European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0060OB00045.23W.0628.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiete: Familienrecht (ohne Unterhalt), Zivilverfahrensrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
I. Der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Revisionsrekursverhandlung vor dem Obersten Gerichtshof wird abgewiesen.
II. Der Antrag, es möge festgestellt werden, dass die Erklärung der Mutter „in den verwaltungsrechtlichen Verfahren betreffend die Abmeldung vom häuslichen Unterricht […] nach zivilrechtlichen Gesichtspunkten rechtswidrig“ erfolgte, wird zurückgewiesen.
III. Der Revisionsrekurs im Verfahren über die Obsorge der minderjährigen I*, geboren * 2012, wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
IV. Dem Revisionsrekurs im Verfahren über die Obsorge der minderjährigen 1. L*, geboren * 2007, 2. M*, geboren * 2009 wird hingegen Folge gegeben.
1. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden im Umfang der Übertragung der (alleinigen) Obsorge auf die Mutter (jeweils bezüglich des Erstgerichts: GZ 46 Ps 146/20h‑110, Pkt 1.) sowie der Aufträge, die Söhne unverzüglich zu deren Haushalt zu bringen (GZ 46 Ps 146/20h‑114) und sämtliche Ausweise, persönliche Dokumente sowie das gesamte Vermögen der beiden Söhne an die Mutter herauszugeben (GZ 46 Ps 146/20h‑134, Pkt 4.), aufgehoben.
Die vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit dieser Beschlüsse wird gemäß § 44 Abs 1 iVm § 107 Abs 2 AußStrG ausgeschlossen.
Die Rechtssache wird insoweit zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
2. Die Beschlüsse über die Ordnungsstrafen von insgesamt 2.000 EUR (GZ 46 Ps 146/20h‑118) werden ersatzlos aufgehoben.
Begründung:
[1] Die Ehe der Eltern der drei Kinder wurde im Jahr 2019 einvernehmlich geschieden. Die beiden älteren Söhne leben beim Vater, die Tochter bei der Mutter. Dies beruht auf dem noch vor der Scheidung geschlossenen Vergleich der Eltern, mit dem sie angesichts der Auflösung der ehelichen Wohngemeinschaft den hauptsächlichen Aufenthaltsort der beiden Söhne im Haushalt des Vaters und jenen der Tochter im Haushalt der Mutter festlegten. Die Betreuungsregelung erfolgte damals im Sinn des Doppelresidenzmodells mit konkreter Regelung der Kontaktzeiten.
[2] Auch nach der vergleichsweisen Regelung kam es jedoch zu Differenzen zwischen den Elternteilen. Das vereinbarte Doppelresidenzmodell wird schon seit geraumer Zeit nicht mehr gelebt. Besuchskontakte zur Mutter lehnten die Söhne zuletzt ab.
[3] Die Eltern erhoben wechselseitig (jeweils bestrittene) Vorwürfe. So bemängelte die Mutter, dass der Vater der Psychotherapie der Tochter nicht zustimme und sie geschlagen habe. Er habe – als „fanatischer Corona‑Leugner“ – die beiden Söhne nicht nur indoktriniert, weshalb sie das Tragen von Masken ablehnten, sondern sie zudem ohne ihr Einverständnis von der Schule abgemeldet. Der Vater behauptete, die Mutter vernachlässige ihre Aufsichtspflicht und manipuliere die Tochter. Die Söhne hielten ihren Psychoterror nicht mehr aus und fürchteten, bei ihr psychische und physische Gewalt „zu erfahren“. Seine hochbegabten Söhne seien in der Schule unterfordert gewesen, weshalb er sie im häuslichen Unterricht unterrichte. Durch viel zu späte Zuweisung der Kommissionen sei eine Vorbereitung auf die Externistenprüfung unmöglich gemacht worden. Er habe seine Söhne dieser „traumatisierenden“ und „kindeswohlgefährdenden“ Prüfung nicht aussetzen wollen.
[4] Die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern gipfelten darin, dass die Mutter zuletzt begehrte, ihr vorläufig und sodann endgültig die alleinige Obsorge für alle drei Kinder zu übertragen und das Kontaktrecht des Vaters zur Tochter für zwei Monate auszusetzen.
[5] Der Vater beantragte seinerseits, begleitete Besuchskontakte der Mutter festzulegen und sie zur Absolvierung einer Erziehungsberatung zu verpflichten.
