. Mai 1990 an. In der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 2. Oktober 2007 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass auf Grund des Augenscheins nicht davon ausgegangen werden könne, dass das vom Beschwerdeführer angegebene Alter den Tatsachen entspreche. Es werde daher eine ärztliche Untersuchung durchgeführt. Der Beschwerdeführer legte am 4. Oktober 2007 (durch seinen Rechtsberater) eine Geburtsurkunde vor, die das Geburtsdatum 7. Mai 1990 aufweist.

Das Bundesasylamt veranlasste in der Folge eine psychiatrische Begutachtung zur Frage, inwieweit eine Aussage getroffen werden könne, ob der Beschwerdeführer minderjährig oder volljährig sei. In einem psychiatrischen Gutachten vom 22. Oktober 2007, basierend auf einer Untersuchung am 17. Oktober 2007, gelangte der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer einen kräftigen, sehr großen Körperbau, Faltenbildung, deutlichen Bartwuchs und reife Gesichtszüge aufweise. Von psychosozialer Seite sei festzuhalten, dass er die Entscheidung zur Flucht alleine getroffen und sie selbstständig organisiert habe. Eine Zukunftsplanung sei bereits vorhanden. Es fänden sich keine Ablösungsprobleme vom Heimatland und nahestehenden Menschen. Daraus schloss der Gutachter, dass das Alter der körperlichen Ausreifung üblicherweise zwischen 18 und 21 Lebensjahren anzusetzen sei. Seitens des körperlichen Aspektes sei die Pubertät und das Erreichen von zumindest 18 Lebensjahren als sehr wahrscheinlich anzusehen; seitens der psychosozialen Reifung sei "dies nachzuweisen". Es fänden sich Hinweise für eine ausreichende geschlechtliche, soziale Reifung und auch Zukunftsperspektiven seien nachweisbar. Daher sei insgesamt auf Grund der Zusammenschau der Befunde das Erreichen bzw. Überschreiten des 18. Lebensjahres als sehr wahrscheinlich anzusehen.

In der darauf folgenden Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesasylamt am 13. November 2007 wurde diesem das Gutachten vorgehalten. Der Beschwerdeführer gab an, die Einschätzung des Arztes stimme nicht, er sei 17 Jahre alt.

Auf Grund eines Aufnahmeersuchens der österreichischen Behörden teilte die zuständige griechische Behörde mit Schreiben vom 5. November 2007 mit, dass der Beschwerdeführer in Griechenland registriert worden sei. In diesem Schreiben wurde in der Rubrik "Geburtsdatum" des Beschwerdeführers angeführt: "01-01- 1986 alias 07-05-1990".

Über Vorhalt des in der Mitteilung der griechischen Behörde aufscheinenden Geburtsdatums meinte der Beschwerdeführer bei einer weiteren Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 3. Dezember 2007, er habe in Griechenland sein Geburtsdatum nicht (mit 1. Jänner 1986) angegeben, es sei dies einfach so geschrieben worden. Es gebe in Griechenland keine Somalisch-Dolmetscher, die Verständigung sei schwer. Wahrscheinlich hätten die Behörden einfach geschätzt. Über Vorhalt, bei der vorgelegten Geburtsurkunde handle es sich um eine Fälschung, gab der Beschwerdeführer an, er wisse nicht, ob diese echt oder falsch sei, er habe die Geburtsurkunde von seinen Eltern erhalten. Ein (namentlich genannter) Cousin, der seit 17 Jahren in Österreich lebe, wohne in Wien. In Somalia habe der Beschwerdeführer diesen nicht gekannt, der Cousin habe aber während eines Aufenthaltes in Dubai Kontakt mit seiner Familie in Somalia aufgenommen und ihn anschließend in Österreich gesucht. Der bei der Einvernahme anwesende Rechtsberater beantragte daraufhin die Einvernahme des Cousins als Zeugen, dies erkennbar zum Beweis für das vom Beschwerdeführer behauptete Alter.

