OGH 10ObS119/20b

OGH10ObS119/20b19.1.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Bernhard Kirchl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und KR Karl Frint (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch Mag. Athanasia Toursougas‑Reif, Rechtsanwältin in Pöls‑Oberkurzheim, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 16. Juli 2020, GZ 6 Rs 33/20 z‑21, mit dem das Urteil des Landesgerichts Leoben als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 5. März 2020, GZ 23 Cgs 185/19x‑17, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130587

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Verfahrens ist die Verweisbarkeit des Klägers, der Berufsschutz als Kfz‑Mechaniker genießt, auf die Berufe des Kfz‑Kundendienstbetreuers oder des qualifizierten Qualitätskontrollors nach § 255 Abs 1 ASVG.

[2] Die Arbeitsfähigkeit des Klägers ist aufgrund einer Reihe von Leidenszuständen in einem von den Vorinstanzen näher festgestellten Umfang eingeschränkt. Davon ist hervorzuheben: Der Kläger muss im Einzelnen festgestellte Medikamente teils regelmäßig, teils nach Bedarf, einnehmen. Diese Medikamente, die vor allem auch den psychischen Bereich betreffen, sind in der Eindosierungsphase problematisch im Hinblick auf das Reaktionsvermögen. Bei der entsprechend langsamen Eindosierung sind üblicherweise für zwei bis drei Wochen Probleme bei der Reaktionsfähigkeit zu erwarten. Deshalb sollte man in diesem Zeitraum das Lenken eines Kraftfahrzeugs unterlassen.

[3] Der Kläger ist aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht mehr in der Lage, alle Anforderungen, die an einen Kfz‑Techniker gestellt werden, zu erfüllen. Im Verfahren wurden die Berufe des Kfz‑Kundendienstbetreuers oder des qualifizierten Qualitätskontrollors als Verweisungsberufe in Betracht gezogen.

[4] Das Berufsanforderungsprofil des Kfz‑Kundendienstbetreuers beinhaltet unter anderem die Durchführung von Probefahrten.

[5] Zum qualifizierten Qualitätskontrollor ist hervorzuheben, dass in diesem Beruf im Allgemeinen gelernte Arbeitskräfte, etwa auch Kfz‑Techniker, eingesetzt werden, die im Betrieb durchschnittlich drei bis sechs Monate lang eingeschult bzw eingearbeitet werden. Die Tätigkeit erfordert Genauigkeit und es bestehen hohe Qualitätsansprüche.

[6] Der Kläger brachte vor, er sei aufgrund seiner Leidenszustände nicht mehr imstande, eine Tätigkeit am Arbeitsmarkt auszuüben. Nach Vorliegen der medizinischen Sachverständigengutachten sowie des berufskundlichen Sachverständigengutachtens, in dem die beiden genannten Verweisungsberufe angeführt waren, brachte er ergänzend vor, die von ihm einzunehmenden Medikamente beeinträchtigten seine Fähigkeit zum Lenken von Kraftfahrzeugen und zum Bedienen von Maschinen sowieseine Konzentrationsfähigkeit. Das sei auch im Hinblick auf den Verweisungsberuf des Qualitätskontrollors zu beachten.

[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension ab 16. 1. 2019 ab.

[8] Es traf keine Feststellungen dazu, ob die Medikamenteneinnahme zu der vom Kläger behaupteten Einschränkung seiner Konzentrationsfähigkeit führt und ob diese Einschränkung gegebenenfalls seine Fähigkeit, die Tätigkeit eines Qualitätskontrollors mit der notwendigen Genauigkeit auszuüben, beeinträchtigt.

[9] Rechtlich kam es zum Ergebnis, der Kläger sei berufsschutzerhaltend auf die Tätigkeiten eines Kfz‑Kundendienstbetreuers und eines Qualitätskontrollors verweisbar. Die erforderliche Nachschulung stehe der Verweisbarkeit nicht entgegen.

[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und sprach aus, dass die Revision mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig sei.

[11] Es erörterte rechtlich, die getroffenen Feststellungen zur Fahrtüchtigkeit des Klägers ließen eine verlässliche Beurteilung der Verweisbarkeit auf den Beruf des Kfz‑Kundendienstbetreuers nicht zu, weil nicht feststehe, ob die Medikamenteneinnahme ausschließlich in der Eindosierungsphase problematisch sei, hinsichtlich welcher Medikamente eine solche Eindosierungsphase notwendig sei, ob sie abgeschlossen sei und ob sie bei den Bedarfseinnahmen neu eintrete. Es genüge aber ein einziger nach dem medizinischen Leistungskalkül möglicher Verweisungsberuf. Der Kläger sei auf die Tätigkeit eines qualifizierten Qualitätskontrollors verweisbar. Der Oberste Gerichtshof habe die Nahebeziehung zwischen den Tätigkeiten des Kfz‑Mechanikers und des qualifizierten Fertigungsprüfers bereits bejaht. Aus den Feststellungen sei abzuleiten, dass die absolvierte Lehrausbildung geradezu ein Anstellungserfordernis sei. Trotz der notwendigen Nachschulung werde der Bereich des erlernten Berufs nicht verlassen. Das Vorbringen, die Einschulung verlange auch eine externe Zusatzausbildung, weiche von den unbekämpften Feststellungen ab. Die Ausführungen des Sachverständigen für Berufskunde, dass Kfz‑Techniker „eventuell“ zusätzlich in externen Kursen eingeschult würden, rechtfertige nicht den Schluss, dass ein solcher Kurs erforderlich sei.