[6] Das Erstgericht holte eineStellungnahmedes Kinder- und Jugendhilfeträgers (vom 7. 9. 2022) ein, welcher nach einem Gespräch mit (jeweils) den Eltern und den Kindern empfahl, die Obsorge für die Söhne allein dem Vater und jene für die Tochter alleine der Mutter zu übertragen.
[7] Am 12. 10. 2022 schlossen die Eltern einen gerichtlichen Vergleich, mit dem sich der Vater dazu verpflichtete, einen regelmäßigen Schulbesuch der Söhne spätestens ab 17. 10. 2022 sicherzustellen und den Besuch dem Gericht monatlich durch Übermittlung einer Schulbesuchsbestätigung nachzuweisen. Die Mutter (die Staatsbürgerin der Russischen Föderation ist) verpflichtete sich, während des laufenden Kriegs in der Ukraine nicht mit den Kindern nach Russland zu reisen. Vereinbarungsgemäß sollte es „vorläufig“ bei gemeinsamer Obsorge und hauptsächlichem Aufenthalt der Kinder wie bisher bleiben.
[8] Trotz Vergleich und obwohl der häusliche Unterricht bereits mit Bescheid vom 19. 10. 2022 untersagt worden ist, besuchten die Söhne (die auch keine Externistenprüfungen abgelegt haben) die Schule nicht.
[9] Der älteste Sohn L*, der im November 2021 die selbständige Verfahrensfähigkeit erlangt hat, beantragte mit Schreiben vom 2. 11. 2022 (eingelangt am 8. 11. 2022), die Obsorge für ihn allein seinem Vater zu übertragen und das Kontaktrecht zur Mutter auf unbestimmte Zeit auszusetzen.
[10] Das Erstgericht entzog dem Vater vorläufig die Obsorge für alle drei Kinder und übertrug sie vorerst der Mutter alleine. Es räumte dem Vater ein Kontaktrecht ein (ON 110). Diese Entscheidung begründete es (ohne weitere Feststellungen und ohne Einvernahme der Eltern und Söhne nur) damit, dass sich der Vater nicht an den zwischen den Eltern geschlossenen Vergleich halte. Er sei offenkundig nicht in der Lage Vereinbarungen, die er selbst treffe, einzuhalten. Es sei davon auszugehen, dass er das Kindeswohl mit seinen Entscheidungen massiv gefährde.
[11] Es trug dem Vater in weiterer Folge auf, die Söhne zur Durchsetzung des Beschlusses unverzüglich zum Haushalt der Mutter zu bringen, und drohte Ordnungsstrafen an (ON 114).
[12] Mit weiteren Beschlüssen (ON 118, 125 und 134) verhängte es (die zuvor angedrohten) Ordnungsstrafen in Höhe von insgesamt 13.000 EUR (500 EUR, 1.500 EUR, 2.000 EUR, 2.500 EUR, 3.000 EUR und 3.500 EUR) wegen Nichtbefolgung und trug dem Vater zuletzt überdies auf (ON 134, Pkt 4.), sämtliche Ausweise, persönlichen Dokumente sowie das Vermögen der beiden Söhne an die Mutter herauszugeben, wobei es diesem Beschluss vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zuerkannte.
[13] Die Ablehnung des Erstgerichts durch den Vater blieb erfolglos.
[14] Die Familien- und Jugendgerichtshilfe sah in ihrer (nach dem Beschluss des Erstgerichts eingelangten) aufgrund von Gesprächen (nur) mit den Eltern erstatteten Stellungnahme vom 7. 12. 2022 die schulische Entwicklung der Buben durch deren „Schulabsentismus“ als gefährdet an; es bestehe darüber hinaus das Risiko einer sozialen Isolation.
[15] Mit Aktenvermerk vom 19./20. 12. 2022 hielt das Erstgericht telefonische Angaben der Leiterin der Kinder- und Jugendhilfe zur ablehnenden Haltung der Söhne gegenüber der Mutter fest. Eine Gefährdung der Kinder liege (zwar) wegen des fehlenden Schulbesuchs und der Kariesprobleme (des jüngeren Sohnes) vor, ein akutes Risiko dürfte jedoch nicht bestehen; eine zwingende Übersiedlung zur Mutter und somit eine Abnahme scheine nicht sinnvoll und würde nicht dem Kindeswohl entsprechen.
[16] Am 23. 12.2022 langten Briefe der Söhne ein, in denen sie klar äußerten, nicht zur Mutter zu wollen und Angst vor ihr zu haben (ON 151).