In weiterer Folge trat der Beschwerdeführer in mehreren Stellungnahmen sowohl dem Psychiatrischen Gutachten als auch der Beurteilung der Geburtsurkunde als Fälschung entgegen. Er wiederholte den Antrag, im Hinblick auf die vom Bundesasylamt (aus Sicht des Beschwerdeführers zu Unrecht) angenommene Volljährigkeit seinen namentlich genannten Cousin als Zeugen einzuvernehmen.

Mit Bescheid vom 28. Jänner 2008 wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, erklärte für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin-Verordnung Griechenland für zuständig, und wies den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 dorthin aus. Demzufolge sei die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Griechenland gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig.

Begründend ging die Behörde erster Instanz davon aus, dass der Beschwerdeführer bereits volljährig sei. Die Volljährigkeit ergebe sich aus dem äußeren Erscheinungsbild sowie der Art und Weise, wie er agiere und sich verbal ausdrücke, und aus dem psychiatrischen Gutachten vom 22. Oktober 2007. Für die Volljährigkeit spreche auch das Geburtsdatum (1. Jänner 1986), dass die griechischen Behörden mitgeteilt hätten. Demgegenüber habe er das behauptete Geburtsdatum nicht nachweisen können, zumal die vorgelegte Geburtsurkunde mit großer Wahrscheinlichkeit eine Fälschung darstelle. Auf den Antrag auf Einvernahme des Cousins des Beschwerdeführers ging das Bundesasylamt nicht ein. Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer und einer von ihm bevollmächtigten Vertreterin zugestellt.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung bestritt der Beschwerdeführer mit einer mehrseitigen Begründung die Alterseinschätzung der Behörde erster Instanz. Tatsächlich sei der Beschwerdeführer nach wie vor minderjährig und habe erst in Österreich einen Asylantrag gestellt, weshalb für die Prüfung seines Asylantrages Österreich zuständig sei. Der Beschwerdeführer wiederholte abermals den Antrag, seinen in Wien lebenden Cousin zu seiner Identität und seinem Geburtsdatum als Zeugen zu befragen.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß §§ 5 und 10 AsylG 2005 ab. Begründend führte sie (zur Frage der Volljährigkeit des Beschwerdeführers) zusammengefasst aus, bei der vom Beschwerdeführer vorgelegten Geburtsurkunde handle es sich - aus näher dargelegten Gründen - um eine offenkundige Fälschung. Die Vorlage einer gefälschten Geburtsurkunde spreche für die Vortäuschung wahrheitswidriger Personaldaten. Auffallend seien weiters näher dargestellte (widersprüchliche) Aussagen zu seinem Geburtsdatum. Die wiederholt beantragte zeugenschaftliche Einvernahme des Cousins des Beschwerdeführers sei im Hinblick auf die Aussage des Beschwerdeführers vor dem Bundesasylamt, er habe diesen Verwandten erstmalig im Bundesgebiet getroffen, "entbehrlich" gewesen. Wie dieser Zeuge zur Klärung des Alters des Beschwerdeführers bzw. seiner Identität "glaubhaft beitragen" könne, verschließe sich "jeglicher rationaler Denkweise" und sei auch in der Berufung nicht näher dargelegt worden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen hat:

Die Beschwerde macht unter anderem geltend, die belangte Behörde habe es unterlassen, den vom Beschwerdeführer namhaft gemachten Cousin als Zeugen zu seiner Identität und insbesondere zu seinem Alter zu vernehmen.

Bereits dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.

Die Behörde darf angebotene Beweismittel nur dann ablehnen, wenn diese an sich, also objektiv, nicht geeignet sind, zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen. Beweisanträge dürfen dementsprechend nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel als untauglich anzusehen ist, also an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahmen einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen. Zwar müssen weitere Beweisanträge nicht mehr berücksichtigt werden, wenn sich die Verwaltungsbehörde auf Grund der bisher vorliegenden Beweise ein klares Bild über die maßgebenden Sachverhaltselemente machen kann. Dies rechtfertigt es aber nicht, ein vermutetes Ergebnis von noch nicht aufgenommenen Beweisen vorwegzunehmen, die sich im Sinne der obigen Kriterien als geeignet darstellen, relevante Sachverhaltselemente zu betreffen, und die nicht an sich ungeeignet sind, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. Oktober 2010, Zl. 2007/06/0248, mwH).

