OGH 10ObS58/23m

OGH10ObS58/23m28.9.2023

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Markus Schrottmeyer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*, vertreten durch Dr. Christof Joham und Mag. Andreas Voggenberger, Rechtsanwälte in Eugendorf, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr. Simone Metz und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. April 2023, GZ 12 Rs 32/23 x‑44, mit dem das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. Jänner 2023, GZ 32 Cgs 246/21v‑39, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00058.23M.0928.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Begründung:

[1] Der 1963 geborene Kläger schloss 1991 die Lehre als Berufskraftfahrer ab und war anschließend mehrere Jahre als Busfahrer im internationalen Personentransport tätig. Innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (1. November 2020) war er von 11. April 2005 bis 17. September 2006 als Hilfsarbeiter in einer Schlosserei und danach von 18. September 2006 bis 28. April 2019 bei einem Reststoffverwerter als Lkw‑Fahrer bei der Müllabfuhr im Gebiet einer Gemeinde tätig. Auch im Anschluss daran arbeitete er bis 23. Dezember 2019 als Lkw‑Fahrer in der Müllabfuhr, allerdings bei einem anderen Dienstgeber. Im Zeitraum von 1. November 2020 bis 30. November 2021 bezog er eine befristete Invaliditätspension.

[2] Dem Kläger ist es trotz bestehender physischer und psychischer Beschwerden zumutbar, einen Pkw und einen Lkw über einen Zeitraum von vier Stunden täglich zu lenken. Er kann zu seinem Lehrberuf artverwandte Tätigkeiten wie die eines Lkw-Fahrers ohne Be‑ und Entladetätigkeiten in der Baubranche, eines Zustellers im Apothekendienst oder eines Dienstkraftwagenfahrers ausüben. Er ist überdies in der Lage, als Bürogehilfe, als Hilfskraft in der industriellen Fertigung oder als Tagportier tätig zu sein.

[3] Mit Bescheid vom 1. Dezember 2021 wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers auf Weitergewährung der befristeten Invaliditätspension über den 30. November 2021 hinaus ab und sprach aus, dass kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation bestehe.

[4] Mit seiner Klage begehrt der Kläger, ihm die Invaliditätspension (im gesetzlichen Ausmaß) über den 3. November 2021 hinaus weiter zu gewähren. Er genieße Berufsschutz als gelernter Berufskraftfahrer. Aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen könne er diese Tätigkeit aber nicht weiter ausüben.

[5] Die Beklagte hielt dem entgegen, dass die vom Kläger im Beobachtungszeitraum ausgeübte Tätigkeit nicht berufsschutzerhaltend gewesen und er nicht invalid iSd § 255 Abs 3 ASVG sei.

[6] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, wobei es neben dem eingangs (verkürzt) dargestellten Sachverhalt noch folgende, vom Kläger bekämpfte Feststellungen traf:

[7] Voraussetzung für die Tätigkeit als Kraftfahrer bei der Müllabfuhr im Regionalbereich ist lediglich der Erwerb des Lkw-Führerscheins. Diese Tätigkeit kann ohne besondere Anlernzeit nach einer kurzen Einschulung ausgeübt werden. Die jeweiligen Bestimmungsorte (die verschiedenen Haushalte, an denen zu bestimmten Wochentagen der Müll abzuholen ist) sind festgelegt. Der Kläger hatte somit keinerlei Streckenplanung vorzunehmen; Lieferscheine oder Frachtpapiere sind nicht notwendig. Die Be‑ und Entladung des Ladeguts ist bloß insofern zu überprüfen, als Müll nur bis zu einem bestimmten Höchstgewicht geladen werden kann. Danach ist der Lkw an einem bestimmten Ort zu entladen.

[8] Ausgehend davon gelangte das Erstgericht zum Ergebnis, dass der Kläger den Berufsschutz durch die Tätigkeit bei der Müllabfuhr nicht erhalten habe. Da er noch eine Reihe von Tätigkeiten ausüben könne, für die am allgemeinen Arbeitsmarkt ausreichend offene Stellen verfügbar seien, lägen die Voraussetzungen für die begehrte Invaliditätspension nicht vor.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Die Mängel- und Beweisrüge hinsichtlich der Feststellungen zum Inhalt der ab 2006 ausgeübten Tätigkeit des Klägers (bei den Entsorgungsunternehmen) ließ es mit der Begründung unbehandelt, dass es nicht darauf ankomme, ob der Kläger Berufsschutz genieße oder nicht. Da ein solcher durch die ihm zumutbare Tätigkeit als Lkw-Fahrer ohne Be- und Entladetätigkeit in der Baubranche jedenfalls erhalten bleibe, könne der Kläger nämlich auch dann innerhalb des Verweisungsfeldes nach § 255 Abs 1 ASVG verwiesen werden, wenn seine Invalidität nach dieser Bestimmung zu beurteilen sei. Die Revision ließ das Berufungsgericht nicht zu.