[17] Das Rekursgericht gab den Rekursen des Vaters nur teilweise, nämlich in Ansehung der (über die ersten beiden hinausgehenden) Ordnungsstrafen in Höhe von insgesamt 11.000 EUR (ON 125 und ON 134) Folge. Im Übrigen, also in Ansehung der Übertragung der vorläufigen Obsorge an die Mutter, der Aufforderung die Söhne unverzüglich zum Haushalt der Mutter zu bringen, deren Ausweise, persönlichen Dokumente sowie Vermögen herauszugeben, und hinsichtlich der Verhängung von Ordnungsstrafen in Höhe von 500 EUR und 1.500 EUR, bestätigte es die Beschlüsse.
[18] Es verneinte die vom Vater geltend gemachte Nichtigkeit und Mangelhaftigkeit des erstgerichtlichen Verfahrens. Dessen gegenüber der Schulbehörde vertretene Haltung (die Söhne bewegten sich „in den Lebensbereichen Bildung, Gesundheit und Familienfürsorge als Vereinsmitglied [...] einzig und ausschließlich im Rechtsraum des österreichischen Vereinsrechts“ und seien „nicht mehr als Kind im Sinn des § 1 SchPflG anzusehen“) wertete es als Ausdruck dafür, dass der Vater nicht gewillt sei, sich im Bereich der Bildung der beiden Söhne an behördliche Auflagen zu halten, ziehe er doch Argumente heran, die mit der geltenden Gesetzeslage eindeutig nicht in Einklang gebracht werden könnten. Der Vater stehe dem Recht der schulpflichtigen Kinder auf Bildung in Form des Schulbesuchs entgegen, was als Erziehungsnotstand gewertet werden könne. Die Söhne hätten zwar ihre ablehnende Haltung gegenüber der Mutter deponiert, weil sich aber ein objektivierbarer und zwingender Nachweis für die nicht näher konkretisierten Behauptungen zu psychischer und physischer Misshandlung aus dem Akt nicht ergeben habe, falle die Prognose (für eine positive Entwicklung der Kinder) hinsichtlich der schulischen Förderung sowie der sozialen Integration bei der Mutter wesentlich besser aus als beim Vater.
[19] Der Vater begehrt in seinem außerordentlichen Revisionsrekurs die Zulassung der „Revision“, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof, die Abänderung der Entscheidung dahin, dass seinem „Antrag entsprochen“ werde und „in jedem Fall“ die Feststellung, dass die Erklärung der Mutter im (schul-)verwaltungsrechtlichen Verfahren rechtswidrig gewesen sei. Mit seinen Eventualanträgen zielt er vorrangig auf die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge und nachgeordnet auf die Aufhebung der Beschlüsse und die Zurückverweisung der Rechtssache in die zweite bzw die erste Instanz ab.
[20] Da der älteste Sohn L* schon im November 2021 die selbständige Verfahrensfähigkeit gemäß § 104 Abs 1 AußStrG erlangt hat, waren ihm die Rekursentscheidung und der Revisionsrekurs zuzustellen, zumal die für ihn bestellte Kinderbeiständin (an die eine Zustellung erfolgt war) weder Verfahrenshandlungen noch rechtsgeschäftliche Vertretungen für das Kind vornehmen kann (Deixler/Hübner in Rechberger/Klicka, AußStrG3 § 104a Rz 3). Er beteiligte sich nicht am Revisionsrekursverfahren.
[21] Die Mutter beantragt in der ihr im Verfahren betreffend die Söhne freigestellten, rechtzeitig eingebrachten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs (wegen des Vorliegens einer bloßen Einzelfallentscheidung) als nicht zulässig zurückzuweisen bzw als „unberechtigt abzuweisen“.
Rechtliche Beurteilung
[22] Der Revisionsrekurs des Vaters ist im Verfahren über die Obsorge der Tochter mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig, jedoch im Verfahren über die Obsorge der Söhne zulässig und (in der Hauptsache) auch berechtigt.
I. Zum Antrag auf Durchführung einer Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof:
[23] Der Antrag auf Durchführung einer Revisionsrekursverhandlung ist abzuweisen, weil der Oberste Gerichtshof auch im Verfahren außer Streitsachen nicht Tatsachen‑, sondern ausschließlich Rechtsinstanz ist. Beweisaufnahmen oder Ergänzungen haben vor dem Obersten Gerichtshof nicht stattzufinden. Parteien haben in ihren Rechtsmittelschriftsätzen und Gegenschriften ausreichend Gelegenheit zur Darlegung ihres Rechtsstandpunkts (vgl RS0043689 [T4]; zuletzt 7 Ob 35/22f [Rz 3]).
