OGH 9Ob4/24i

OGH9Ob4/24i18.3.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Fichtenau als Vorsitzende sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner, die Hofrätin Mag. Korn und den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder 1. C* und 2. L*, Mutter: V*, vertreten durch Dr. Michael Hasenöhrl, Rechtsanwalt in Wien, Vater: D*, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 20. September 2023, GZ 42 R 277/23f‑217, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Döbling vom 22. Juni 2023, GZ 7 Ps 24/18h‑182, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0090OB00004.24I.0318.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

[1] Die nicht in häuslicher Gemeinschaft lebenden Eltern vereinbarten vor dem Standesamt die gemeinsame Obsorge für die 2014 geborene Tochter und den 2017 geborenen Sohn. Beide Kinder wurden hauptsächlich im Haushalt der Mutter betreut.

[2] Mit Beschluss vom 15. 7. 2019 wurde beiden Elternteilen die Absolvierung einer Erziehungsberatung aufgetragen und dem Vater ein Kontaktrecht zu den Kindern eingeräumt. Die gemeinsame Obsorge blieb aufrecht. Mit Eingabe vom 11. 2. 2021 empfahl der Kinder‑ und Jugendhilfeträger eine klare Kontakt‑ und Obsorgeregelung, um einer weiteren Gefährdung der Kinder entgegenzuwirken. So lange die Kommunikation zwischen den Eltern nicht gegeben sei, werde eine funktionierende 50 : 50‑Regelung ausgeschlossen. Mit Beschluss vom 27. 5. 2021 wurde dem Vater ein begleitetes Kontaktrecht zur Tochter eingeräumt. Das Kontaktrecht zum Sohn blieb wie bisher bestehen (vgl dazu Beschluss vom 5. 7. 2022). Beiden Elternteilen wurde der Besuch einer Mediation für die Dauer von mindestens drei Monaten aufgetragen. Mit Beschlüssen vom 20. 9. und 14. 10. 2022 wurde für beide Kinder ein Kinderbeistand bestellt. Die vom Erstgericht bestellte Sachverständige erstattete am 15. 3. 2023 ein familienpsychologisches Gutachten.

[3] Das Erstgericht entzog mit dem angefochtenen Beschluss der Mutter die Obsorge für den Sohn, übertrug diese vorläufig dem Vater, und bestimmte den hauptsächlichen Aufenthalt des Sohnes im Haushalt des Vaters (I.). Es hielt fest, dass die Obsorge für die Tochter weiterhin beiden Eltern gemeinsam zukomme und der hauptsächliche Aufenthalt der Tochter im Haushalt der Mutter sei (II.). Das Erstgericht beschloss ein vorläufiges Kontaktrecht der Mutter zum Sohn (III. und IV.) sowie ein (geändertes) vorläufiges begleitetes Kontaktrecht des Vaters zur Tochter (V.). Das Erstgericht sprach aus, dass die Beschlusspunkte I., III., IV. und V. vorläufig verbindlich und vollstreckbar seien (VI.) und die vorläufigen Regelungen dieser Punkte vorerst bis zum Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung nach Einholung eines Gutachtens aus dem Fachgebiet der Erwachsenenpsychiatrie zur Frage, ob bei der Mutter eine psychische Erkrankung von Krankheitswert bestehe, die ihre Erziehungsfähigkeit beeinträchtige, gelten sollten (VII.).

[4] Das Verhalten der Mutter habe sich mittlerweile „dermaßen verselbständigt“, dass sie beiden Kindern gegenüber als beschränkt erziehungsfähig einzustufen sei und das Kindeswohl gefährde. Die Tochter habe die Mutter so beeinflusst, dass es für diese infolge ihrer Verstrickung in den Loyalitätskonflikt nicht möglich sei, sofort in den Haushalt des Vaters zu übersiedeln, was ihrem Wohl am besten diene. Um einer Kindeswohlgefährdung durch die Mutter entgegen zu wirken, sei die Obsorge für den Sohn vorläufig dem Vater zu übertragen. Zum Sohn habe der Vater ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut, sodass dessen Aufenthalt im Haus des Vaters geeignet sei, den Sohn zu fördern. Daran könne der Wille des erst sechsjährigen Sohnes, der wünsche, dass „alles so bleiben soll“, nichts ändern. Im Rahmen des der Mutter eingeräumten Kontaktrechts zum Sohn bestehe auch ein ausreichender Kontakt der Geschwister.