[10] Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag, dem Klagebegehren stattzugeben. Hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.

[11] In der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision ist zulässig und im Umfang des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[13] 1. Der Klägerrügt zusammengefasst, dass sich anhand des derzeit festgestellten Sachverhalts nicht beurteilen lasse, ob die Verweisungstätigkeit des Lkw‑Fahrers ohne Be‑ und Entladetätigkeit tatsächlich berufsschutzerhaltend wäre. Vor diesem Hintergrund hätte sich das Berufungsgericht mit der im Berufungsverfahren strittigen Frage auseinandersetzen müssen, ob ihm aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit für die Entsorgungsunternehmen Berufsschutz in seinem erlernten Beruf als Berufskraftfahrer zukomme.

[14] Damit ist der Kläger im Recht.

[15] 2. Der vom Kläger angestrebte Berufsschutz setzt nach § 255 Abs 1 ASVG voraus, dass er überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig war. Das ist der Fall, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit in erlernten oder angelernten Berufen oder als Angestellte/r ausgeübt wurde (§ 255 Abs 2 Satz 2 ASVG).

[16] 2.1. Ein einmal erworbener Berufsschutz bleibt erhalten, wenn die im Rahmenzeitraum vor dem Stichtag ausgeübte Tätigkeit in ihrer Gesamtheit noch als Ausübung des erlernten (angelernten) Berufs anzusehen ist (RIS-Justiz RS0084497 [T1]; 10 ObS 151/22m). Dafür müssen zumindest quantitativ und qualitativ nicht ganz unbedeutende Teiltätigkeiten des erlernten Berufs ausgeübt werden (RS0084497 [insb T3, T10]). Entscheidend ist, ob ein Kernbereich der Ausbildung auch bei der Ausübung der Teiltätigkeit oder spezialisierten Tätigkeit verwertet werden muss (RS0084497 [T15]; 10 ObS 78/21z).

[17] 2.2. Die Frage, ob bestimmte Tätigkeiten in diesem Sinn berufsschutzerhaltend sind, kann immer nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (RS0084497 [T26]; 10 ObS 35/15t SSV‑NF 29/26). IhreBeantwortungerfordert jedenfalls die genaue Feststellung der ausgeübten Tätigkeiten (RS0112425) sowie der dafür verwertbaren Teile der Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten des erlernten (oder angelernten) Berufs (10 ObS 119/20b SSV‑NF 35/2; 10 ObS 160/12w SSV‑NF 26/83).

[18] 3.1. Genießt ein Versicherter Berufsschutz, darf er nicht auf bloße Teiltätigkeiten verwiesen werden, durch deren Ausübung er den Berufsschutz verlieren würde (RS0084541). Die Tätigkeit, auf die der Versicherte verwiesen werden soll, muss daher eine Tätigkeit sein, die im dargestellten Sinn noch als Ausübung des erlernten (angelernten) Berufs anzusehen ist (RS0084541 [T2, T29]), was wiederum im Einzelfall zu prüfen ist (RS0084541 [T7]). Dafür bedarf es vor allem Feststellungen dazu, inwieweit das berufliche Wissen verwertet werden kann, weil die auszuführenden Tätigkeiten über bloß untergeordnete, sich qualitativ nicht hervorhebende Teiltätigkeiten hinausgehen (RS0084541 [T21]).

[19] 3.2. Besteht hingegen kein Berufsschutz, kann der Versicherte auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden (RS0084505; RS0084605).

[20] 4. Die Frage, welches Verweisungsfeld konkret in Betracht kommt, hängt daher davon ab, ob der Versicherte Berufsschutz genießt oder nicht. Hier hat das Berufungsgericht die Mängel‑ und Beweisrüge zu dieser vorgelagerten Frage nicht behandelt. Das ist grundsätzlich zwar nicht zu beanstanden, weil Invalidität jedenfalls ausscheidet, wenn der Versicherte schon eine Tätigkeit des durch den Berufsschutz gebildeten engeren Verweisungsfeldes ausüben kann. Die dem zugrunde liegende Auffassung, die Tätigkeit als Lkw‑Fahrer ohne Be‑ und Entladetätigkeit in der Baubranche sei berufsschutzerhaltend, hält einer rechtlichen Prüfung jedoch nicht stand.