II. Feststellung der Rechtswidrigkeit einer „Erklärung“ der Mutter:
[24] Der Oberste Gerichtshof wird als Rechtsmittelgericht tätig. Für das vom Vater im Rahmen seiner Rechtsmittelanträge gestellte (aber unzulässige) Begehren, mit Beschluss im Pflegschaftsverfahren seiner Kinder festzustellen, dass bestimmte Erklärungen der Mutter „in den verwaltungsrechtlichen Verfahren betreffend die Abmeldung vom häuslichen Unterricht […] nach zivilrechtlichen Gesichtspunkten rechtswidrig“ erfolgte, fehlt jede gesetzliche Grundlage.
III. Verfahren hinsichtlich der Tochter:
[25] Dass oder warum in der Bestätigung der Übertragung der Obsorge für die Tochter allein an die Mutter eine Entscheidung liegen sollte, anlässlich deren eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG zu lösen wäre, legt der Revisionsrekurs, der sich vordringlich mit dem unterbliebenen Schulbesuch der Söhne und den Gründen dafür befasst, nicht dar.
IV. Verfahren hinsichtlich der Söhne:
1. Unterbliebene Befragung der 15- und 13‑jährigen Kinder
[26] 1.1. Der Vater macht an mehreren Stellen in seinem Rechtsmittel geltend, dass die Rechte seiner Söhne, die wiederholt und klar geäußert hätten, bei ihm bleiben zu wollen, im Verfahren nicht ausreichend gewahrt worden seien. Für die auf Basis einer ungenügenden Sachverhaltsgrundlage gefällte Entscheidung fehle es an einer Prognose, wie sich die Unterbringung der Söhne bei der Mutter auf die Kinder auswirken werde. Die dabei notwendige Interessensabwägung sei vom Rekursgericht unberücksichtigt geblieben. Die Entscheidung greife durch den Wohnsitzwechsel massiv in deren Leben ein und könne ihnen mehr schaden als nutzen. Seine Söhne hätten vor einer so weitreichenden Entscheidung gehört werden müssen, womit „Verfahrensgarantien verletzt“ worden seien.
[27] Damit spricht er einen Verstoß gegen § 105 Abs 1 AußStrG an.
[28] 1.2. Gemäß § 105 Abs 1 AußStrG hat das Gericht Minderjährige in Verfahren über Pflege und Erziehung oder die persönlichen Kontakte persönlich zu hören (vgl auch Art 4 Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern).
[29] Unter welchen Voraussetzungen auf die Befragung des Kindes verzichtet werden kann, ergibt sich unmittelbar aus § 105 Abs 2 AußStrG selbst, der auch einer ungebührlichen Verfahrensverzögerung vorbeugen soll (3 Ob 186/05g; 2 Ob 19/11z [ErwGr 4.]). Nur aus den dort genannten zwei Gründen – soweit durch die Befragung oder durch einen damit verbundenen Aufschub der Verfügung das Wohl des Minderjährigen gefährdet wäre oder im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit des Minderjährigen offenbar eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten ist – kann die Befragung überhaupt unterbleiben.
[30] Eine Befragung nicht durch das Gericht, sondern durch den Kinder- und Jugendhilfeträger, die Familiengerichtshilfe, durch Einrichtungen der Jugendgerichtshilfe oder in anderer geeigneter Weise, etwa durch Sachverständige, kann zulässig sein, wenn der Minderjährige das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, wenn dies seine Entwicklung oder sein Gesundheitszustand erfordert oder wenn sonst eine Äußerung der ernsthaften und unbeeinflussten Meinung des Minderjährigen nicht zu erwarten ist.
[31] 1.3. Liegen diese Voraussetzungen aber nicht vor, kann die Unterlassung der persönlichen Befragung des Minderjährigen einen wesentlichen Mangel darstellen, der (selbst bei Verneinung durch das Rekursgericht) zur Wahrung des Kindeswohls ausnahmsweise auch noch im Verfahren dritter Instanz aufgegriffen werden kann (RS0050037 [T4]; RS0030748 [T2, T18]; vgl 10 Ob 58/09s; 3 Ob 79/14k [ErwGr 1.1.] 2 Ob 4/23m [ErwGr 1.2.]).
[32] 1.4. Das Rekursgericht hat wegen einer „auf der Hand liegenden“ akuten Gefährdung des Kindeswohls durch das Verhalten des Vaters die Einvernahme der Söhne als entbehrlich angesehen.