[5] Das Rekursgericht gab dem vom Vater gegen die Entscheidung im Umfang des begleiteten vorläufigen Kontaktrechts zu seiner Tochter erhobenen Rekurs nicht Folge. In diesem Umfang erwuchs die Entscheidung unangefochten in Rechtskraft. Dem von der Mutter gegen den Beschluss des Erstgerichts erhobenen Rekurs, mit dem sie die Abweisung der „Obsorge-, Hauptaufenthalts- und Kontaktanträge des Vaters“ anstrebt, gab das Rekursgericht ebenfalls nicht Folge. Im Hinblick auf das weit überdurchschnittlich konflikthafte Verhalten beider Elternteile und unter Bedachtnahme auf die bisherigen Verfahrensergebnisse sei evident, dass eine sehr hohe Belastung der Kinder durch den Konflikt gegeben sei. Ausgehend davon sei das Erstgericht zutreffend davon ausgegangen, dass eine vorläufige Regelung der Obsorge und des Kontaktrechts im Interesse der Kinder liege und zur Wahrung deren Wohls dringlich erforderlich sei. Grundsätzlich seien auch neue Entwicklungen zu berücksichtigen. Die Eltern wiesen dazu jedoch im Ergebnis lediglich darauf hin, dass der jeweils andere Elternteil das Kindeswohl gefährde. Gerade dies bestätige die Notwendigkeit der getroffenen vorläufigen Regelungen. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht mangels Vorliegens der Voraussetzungen gemäß § 62 Abs 1 AußStrG nicht zu.

[6] Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, mit dem sie erkennbar die Abweisung der genannten Anträge des Vaters anstrebt.

[7] Dem Vater wurde die Beantwortung des Revisionsrekurses freigestellt, er beteiligte sich nicht am Revisionsrekursverfahren.

Rechtliche Beurteilung

[8] Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[9] 1.1 Entscheidungen über die Obsorge für das Kind, dessen hauptsächlichen Aufenthalt und die Ausübung des Kontaktrechts zu diesem Kind hängen grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls ab und werfen keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf. Das setzt allerdings voraus, dass ausreichend auf das Kindeswohl Bedacht genommen wurde (RS0115719; RS0007101 [T8]).

[10] 1.2 Nach § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit oder die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes konkret gefährden (RS0048633). Die sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls zu treffen, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss fassen zu können (RS0128812). Eine Verfügung, mit der die Obsorge entzogen wird, kommt nur als ultima ratio in Betracht (RS0132193). Eine Obsorgeentziehung kann nur dann angemessen sein, wenn die Nachteile und Gefahren der Aufrechterhaltung der bisherigen Verhältnisse für das Kindeswohl eindeutig jene übersteigen, die mit dem Wechsel notwendigerweise einhergehen (4 Ob 205/21g [Rz 27] mwH).

[11] 1.3 Nach § 107 Abs 2 AußStrG kann das Gericht die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls auch vorläufig einräumen oder entziehen. Gemäß § 107 Abs 2 Satz 3 AußStrG kommt einer solchen Regelung bereits ex lege vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu, sofern das Gericht diese nicht ausschließt. Nach dem Willen des Gesetzgebers hat das Gericht eine solche vorläufige Entscheidung nach § 107 Abs 2 AußStrG schon dann zu treffen, wenn zwar für die endgültige Regelung noch weitergehende Erhebungen (etwa die Einholung oder Ergänzung eines Sachverständigengutachtens) notwendig sind, aber eine rasche Regelung der Obsorge oder der persönlichen Kontakte für die Dauer des Verfahrens Klarheit schafft und dadurch das Kindeswohl fördert. Die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen sind somit in dem Sinn reduziert, dass diese nicht erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen (5 Ob 144/14h [Pkt 2]; 4 Ob 110/20h [Pkt 3.4] mwN; RS0129538).

[12] 1.4 Auch eine solche Entscheidung erfordert allerdings eine ausreichende Tatsachengrundlage (RS0129538 [T6]). Auch bei einer vorläufigen Entziehung der Obsorge ist äußerste Zurückhaltung geboten, weil auch eine vorläufige Entziehung der Obsorge einen Grundrechtseingriff bedeutet und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfordert (4 Ob 110/20k [Pkt 3.5] mwH; RS0130780 [T3]).

[13] 2.1 Zwar ist auch im Außerstreitverfahren der Oberste Gerichtshof nur Rechts- und nicht Tatsacheninstanz (RS0006737; RS0007236), weshalb Fragen der Beweiswürdigung nicht überprüft werden können. Allerdings kann mit Revisionsrekurs geltend gemacht werden, dass das Rekursverfahren an einem Mangel leidet, der eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Sache zu hindern geeignet war (§ 66 Abs 1 Z 2 AußStrG; RS0043144 [T6]), wozu auch das Fehlen einer nachvollziehbaren Begründung bei der Erledigung der Beweisrüge zu zählen ist (5 Ob 192/11p mwN).

[14] 2.2 Der nicht näher begründete Vorwurf, das Rekursgericht habe sich nicht mit den Rekursausführungen zur behaupteten Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz auseinandergesetzt – das Erstgericht stütze sich auf ein „unvollendetes, unvollständiges und unschlüssiges“ Sachverständigengutachten –, trifft nicht zu. Die in diesem Zusammenhang behauptete Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens liegt nicht vor.