Die belangte Behörde hat dem Beweisantrag auf Einvernahme des Cousins des Beschwerdeführers mit der Begründung nicht entsprochen, es sei nicht ersichtlich, wie dieser Zeuge, den der Beschwerdeführer erstmals im Bundesgebiet getroffen habe, zur Klärung des Alters des Beschwerdeführers bzw. seiner Identität "glaubhaft beitragen" könne. Mit diesen Ausführungen wird nicht nachvollziehbar begründet, warum ein seit 17 Jahren in Österreich lebender Verwandter des Beschwerdeführers, der über Kontakt zu dessen Familie in Somalia verfügt, den Beschwerdeführer selbst aber erstmals im Bundesgebiet getroffen hat, zur Klärung des Alters des Beschwerdeführers nicht beitragen könne. Dass ein derartiger Zeuge objektiv nicht geeignet wäre, zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen, ist für den Verwaltungsgerichtshof nicht ersichtlich. Dass dieser Zeuge keinen "glaubhaften Beitrag" zur Klärung des Alters des Beschwerdeführers leisten könne, stellt eine in antizipierender Beweiswürdigung getroffene Einschätzung der belangten Behörde dar. Die Wertung eines Beweises auf seine Glaubwürdigkeit hin setzt nämlich die Aufnahme des Beweises voraus (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 21. Dezember 2010, Zl. 2007/05/0231, mwH).

Da die Annahme der belangten Behörde, der Beschwerdeführer sei entgegen seinen Angaben bereits volljährig, somit auf einem mangelhaften Verfahren beruht, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen, ob die Zustellung des erstinstanzlichen Bescheides an den Beschwerdeführer bzw. dessen bevollmächtigten Vertreter wirksam erfolgen konnte und die belangte Behörde damit zu einer meritorischen Erledigung der Berufung berechtigt war (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 22. November 2005, Zl. 2005/01/0415).

Erweist sich die meritorische Behandlung der Berufung durch die belangte Behörde aber als zutreffend, so liegt eine weitere Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides darin, dass auch die Frage, ob die Überstellung des Beschwerdeführers nach Griechenland seine durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte verletzen würde und Österreich deshalb von seinem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch hätte machen müssen, keiner ausreichenden Prüfung unterzogen wurde. Wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt festgehalten hat, könnte eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte einem Asylwerber dadurch drohen, dass er bei Überstellung nach Griechenland trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt wäre (Kettenabschiebung), dass er dort (schutzlos) körperlichen Misshandlungen insbesondere durch Sicherheitskräfte ausgesetzt wäre oder dass ihm Unterkunft und Versorgung nicht (rechtzeitig) zur Verfügung gestellt würde und er deshalb keine Lebensgrundlage vorfindet (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 19. November 2010, Zl. 2008/19/0010, und vom 15. Dezember 2010, Zl. 2006/19/1354, jeweils mwH; siehe weiters das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 21. Jänner 2011, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland (Große Kammer), Nr. 30696/09). Dazu hat die belangte Behörde aber eine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Berufungsvorbringen unterlassen und sich insbesondere mit den Länderfeststellungen der ersten Instanz betreffend die Versorgungslage von Asylwerbern, die sich auf im Entscheidungszeitpunkt der belangten Behörde drei Jahre alte Berichte stützten, nicht auseinander gesetzt. Auch unter diesem Aspekt erweist sich der angefochtene Bescheid als mangelhaft.

Schon deshalb war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der beantragten öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3 VwGG abgesehen werden.

Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 17. März 2011

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