[33] Der erkennende Senat stimmt mit dem Rekursgericht insoweit überein, als die vom Vater (auch noch im Revisionsrekurs) umfangreich dargestellten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen bestimmte gesetzliche Bestimmungen über die Schulpflicht und die Externistenprüfung (die der Vater als Grund für das Nichtablegen der Externistenprüfung durch seine Söhne anführt) weder zu teilen sind noch Anlass für eine Anrufung des Verfassungsgerichtshofs bieten (vgl VfGH 10. 3. 2015, E 1993/2014, VfSlg 19.958/2015; 6. 3. 2019, G 377/2018, VfSlg 20.311/2019; 29. 11. 2022, E 2766/2022). Obwohl nach seinen Angaben im Revisionsrekurs seine Söhne – wenigstens mittlerweile – die Schule besuchen, scheint der Vater noch immer in seinem verfehlten Standpunkt verhaftet, man müsse sich an diese Gesetze nicht halten. Soweit der Vater die Entscheidung seiner Söhne, weder in die Schule zu gehen noch die Externistenprüfungen zu absolvieren, akzeptiert (hat) und dies auch noch unterstützt(e), fördert(e) er nicht nur eine für die geistige und seelische Entwicklung schädliche Einstellung und Verhaltensweise der Kinder, sondern ist (war) sogar deren Wurzel (vgl 3 Ob 122/21v [Rz 11]). Offensichtlich erkennt er nicht, dass er mit seiner Haltung das Recht der Kinder auf Bildung verletzt(e) und ihr Wohl gefährdet(e).
[34] Schon in der Entscheidung 2 Ob 136/18s hat der Oberste Gerichtshof erläutert, dass das Recht der Kinder auf Bildung nach Art 2 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK (vgl auch § 138 Z 11 ABGB) eine Abwägung zwischen den Interessen der Eltern, ihre Erziehungsmethoden und ihre Weltanschauung durchzusetzen, gegenüber dem Recht des Kindes auf eine ordentliche Ausbildung und dem Anspruch des Staates, seinen Bürgern die Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen zu ermöglichen, verlangt, gleichzeitig aber sicherzustellen ist, dass die Kinder jenes Rüstzeug erhalten, das sie benötigen, um den später an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden (2 Ob 136/18s [ErwGr 3.1.]). Nach § 138 Z 4 ABGB gehört zum Kindeswohl auch die Förderung der Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes, die ohne Pflichtschulabschluss massiv eingeschränkt sind. Der Nachweis darüber ist elementar für ein ansonsten erheblich beeinträchtigtes und den Kindern erschwertes berufliches Fortkommen.
[35] Auch wenn die Kinder (wie im Revisionrekurs – von der Revisionsrekursbeantwortung unbeanstandet geblieben – behauptet wird) nun die Pflichtschule besuchen sollten, hatte sich der Vater weder an die (im Vergleich) zum Wohl seiner Kinder eingegangenen Verpflichtungen gehalten noch sich dem mittlerweile rechtskräftigen Bescheid (mit dem der häusliche Unterricht untersagt wurde) gebeugt. Dass die Vorinstanzen ob dieser Haltung des Vaters von einer Gefährdung des Kindeswohls (zumindest im Bereich der schulischen Bildung) ausgingen und (damals) die Prognose fällten, er werde seinen Standpunkt dazu nicht ändern, ist nicht zu beanstanden.
[36] Gleiches gilt für die Überlegung des Rekursgerichts, die bloße Verlagerung der Obsorge in Teilbereichen (Ausbildung der beiden Söhne) auf die Mutter sei nicht sinnvoll, weil angesichts der Absehbarkeit der fehlenden Unterstützung durch den Vater diese weder faktisch noch rechtlich die Möglichkeit habe, den Schulbesuch der Kinder tatsächlich durchzusetzen.
[37] 1.5. Dem Rekursgericht ist aber nicht darin beizupflichten, dass die Gefährdung des Kindeswohls im Bereich (Aus-)Bildung und soziale Integration das Abstehen von der Einvernahme der beiden 13 bzw 15 Jahre alten Kinder rechtfertigen konnte.
[38] Bei akuter Gefährdung des Wohls des Kindes kann zwar im Einzelfall das Bedürfnis nach einer möglichst raschen Entscheidung das Interesse des Minderjährigen, seinen Standpunkt darzulegen, überwiegen. Grundsätzlich gilt die Verfahrensbestimmung des § 105 AußStrG aber auch im Provisorialverfahren (vgl 2 Ob 19/11z [ErwGr 4.]).