[12] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers mit den Anträgen, die angefochtenen Urteile im klagestattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[13] Die Beklagte beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.

[14] Der Revisionswerber rügt das Fehlen von Feststellungen zu den Auswirkungen der Medikamenteneinnahme auf seine Fähigkeit, die Tätigkeit eines Qualitätskontrollors auszuüben, als erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ASVG.

Rechtliche Beurteilung

[15] Die Revision ist aus dem vom Revisionswerber angeführten Grund zulässig, sie ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[16] 1.1. Entscheidend für die Frage der Verweisbarkeit des Versicherten ist die aufgrund des ärztlichen Leistungskalküls getroffene Feststellung, in welchem Umfang er im Hinblick auf die bestehenden Einschränkungen behindert ist bzw welche Tätigkeiten er ausführen kann (RIS‑Justiz RS0084399 [T3]). Bei der Prüfung eines Pensionsanspruchs wegen geminderter Arbeitsfähigkeit ist daher vorerst ein medizinisches Leistungskalkül zu erheben. Sodann ist unter Bedachtnahme auf die Ergebnisse dieses Leistungskalküls das Verweisungsfeld zu prüfen und es sind die damit verbundenen Anforderungen in möglichst detaillierter Form festzustellen. Durch Vergleich des medizinischen Leistungskalküls mit den Feststellungen über die physischen und psychischen Anforderungen, die die Verweisungstätigkeiten stellen, ist sodann die Frage zu lösen, ob der Kläger zur Verrichtung der in Frage kommenden Verweisungstätigkeiten in der Lage ist (RS0084413 [T3]).

[17] 1.2. Gemäß § 87 Abs 1 ASGG hat das Gericht sämtliche notwendig erscheinenden Beweise von Amts wegen aufzunehmen. Dabei hat sich die amtswegige Beweisaufnahme gegenüber qualifiziert vertretenen Parteien innerhalb der – weit zu steckenden – Grenzen des Parteienvorbringens zu bewegen (RS0042477 [T14]).

[18] Die Verletzung der Pflicht, alle entscheidungsrelevanten Tatsachen von Amts wegen (soweit sich Anhaltspunkte im Verfahren ergeben haben) zu erheben, begründet nicht nur einen Verfahrensmangel, sondern kann auch, wenn nach dem Inhalt der Prozessakten erheblich scheinende Tatsachen nicht festgestellt wurden, zu einer im Rahmen der Rechtsrüge geltend zu machenden Unvollständigkeit der Sachgrundlage führen (RS0042477).

[19] Das ist hier der Fall.

[20] 2.1. Der Kläger brachte bereits in erster Instanz vor, durch die Medikamenteneinnahme in seiner Konzentrationsfähigkeit eingeschränkt zu sein, sodass die Fähigkeit zur Einhaltung der für den Beruf des Qualitätskontrollors erforderlichen Genauigkeit zweifelhaft sei.

[21] Die Vorinstanzen haben dazu keine Feststellungen getroffen. Das festgestellte Leistungskalkül, in dem eine Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit nicht enthalten ist, kann im hier zu beurteilenden Einzelfall auch nicht dahin ausgelegt werden, dass eine derartige Einschränkung nicht vorliege, weil aus dem Akt nicht ersichtlich ist, ob der Sachverständige für Neurologie und Psychiatrie konkret mit dem Vorbringen des Klägers zu seiner Konzentrationsfähigkeit im Hinblick auf die Anforderungen die Tätigkeit des Qualitätskontrollors konfrontiert wurde. Nach dem Akteninhalt wurde der Schriftsatz des Klägers vom 27. 2. 2020 dem Sachverständigen nicht übermittelt; aus dem Protokoll der mündlichen Streitverhandlung am 5. 3. 2020 – das gemäß § 215 Abs 1 ZPO grundsätzlich vollen Beweis über den Verlauf und Inhalt der Verhandlung liefert – ist nur die Erörterung der Verkehrstüchtigkeit des Klägers ersichtlich. Damit kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass das festgestellte Leistungskalkül im Hinblick auf die behauptete Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit des Klägers vollständig wäre.

[22] Dies macht die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen erforderlich.

[23] 2.2. Das Erstgericht wird zweckmäßigerweise mit dem Sachverständigen für Berufskunde zu erörtern haben, welche körperlichen und geistigen Anforderungen, insbesondere an die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, für die Tätigkeit des Qualitätskontrollors bestehen, um die erforderliche Genauigkeit und hohen Qualitätsansprüche einhalten zu können.

