OGH 8ObA16/23w

OGH8ObA16/23w29.8.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Harald Stelzer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Thomas Kallab (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei M*, vertreten durch Burkowski Rechtsanwälte GesbR in Linz, gegen die beklagte Partei M*, vertreten durch Hochstöger Nowotny & Wohlmacher Rechtsanwälte OG in Linz, wegen 2.023,31 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 8. Februar 2023, GZ 12 Ra 70/22h, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 29. Juli 2022, GZ 36 Cga 23/22h‑14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:008OBA00016.23W.0829.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie unter Einschluss des bereits in Rechtskraft erwachsenen Teils insgesamt wie folgt zu lauten haben:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 2.267,61 EUR brutto samt 8,58 % Zinsen seit 12. Jänner 2022 binnen 14 Tagen zu bezahlen.“

Die Entscheidung über die Verfahrenskosten aller Instanzen bleibt dem Erstgericht vorbehalten.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin war beim Beklagten vom 27. 8. 2019 bis 11. 1. 2022 mit einer vereinbarten Arbeitszeit von 10 Stunden pro Woche und einem Monatslohn von zuletzt 437,25 EUR brutto als Arbeiterin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis unterlag dem Kollektivvertrag für Friseure, Kosmetiker und Fußpfleger. Zwischen den Streitteilen bestand eine Zeitausgleichsvereinbarung. Die von der Klägerin über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus auftragsgemäß geleisteten Mehrarbeitsstunden wurden in ein Zeitausgleichskonto eingestellt. Sie konsumierte während des Dienstverhältnisses auch immer wieder Zeitausgleich, allerdings wurden dadurch nicht sämtliche geleisteten Mehrstunden ausgeglichen.

[2] Am 22. 4. 2021 wurde über das Vermögen des Beklagten ein Insolvenzverfahren eröffnet. Die Klägerin meldete in diesem Verfahren nur Forderungen auf ausständiges laufendes Entgelt an, das Arbeitsverhältnis blieb aufrecht. Am 20. 9. 2021 wurde das Insolvenzverfahren aufgrund eines gerichtlich bestätigten Sanierungsplans (Quote 23 %) wieder aufgehoben.

[3] Bei Insolvenzeröffnung wies das Zeitausgleichskonto der Klägerin ein Guthaben von 311,95 Stunden auf. Sie konsumierte in der Folge davon bis zur Annahme des Sanierungsplans 22,40 und danach bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses weitere 56,70 Stunden an Zeitausgleich durch „Minusstunden“. 92 Stunden wurden ihr anlässlich der Beendigung ausbezahlt.

[4] Das (eingeschränkte) Klagebegehren ist insbesondere – im Revisionsverfahren nur noch wesentlich – auf Zahlung des Entgelts für 141,30 offene Mehrarbeitsstunden gerichtet.

Rechtliche Beurteilung

[5] Das Erstgericht sprach der Klägerin Entgelt für 9,9 Stunden unter Abweisung des Mehrbegehrens zu. Diese Anzahl ergebe sich aus der Anwendung der Sanierungsplanquote von 23 % auf das im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bestehende und um den während des Insolvenzverfahrens konsumierten Zeitausgleich reduzierte Zeitguthaben.

[6] Das Berufungsgericht gab dem gegen die Abweisung des Mehrbegehrens gerichteten Rechtsmittel der Klägerin keine Folge. Es trat der Rechtsansicht des Erstgerichts bei, dass das vor der Insolvenzeröffnung erarbeitete Zeitguthaben ungeachtet dessen, dass die Zeitausgleichsvereinbarung fortgeführt wurde, als Insolvenzforderung zu behandeln sei und der Sanierungsplanquote unterliege. Die nach Abzug des konsumierten Zeitausgleichs bis zur Beendigung des Dienstverhältnisses verbliebenen 232,85 Mehrstunden unterlägen daher der Quote. Von den resultierenden 53,55 Stunden sei nach Abzug der ausbezahlten 92 Stunden demnach überhaupt kein Guthaben mehr verblieben.

[7] Die auf den Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte, nach § 508a Abs 2 ZPO vom Obersten Gerichtshof zugelassene Revision der Klägerin strebt die Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im klagstattgebenden Sinn an. Die Revisionsbeantwortung des Beklagten beschränkt sich auf den Antrag, das Rechtsmittel der Klägerin als unzulässig zurückzuweisen.