[39] Es mag zutreffen, dass die vorliegende Konstellation durch die besonderen Einzelheiten des konkreten Falls geprägt ist. Allerdings kann auch im Einzelfall eine Korrektur geboten sein, wenn dies der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit dient, wobei in der vorliegenden Konstellation dem Alter der Kinder besonderes Gewicht zukommt.
[40] Anders als in den zu 2 Ob 4/23m (knapp Fünfjährige) und 4 Ob 42/21m (Achtjähriger) entschiedenen Fällen, in denen die unterbliebene Einvernahme im Rahmen einer Entscheidung über die (betreffend 4 Ob 42/21m: vorläufige) Obsorge noch als vertretbar angesehen wurde – wobei aber ohnehin auch in dem zuletzt genannten Beschluss der Hinweis erteilt wurde, dass die Anhörung des Minderjährigen bereits vom Erstgericht vorzunehmen oder zu veranlassen gewesen wäre (4 Ob 42/21m [Rz 3]) – kann über die Einvernahme der hier (auch im Zeitpunkt der Beschlussfassung des Erstgerichts) schon 15 bzw 13 Jahre alten Kinder nicht mehr hinweggegangen werden, zumal mit der Änderung (auch) der vorläufigen Obsorgeverhältnisse, die grundsätzlich nur unter Anlegung eines strengen Maßstabs (RS0048699) und nur als äußerste Notmaßnahme angeordnet werden darf (RS0047841 [T10, T15]), ein Wechsel der gesamten Lebensverhältnisse der Söhne verbunden wäre, die seit geraumer Zeit Besuchskontakte mit der (in der Stadt wohnenden) Mutter verweigern.
[41] 1.6. Das Ausmaß der Gefährdung des Kindeswohls (und der davon abhängigen Dringlichkeit der Entscheidung) war(en) hier mit den Auswirkungen des Beschlusses auf die Kinder (Änderung ihrer Lebensverhältnisse) und deren Recht, vom Gericht angehört zu werden, abzuwägen. Dabei war auch die Frage zu lösen, inwieweit eine ernsthafte und unbeeinflusste Meinung der Minderjährigen (nicht) zu erwarten war.
[42] Mittels § 105 AußStrG soll vor der Beschlussfassung über das Kind berührende Maßnahmen – auch wenn der Wunsch des Kindes nicht allein den Ausschlag geben kann – dessen Wille als Verfahrensergebnis in eine alle maßgebenden Umstände berücksichtigende Entscheidung einbezogen werden (3 Ob 122/21v [Rz 10] mwN) und einem mündigen Kind „womöglich“ nicht gegen seinen (eben auch zu erkundenden) Willen die Erziehung durch einen Elternteil aufgezwungen werden (RS0048818). Durch die Befragung soll auch vermieden werden, dass der Eindruck entsteht, es werde – wie über Objekte – über den Kopf eines Minderjährigen hinweg entschieden. Hier tritt hinzu, dass der älteste (selbständig verfahrensfähige) Sohn mit seinem Antrag deutlich zu erkennen gegeben hat, dass er vom Gericht als Person (und Partei) wahrgenommen werden will.
[43] 1.7. Der selbständig verfahrensfähige L* hat in seinem (einen Tag vor seinem 15. Geburtstag verfassten) Antrag vom 2. 11. 2022 ausdrücklich begehrt, die alleinige Obsorge für ihn seinem Vater zu übertragen. Er hat sich darin gegen einen Wechsel des Wohnorts ausgesprochen (er habe alles, was er brauche, seine Tiere, viel Natur, Freunde etc). Zudem hat er geäußert, er werde von seiner Mutter oft psychisch und manchmal physisch attackiert. Diese – die Mutter ablehnende – Haltung hat er in einem weiteren Schreiben (eingelangt während des Rekursverfahrens [am 23. 12. 2022]) wiederholt und mitgeteilt, er habe vor seiner Mutter Angst, sie misshandle ihn sowohl psychisch als auch physisch; er werde auf keinen Fall zu seiner Mutter gehen und bei ihr wohnen. Ein ähnliches Schreiben wurde auch von seinem Bruder unterfertigt (ON 151).
[44] 1.8. Von L* wurde damit aber nicht nur (schon vor dem erstgerichtlichen Beschluss) ein eindeutiger dem Wohnsitzwechsel entgegenstehender Wille geäußert, sondern er legte zudem Angst vor der Mutter aufgrund (angeblicher) physischer und psychischer Attacken gegenüber dem Gericht dar, ohne dass dem nachgegangen worden wäre oder dass das im Zeitpunkt der Entscheidung des Erstgerichts schon 15 Jahre alte Kind (oder dessen 13-jähriger Bruder) angehört worden wäre.