[24] Sodann wird der Sachverständige für Neurologie und Psychiatrie zur Ergänzung seines Gutachtens dahin anzuleiten sein, ob der Kläger trotz der Einschränkungen aufgrund der Medikamenteneinnahme diese Anforderungen erfüllen kann.

[25] 3.1. Der Revisionswerber wendet sich im Weiteren gegen die von den Vorinstanzen angenommene Zumutbarkeit der Ein- bzw Nachschulung für den Beruf des Qualitätskontrollors.

[26] 3.2. Nach ständiger Rechtsprechung ist einem Versicherten, der überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig war, eine Ein‑ und Nachschulung im bisherigen Beruf zuzumuten, wenn er diesen nur mehr in einer spezialisierten Form ausüben kann (10 ObS 37/03v; vgl RS0050900). Diese neue Form des Berufs muss eine ausreichende Nahebeziehung zum bisher ausgeübten Beruf aufweisen (10 ObS 37/03v; zuletzt 10 ObS 105/16p SSV‑NF 30/56; vgl RS0084541 [T18, T35]). Der gelernte (angelernte) Arbeiter darf nämlich nicht auf eine (Teil‑)Tätigkeit verwiesen werden, durch deren Ausübung er den Berufsschutz verlieren würde (RS0084541; vgl RS0084837).

[27] Entscheidend für die Erhaltung des Berufsschutzes ist die Beurteilung, ob ein Kernbereich der Ausbildung auch bei der Ausübung der Teiltätigkeit oder spezialisierten Tätigkeit verwertet werden muss (RS0084497 [T15]; 10 ObS 160/12w SSV‑NF 26/83). Die Frage, ob bestimmte Tätigkeiten berufsschutzerhaltend sind, kann nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Für die Prüfung der Frage ist die genaue Feststellung der im Verweisungsberuf auszuübenden Tätigkeiten erforderlich (RS0112425), der dafür verwertbare Teil der Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten des erlernten (angelernten) Berufs sowie der zusätzlichen Kenntnisse und Fähigkeiten und der Umstände, unter denen sie erworben werden können (10 ObS 160/12w SSV‑NF 26/83; 10 ObS 98/11a SSV‑NF 25/92 ua).

[28] Ob es sich bei der Verweisungstätigkeit um eine Teiltätigkeit oder eine spezialisierte Tätigkeit des bisher ausgeübten erlernten oder angelernten Berufs handelt, ist– sofern nicht offenkundig – in jedem Einzelfall besonders zu prüfen (RS0084541 [T7]).

[29] 3.3. Im vorliegenden Fall trafen die Vorinstanzen keine Feststellungen zur Verwertbarkeit der Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers aus seinem erlernten Beruf als Kfz‑Mechaniker im Verweisungsberuf des Qualitätskontrollors. Damit reicht die Feststellungsgrundlage auch in diesem Zusammenhang zur verlässlichen Beurteilung des geltend gemachten Anspruchs nicht aus.

[30] Der Oberste Gerichtshof hat zwar zu 10 ObS 37/03v ausgesprochen, dass durch eine innerbetriebliche Einschulung eines gelernten Kfz‑Mechanikers in der Dauer von drei bis sechs Monaten in den Beruf des qualifizierten Fertigungsprüfers der Bereich des erlernten Berufs nicht verlassen wird (10 ObS 37/03v), worauf sich die Vorinstanzen stützten. Dabei übersehen sie aber, dass der Kläger bereits in erster Instanz vorbrachte, der berufskundliche Sachverständige lege ein veraltetes Berufsprofil des Qualitätskontrollors zugrunde, weil in diesem Beruf heutzutage insbesondere digitale Messtechniken im Vordergrund stünden.

[31] Angesichts dieses Vorbringens ist im vorliegenden Einzelfall die Prüfung der Verwertbarkeit der Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers aus seinem erlernten Beruf im Verweisungsberuf erforderlich, um beurteilen zu können, ob die Tätigkeit eines Qualitätskontrollors – wobei, wie der Kläger zutreffend geltend macht, die relevante Industriesparte zu bezeichnen ist – nach wie vor derselben Berufsgruppe zuzuordnen ist wie der erlernte Beruf des Klägers.

[32] Das Erstgericht wird daher die dargestellten Grundsätze mit den Parteien zu erörtern und die Tatsachengrundlage – zweckmäßigerweise durch Ergänzung des berufskundlichen Sachverständigengutachtens – entsprechend zu ergänzen haben.

[33] 4.1. Erst nach Erhebung des aktuellen Berufsanforderungsprofils eines Qualitätskontrollors in der in Betracht kommenden Industriesparte kann auch der Umfang der für die Ausübung dieses Verweisungsberufs erforderlichen Nachschulung des Revisionswerbers ermittelt werden.

[34] 4.2. Auf die in der Revision erhobene Rüge sekundärer Feststellungsmängel betreffend die Art der (innerbetrieblichen oder externen) Schulungsmaßnahmen, sowie auf die Rüge, das Berufungsgericht habe unter Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ergänzende Feststellungen dazu getroffen, ist daher beim derzeitigen Verfahrensstand nicht einzugehen.

[35] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Stichworte