[8] Die Revision ist zur Klärung von bisher in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung noch nicht abschließend behandelten Rechtsfragen zulässig und auch berechtigt.

[9] 1. Die Revision führt zusammengefasst ins Treffen, das Berufungsgericht habe die von ihm für seine Begründung herangezogene höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Behandlung von Zeitguthaben aus vor der Insolvenz des Arbeitgebers gelegenen Perioden in rechtsirriger Weise auf den vorliegenden Fall übertragen. Gegenstand der erwähnten Vorentscheidung sei eine Forderung auf Abgeltung von Zeitguthaben gewesen, die als Geldforderung nach Insolvenzeröffnung fällig wurde. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin sei aber ununterbrochen bis nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens fortgesetzt und die Zeitausgleichsvereinbarung weitergeführt worden. In ihrem Fall sei die Fälligkeit des Geldanspruchs erst mit der Unmöglichkeit des weiteren Zeitausgleichs infolge Beendigung des Arbeitsverhältnisses, lange nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens, eingetreten. Aus diesem Grund hätte die Klägerin für das bestehende Zeitguthaben auch kein Insolvenz‑Entgelt beziehen können. Die Entscheidungen der Vorinstanzen würden auf das vom Gesetzgeber nicht gewollte Ergebnis hinauslaufen, dass ein solcher Arbeitnehmeranspruch auf Entgelt für bereits erbrachte Arbeit ungesichert bliebe.

[10] 2. Nach § 19f Abs 2 und 3 AZG (in der hier maßgeblichen, bis 31. 5. 2022 geltenden Fassung BGBl I 2007/61) gilt für ein Zeitausgleichsguthaben für Überstundenarbeit mangels abweichender kollektiv-vertraglicher Regelungen (worauf sich der Beklagte nicht berufen hat) Folgendes:

[11] Wurde der Zeitpunkt des Zeitausgleichs nicht im Vorhinein vereinbart, und kommt es nicht innerhalb der Frist nach Abs 2 (grundsätzlich sechs Monate nach Ende des Anfallsmonats) zu einem Verbrauch, so kann der Arbeitnehmer nach weiteren vier Wochen den Verbrauch des Guthabens einseitig bestimmen oder die Abgeltung in Geld verlangen.

[12] Stellt der Arbeitnehmer dieses Verlangen, so kommt es zu einer Rückumwandlung des Zeitausgleichs in Geld. Verlangt er weder das eine noch das andere, macht der Arbeitnehmer von seinem Wahlrecht also nicht Gebrauch, so kommt es nicht zur automatischen Umwandlung des Zeitausgleichs in Geld (8 ObS 4/14t unter Verweis auf 141 RV BlgNR 23. GP 7).

[13] Das Zeitguthaben bleibt dann als solches grundsätzlich unverändert bestehen, und zwar bis zum Zeitpunkt, in dem fest steht, dass die von den Parteien in Aussicht genommene Konsumation nicht mehr möglich ist, im Regelfall bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses (8 ObS 4/14t; Heilegger in Gasteiger/Heilegger/Klein[Hrsg], Arbeitszeitgesetz7 §§ 19e und 19f AZG Rz 50).

[14] 3. Der Anspruch aus einer Vereinbarung über Zeitausgleich hat keinen Entgeltcharakter, sondern beruht nur auf einer anderen Verteilung der Arbeitszeit. Nicht verbrauchtes Zeitguthaben aus Überstunden, das nicht in einen fälligen Geldanspruch umgewandelt wurde, ist daher nicht Arbeitsentgelt (RS0051784 [T1]).

[15] 4. Nach § 51 Abs 1 IO sind Insolvenzforderungen Forderungen von Gläubigern, denen vermögensrechtliche Ansprüche an den Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zustehen. Durch den rechtskräftig bestätigten Sanierungsplan wird der Schuldner nach § 156 Abs 1 IO von der Verbindlichkeit befreit, seinen Gläubigern den Ausfall, den sie erleiden, nachträglich zu ersetzen oder für die sonst gewährte Begünstigung nachträglich aufzukommen.