[45] Die mit dem Unterbleiben des Schulbesuchs verbundene Gefährdung des Wohls der Minderjährigen ist im vorliegenden Fall nicht als so dringlich einzustufen, dass sie nicht den geringsten – etwa durch eine Einvernahme der Kinder verursachten – Aufschub geduldet hätte. Die Mutter hatte schon im Jänner 2022 moniert, dass die Söhne ohne ihr Einverständnis oder ihre Zustimmung von der Schule abgemeldet worden seien. Im September 2022 wies sie darauf hin, dass die Söhne die vorgeschriebene Externistenprüfung auf Drängen des Vaters nicht absolviert hätten. Auch wenn trotz des sich steigernden Konflikts zwischen den Eltern (ex ante) durch den Vergleichsschluss Mitte Oktober der Eindruck entstanden sein konnte, deren Schwierigkeiten ließen sich einvernehmlich regeln, wäre zwischen dem (das Abstehen des Vaters vom Vergleich beinhaltenden) Antrag der Mutter vom 24. 10. 2022 und dem Beschluss vom 9. 11. 2022 die Einvernahme der Kinder geboten gewesen. Allenfalls hätte sich die Beschlussfassung noch um einen kurzen Zeitraum im Vergleich dazu, dass die Kinder (zumindest) seit ungefähr einem Jahr die Schule nicht besucht hatten, verlängert. Weder lag daher eine so akute Dringlichkeit vor, dass die Entscheidung sofort ohne Befragung zu fassen war, noch konnte deren Ergebnis vorgegriffen werden.
[46] Selbst wenn im Allgemeinen zutreffen wird, dass im Bereich der schulischen Erziehung (der vom Vater hier auch noch unterstützten) Meinungsäußerung von Kindern, nicht in die Schule gehen zu wollen, prima vista kein besonderes Gewicht zukommen kann, ließe sich daraus nicht der Schluss ziehen, dass den Minderjährigen auch hinsichtlich der von L* in seinem Antrag geäußerten Vorwürfe psychischer und physischer Attacken keine Verständnisfähigkeit zukäme und es nicht – schon wegen der Verlagerung ihres Umfelds durch die Provisorialentscheidung – der Erforschung von deren (wahrer) Meinung (und Bedenken) bedurft hätte.
[47] 1.9. Aufgabe des Gerichts wäre es gewesen, im Rahmen der Befragung zu erkunden, welche Meinung die beiden Söhne vertreten und ob diese auf Basis von Fakten – oder vom Vater beeinflusst – gebildet wurde. Ohne deren Einvernahme kann eine solche Würdigung nicht stattfinden.
[48] Der durch die unterbliebene Einvernahme der Kinder bewirkte Mangel muss zur Aufhebung der Entscheidung führen (vgl 7 Ob 95/02z; 3 Ob 186/05g; 10 Ob 58/09s; Beck in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG2 § 105 Rz 34).
[49] Erst nach Befragung der Kinder kann deren Sicht einbezogen und eine mangelfreie Entscheidung gefällt werden. Sollten die gegen die Mutter erhobenen Vorwürfe nicht zutreffen (und der Wunsch der Kinder, beim Vater bleiben zu wollen, bloß darauf beruhen, dass diese vom Vater beeinflusst, die Schule nicht besuchen wollen), stünden einer vorläufigen Übertragung der Obsorge alleine an die Mutter nicht mehr die Bedenken einer sonstigen Gefährdung des Kindeswohls durch diese bei Wechsel zu ihr entgegen. Dass grundsätzlich mit der Verlagerung des Aufenthalts gewisse Schwierigkeiten einhergehen, käme dann im Vergleich zu den nachteiligen Folgen des Unterbleibens der schulischen Bildung – ohne Hinzutreten weiterer Umstände – im Regelfall keine maßgebliche Bedeutung zu.
[50] 2. Angemerkt sei, dass die Befragung durch das Gericht weder in einer Tagsatzung noch sonst als förmliche Einvernahme erfolgen muss. Sie kann vielmehr gemäß § 20 AußStrG außerhalb der mündlichen Verhandlung stattfinden und ohne Beisein der Eltern oder deren Vertreten durchgeführt werden (vgl Beck in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG2 § 105 Rz 21). Wiewohl die Elternteil(e) daher zur Anhörung des Minderjährigen nicht (zwingend) geladen werden müssen, trifft sie (hier: den Vater) die verfahrensrechtliche Pflicht, das Kind auf Anordnung des Gerichts zur Anhörung stellig zu machen (vgl 2 Ob 19/11z [ErwGr 5.]).