[21] 4.1. Was berufsschutzerhaltende Tätigkeiten von Berufskraftfahrern betrifft, hat der Oberste Gerichtshof schon ausgesprochen, das die Tätigkeit als Lkw‑Lenker (zum Teil im grenzüberschreitenden Verkehr), als Busfahrer oder als Autobusfahrer im internationalen Einsatz den bereits vorher erworbenen Berufsschutz erhält, ebenso die Tätigkeit als Chauffeur im Viehtransport, verbunden mit der Wartung des Fahrzeugs und dem Ausfüllen von Formularen, oder als Fuhrparkdisponent (10 ObS 160/12w SSV‑NF 26/83; 10 ObS 98/11a SSV‑NF 25/92 je mwN).

[22] 4.2. Eine Tätigkeit als Zustellfahrerist hingegen nur dann berufsschutzerhaltend, wenn für ihre Ausübung nicht bloß eine Anlernzeit von wenigen Monaten genügt (10 ObS 131/14h SSV‑NF 28/72; 10 ObS 19/09f SSV‑NF 23/25). Nichts anderes gilt für die Tätigkeiten eines Fahrers von Dienstpersonenkraftwagen bzw eines Direktionschauffeurs. In der Rechtsprechung wurde klargestellt, dass durch diese Tätigkeiten ein Berufsschutz als Berufskraftfahrer zwar erhalten werden kann, dies aber nur unter der Voraussetzung, dass sich die Tätigkeiten qualitativ von Hilfsarbeiten wesentlich hervorhebt und nicht bloß untergeordnet ist, wofür auch die Dauer der Anlernzeit relevant ist (10 ObS 17/04d SSV‑NF 18/20; 10 ObS 90/02m SSV‑NF 16/79; 10 ObS 290/99s SSV‑NF 13/129 ua).

[23] Die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen lassen eine Prüfung der Frage, ob der Kläger unter der hypothetischen Annahme eines (derzeit noch fraglichen) Berufsschutzes auf eine dieser Tätigkeiten verwiesen werden kann, nicht zu.

[24] 4.3. Nicht zu folgen ist dem Berufungsgericht darin, dass die Tätigkeit eines Lkw‑Fahrers ohne Be‑ und Entladetätigkeiten in der Baubranche jedenfalls berufsschutzerhaltend sei. Die zur Begründung angeführte Entscheidung zu 10 ObS 85/09m (SSV‑NF 23/57) trägt seine Sicht nicht ohne Weiteres, weil sie einen Betonmischwagenfahrer betraf, der prima vista auch Ladetätigkeiten zu erfüllen hat. Es steht hier auch nicht fest, inwiefern der Kläger als Lkw-Lenker ohne Be‑ und Entladetätigkeit sein berufliches Wissen verwerten und nach welcher Einschulungszeit ein ungelernter Arbeiter diese Tätigkeit verrichten kann. Ob die Tätigkeit mit jener eines Betonmischwagenfahrers verglichen werden kann, lässt sich derzeit somit nicht beantworten und es erscheint auch fraglich, weil sie sich mit Blick auf die Tätigkeitsbeschreibung im berufskundlichen Sachverständigengutachten (Transport von Aushubmaterial oder Containern) jener eines „bloßen“ Zustellers (von Baumaterialien) annähert. Davon dürfte auch das Erstgericht ausgegangen sein, zumal es auf (in der Regel kurze) Lkw-Fahrten im Baustellenbereich sowie darauf verweist, dass (unter anderem) für diese Tätigkeit ausreichend viele Stellen am allgemeinen Arbeitsmarkt vorhanden sind.

[25] 5. Auch wenn an den Erhalt des Berufsschutzes nicht die gleich strengen Anforderungen wie an seinen Erwerb zu stellen sind (vgl RS0084497 [T11]; RS0116791), reicht die derzeitige Sachverhaltsgrundlage somit nicht aus, um die Frage definitiv zu beantworten, ob die festgestellten „artverwandten“ Tätigkeiten berufsschutzerhaltend sind. Damit liegen auch die Voraussetzungen dafür, die Klage ohne vorherige Prüfung des Berufsschutzes abzuweisen, nicht vor. Die Aufhebung des Berufungsurteils ist daher unumgänglich.

[26] Im weiteren Verfahren ist daher vorweg zu klären, ob der Kläger durch seine Tätigkeiten „bei der Müllabfuhr“ seinen Berufsschutz erhalten oder verloren hat. Dafür wird das Berufungsgericht die diese Frage betreffenden, bislang nicht behandelten Teile der Mängel- und Beweisrüge zu erledigen haben. Nur wenn sich ergeben sollte, dass der Kläger (weiter) Berufsschutz genießt, stellt sich die Frage, ob dieser durch die ihm zumutbaren („artverwandten“) Tätigkeiten erhalten bleibt. In diesem Fall bedarf es aber jedenfalls detaillierter Feststellungen zu den möglichen Verweisungsberufen.

[27] 6. In Stattgebung der Revision ist das Urteil des Berufungsgerichts daher aufzuheben und die Rechtssache zur abschließenden Erledigung der Berufung des Klägers an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

[28] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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