[16] Zeitguthaben, die als solche aufgrund einer Zeitausgleichsvereinbarung im Sinne einer anderen Verteilung der Arbeitszeit auszugleichen sind, stellen nach den vorstehenden Grundsätzen keine Entgeltansprüche dar und damit auch keine vermögensrechtlichen Ansprüche, die als Insolvenzforderungen den Wirkungen eines Sanierungsplans unterliegen. Ein vermögensrechtlicher Anspruch, der den Folgen des Insolvenzverfahrens unterliegt, entsteht nach der Rechtsprechung zu § 19f Abs 2 und 3 AZG (idF BGBl I 2007/61) nur und erst dann, wenn sie in einen Geldanspruch umgewandelt werden.

[17] Dem entspricht, wie die Klägerin zutreffend geltend macht, dass nicht umgewandelte, sondern naturaliter zu konsumierende Zeitguthaben (nach der im hier maßgeblichen Zeitraum geltenden Rechtslage) keine nach dem IESG gesicherte Forderung begründen (RS0122693).

[18] Nach dem Sachverhalt ist es vor und während des Insolvenzverfahrens des Beklagten nie zu einer Umwandlung des Zeitguthabens der Klägerin in eine Geldforderung gekommen, sondern es wurde bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses wie vereinbart nur durch Zeitausgleich („Minusstunden“) verringert. Eine Geldforderung, die als Insolvenzforderung den Wirkungen des Sanierungsplans unterlegen wäre (vgl Katzmayr in Koller/Lovrek/Spitzer [Hrsg], IO², § 51 IO Rz 52) und dem entsprechend im Rahmen des § 3a IESG gesichert gewesen wäre, bestand nicht. Die Geldforderung ist erst später und nur für jenen Teil des Guthabens entstanden, der wegen der Beendigung des Dienstverhältnisses nicht mehr ausgeglichen werden konnte.

[19] Der von den Vorinstanzen und der Revisionsbeantwortung für deren Rechtsstandpunkt ins Treffen geführten Entscheidung 8 ObA 60/18h liegt ein nicht einschlägiger Sachverhalt zugrunde. Das Dienstverhältnis der dort klagenden Partei war gemäß § 25 IO aufgelöst worden, sodass der Entgeltanspruch an Stelle des Zeitguthabens während des Insolvenzverfahrens entstanden ist. Wesentlicher Gegenstand jener Entscheidung war die Lösung der Frage, ob dieser Entgeltanspruch als Masse (laufendes Entgelt) oder als Insolvenzforderung zu behandelt ist.

[20] Zur rechtlichen Qualifikation eines Zeitguthabens, das während des Insolvenzverfahrens verbraucht wird, hat der Oberste Gerichtshof aber bereits zu 8 ObA 60/18h festgehalten, dass in einem solchen Fall unabhängig von der geringeren Arbeitspflicht einfach das laufende Entgelt für eine Leistung nach Insolvenzeröffnung geschuldet wird, bei dem es sich um eine Masseforderung handelt. Aus diesen Ausführungen kann aber gerade nicht abgeleitet werden, dass naturaliter erst später auszugleichende Zeitguthaben selbst schon Insolvenzforderungen darstellen würden und den Wirkungen eines Sanierungsplans unterliegen.

[21] 5. An diesem Ergebnis ändert es nichts, wenn die Revisionsbeantwortung ins Treffen führt, dass die Möglichkeit eines unerwarteten „Wiederauflebens“ von Forderungen aus Zeitausgleichsguthaben die Fortführung des Unternehmens gefährden könne, weil es bei der Berechnung der leistbaren Quote nicht einkalkuliert werde. Das Zeitausgleichsguthaben stellt ja nach dem Willen der Parteien, primär keinen Anspruch auf eine Geldleistung dar, sondern soll dem Arbeitnehmer zusätzliche Freizeit – ähnlich offenen Urlaubstagen – ermöglichen. Ob diese für den Arbeitgeber einen wirtschaftlichen Nachteil bedeutet oder etwa wegen saisonaler Auslastungsschwankungen die Arbeitsleistung ohnehin nicht benötigt wird kann nicht generell beantwortet werden. Im Übrigen sieht § 25 IO im Sanierungsverfahren nicht generell eine begünstigte Beendigungsmöglichkeit vor.

[22] 6. Der Revision war daher Folge zu geben. Die Forderungshöhe war im Revisionsverfahren nicht mehr strittig.

[23] Der Vorbehalt der Entscheidung über die Verfahrenskosten beruht auf § 52 Abs 1 bis 3 ZPO.

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