[51] 3. Beiden Elternteilen ist überdies ihre Verpflichtung in Erinnerung zu rufen, einer unberechtigten Ablehnung des persönlichen Kontakts zum anderen Elternteil durch das Kind positiv und aktiv entgegenzuwirken (RS0047942; RS0047996). Der Vater hat über die Abstandnahme von einer negativen Beeinflussung des Kindes hinaus alles ihm Zumutbare zu unternehmen, um in aktiver Weise dem anderen Elternteil den persönlichen Verkehr mit dem Kind selbst gegen dessen Willen zu ermöglichen. Es wird daher nicht ausreichen, etwa die beiden älteren Söhne (bloß) zur Kontaktausübung zur Mutter zu bringen, sondern müsste sich der Vater bemühen, Widerständen der Söhne aktiv entgegenzutreten (vgl 2 Ob 19/11z [ErwGr 5.]).
4. Ausschluss der vorläufigen Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit:
[52] 4.1. Während nach § 44 Abs 1 AußStrG einem Beschluss (grundsätzlich) nur dann vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zukommt, wenn ihm diese Wirkungen vom Gericht (vorläufig) zuerkannt werden, ist dies nach § 107 Abs 2 im (Sonder-)Fall des Beschlusses über die vorläufige Einräumung der Obsorge und der Ausübung des Rechts auf persönlichen Kontakt (ex lege) regelmäßig der Fall, sofern das Gericht diese nicht ausschließt. § 107 Abs 2 AußStrG macht damit die vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit von Provisorialentscheidungen zur Grundregel, lässt aber Ausnahmen davon durch Ausspruch des Ausschlusses dieser Wirkungen zu.
[53] Diese „Umkehrung“ der Wirkungen der vorläufigen Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit (ohne Ausspruch des Ausschlusses) bedeutet im Zusammenhang mit der in § 107 Abs 2 AußStrG enthaltenen Anordnung, es gelte „im Übrigen“ § 44 AußStrG „sinngemäß“, zweierlei:
[54] Zum einen bleibt – sofern eben diese Wirkungen vom Gericht nicht (ausdrücklich) ausgeschlossen wurden – die (zugestellte) Provisorialentscheidung bis zum Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung über die Sache, auch wenn der Beschluss inzwischen aufgehoben oder durch einen anderen Beschluss ersetzt wurde, vorläufig verbindlich und vollstreckbar (vgl § 44 Satz 2 AußStrG).
[55] Zum anderen können vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit auch noch später ausgeschlossen werden. Es soll nämlich nach § 44 Abs 1 AußStrG zur Vermeidung erheblicher Nachteile – nach Vorlage des Rechtsmittels durch das Rechtsmittelgericht – die (erstgerichtliche) „Entscheidung über die (im Regelfall notwendige) Zuerkennung“ geändert werden können. Wurden vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit im Fall einer Provisorialentscheidung aber nicht ausgeschlossen, kann die „Abänderung“ dieser Wirkungen durch das Rechtsmittelgericht nur dadurch erreicht werden, dass diese (nun) mit der Rechtsmittelentscheidung ausgeschlossen werden.
[56] 4.2. Eine Veränderung des Aufenthalts der Söhne vor neuerlicher Beschlussfassung auf Basis eines verbreiterten Verfahrens würde der erst zu fällenden Entscheidung vorgreifen und die Gefahr erheblicher Nachteile der Kinder bergen. Deswegen ist die (ansonsten gegebene) Möglichkeit, die Entscheidungen der Vorinstanzen trotz Aufhebung zu vollziehen, auszuschließen.
5. Beugestrafen:
[57] Der Zweck der verhängten Ordnungsstrafen als Beugemittel liegt darin, einer Anordnung des Gerichts in Zukunft zum Durchbruch zu verhelfen (RS0007310 [insb T8]; vgl auch RS0007203; Pimmer in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 79 Rz 29 f; Albiez in Schneider/Verweijen, AußStrG § 79 Rz 8; Klicka/Rechberger in Rechberger/Klicka, AußStrG3 § 79 Rz 3).
[58] Wird ein Beschluss über die Übertragung der vorläufigen Obsorge aufgehoben und dessen vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit ausgeschlossen, kann diese Entscheidung auch nicht Grundlage für die Verhängung von Beugestrafen sein.
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