[15] 2.3 Die Mutter macht als weiteren Verfahrensmangel geltend, dass das Rekursgericht zu den von ihr behaupteten Neuerungen nach Beschlussfassung erster Instanz weder eine Beweisergänzung vorgenommen, noch eine solche dem Erstgericht aufgetragen hat. Richtig ist, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Kindeswohlgefährdung der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung ist, sodass alle während des Verfahrens eintretenden Änderungen zu berücksichtigen sind (RS0106313). Zu berücksichtigen sind allerdings nur unstrittige und aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, es besteht keine Pflicht zur ständigen amtswegigen Erhebung der jeweiligen aktuellen Umstände (RS0106313 [T2, T3]; 9 Ob 20/18h). Das Rekursgericht hat sich mit den diesbezüglichen Behauptungen der Mutter auseinandergesetzt und darauf hingewiesen, dass sie jenen des Vaters diametral gegenüberstehen, woraus sich gerade die Notwendigkeit einer vorläufigen klaren Regelung ergebe. Dass der Vater von den ihm gegenüber aufgrund des Vorfalls vom 4. 9. 2023 erhobenen strafrechtlichen Vorwürfen im Zweifel freigesprochen wurde, hat die Mutter bekanntgegeben. Auch der in diesem Zusammenhang behauptete Mangel des Rekursverfahrens liegt daher nicht vor.

[16] 3.1 Mangelhaft bleibt das Verfahren aber, wenn sich das Rekursgericht mit relevanten Beweisfragen überhaupt nicht befasst hat (RS0043177 [T32]). Dies rügt die Revisionsrekurswerberin zutreffend (vgl 3 Ob 211/19d). Die Mutter focht in ihrem Rekurs zahlreiche Feststellungen des Erstgerichts an, darunter insbesondere auch jene, nach der ihre Erziehungsfähigkeit nicht gegeben sei und ihre mangelnde Bindungstoleranz einen Grad erreicht habe, der eine Kindeswohlgefährdung darstelle. Sie brachte vor, infolge welcher unrichtigen Beweiswürdigung diese Feststellungen getroffen wurden, welche Feststellungen begehrt werden und aufgrund welcher Beweisergebnisse und Erwägungen diese begehrten Feststellungen zu treffen gewesen wären. Das Rekursgericht hat nicht dargelegt, dass es die Beweisrüge im Rekurs als nicht gesetzmäßig ausgeführt ansieht. Aus seinen Ausführungen ergibt sich auch kein Hinweis auf allfällige andere Gründe, aus denen es sich mit der Beweisrüge im Rekurs der Mutter nicht auseinandersetzte. Ausgehend davon fehlt es an der erforderlichen gesicherten Tatsachengrundlage um beurteilen zu können, ob die Entscheidung des Erstgerichts dem maßgeblichen Wohl der Kinder entspricht.

[17] 3.2 Die Nichterledigung der Beweisrüge durch das Rekursgericht führt im vorliegenden Fall allerdings nicht zu einer Aufhebung und Zurückverweisung der Rechtssache an die zweite Instanz, weil das wie immer geartete Ergebnis der Erledigung der Beweisrüge aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen des Erstgerichts für eine rechtliche Beurteilung jedenfalls nicht ausreichend wäre. Die Mutter weist im Revisionsrekurs zutreffend darauf hin, dass bereits eine „klare“ Obsorge- und Kontaktrechtsregelung bestanden habe, bevor der angefochtene Beschluss des Erstgerichts gefasst wurde. Zwar hat das Erstgericht die – angefochtene – Feststellung getroffen, dass die mangelnde Bindungstoleranz der Mutter einen Grad erreicht habe, der eine Gefährdung des Wohls beider Kinder darstelle. Es fehlen jedoch Feststellungen, die eine Beurteilung der Frage erlauben, ob die Nachteile und Gefahren der Aufrechterhaltung der bisherigen Verhältnisse für das Wohl beider Kinder eindeutig jene übersteigen, die mit dem Wechsel dieser Verhältnisse – hier etwa die räumliche Trennung der Geschwister – notwendigerweise einhergehen (vgl 1 Ob 107/23a). So steht betreffend den Sohn zwar fest, dass die Beziehung des Vaters zum Sohn eine emotionale, positive und stabile sei, weil Kontakte des Vaters zum Sohn überwiegend regelmäßig stattgefunden haben. Der Sohn lebte jedoch bisher bei der Mutter und wünscht nach den Feststellungen, dass „alles so bleiben soll“. Den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen kann keine Aussage darüber entnommen werden, wie sich der durch den angefochtenen Beschluss angeordnete Wechsel in den Haushalt des Vaters auf das Kind, dessen psychische Situation und dessen Entwicklung auswirken würde.

[18] 4. Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung aufzuheben.

[19] 5. Eine Veranlassung, der Anregung der Revisionsrekurswerberin zu folgen, die vorläufige Wirksamkeit des Beschlusses des Erstgerichts auszuschließen (§ 107 Abs 2 Satz 3 AußStrG), besteht für den Obersten Gerichtshof nicht. Insbesondere für den Sohn wäre eine derartige Entscheidung mit einer neuerlichen Veränderung seiner Lebenssituation innerhalb kurzer Zeit verbunden. Darüber hinaus gab eine Mitarbeiterin des Trägers der Kinder- und Jugendhilfe in der Verhandlung vom 31. 10. 2023 – daher nach Fassung des erstinstanzlichen Beschlusses – an, dass derzeit keine dringenden Maßnahmen zugunsten der Kinder getroffen werden müssten.

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