OGH 2Ob136/18s

OGH2Ob136/18s25.9.2018

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj J* L*, geboren am * 2005, über die Revisionsrekurse 1.) der Mutter DI S* H* und des Vaters DI R* L*, vertreten durch Dr. Michael Hasenöhrl, Rechtsanwalt in Wien, und 2.) des Kinder- und Jugendhilfeträgers Magistrat der Stadt Wien, Wiener Kinder- und Jugendhilfe – Soziale Arbeit für Familien, Bezirke *, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 22. Mai 2018, GZ 44 R 191/18s‑137, womit infolge Rekurses der Eltern der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 26. März 2018, GZ 1 Ps 104/15h‑132, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E122837

 

Spruch:

A. Den Revisionsrekursen wird nicht Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird mit der Maßgabe bestätigt, dass er zu lauten hat:

„1. Die Obsorge für den mj J* wird den Eltern im Bereich der Pflege und Erziehung in schulischen Angelegenheiten und damit auch der Vertretung in diesem Bereich vorläufig entzogen und in diesem Umfang dem Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen.

2. Den Eltern wird aufgetragen, den Kinder- und Jugendhilfeträger bei der Erfüllung seiner Verpflichtung, die gemessen am Alter von J* bestehenden Wissenslücken zu beseitigen und für die entsprechenden Nachweise (Externistenprüfungen) bis zum Pflichtschulabschluss zu sorgen, zu unterstützen und alles zu unterlassen, was dies behindern könnte.“

B. Der Antrag der Eltern, der Oberste Gerichtshof möge aussprechen, dass dem angefochtenen Beschluss keine sofortige Wirksamkeit und Vollstreckbarkeit zukomme, wird zurückgewiesen.

 

Begründung:

Zu A.:

Der minderjährige J* L* (in der Folge „Sohn“), geboren am * 2005, ist der eheliche Sohn der DI S* H* und des DI R* L*. Den Eltern kommt die gemeinsame Obsorge zu.

Der Sohn lebt mit seinem um drei Jahre jüngeren Bruder und den Eltern im gemeinsamen Haushalt. Die Familie wohnt in einer 80 m² großen Mietwohnung und hat einen Gemeinschaftsgarten. Der Vater ist selbstständiger Architekt und ist in seiner Zeitgestaltung selbstbestimmt. Die Mutter war früher als Architektin tätig, arbeitet jetzt in ihrem „Malort“ und ist ebenfalls zeitlich flexibel.

Nach der Geburt des Sohnes beschäftigten sich die Eltern mit Pädagogik und Erziehung. Nach ihren Vorstellungen sollen sich Kinder in ihrer eigenen Zeit Dinge bzw „die Welt“ aneignen können. Sie sollen nur beobachtet und wertfrei begleitet, also weder gelobt noch kritisiert werden. Die Eltern halten Spielen für die beste Methode um zu lernen, weil es vor allem aus eigenem Interesse erfolge. Lerninhalte würden sich dadurch tiefer verankern. Die Eltern sind davon überzeugt, dass sich Kinder bzw überhaupt Menschen aus eigenem Interesse und aus eigener Begeisterung so engagieren, dass sie einen Beruf erlernen oder studieren könnten. Dabei müsse man den Kindern viel Freiraum einräumen, ihnen Vertrauen entgegen bringen und beobachten, wo deren Wollen und Begeisterung liege. Die Eltern glauben, dass sich auf diese Weise Kinder das Wissen aneignen würden, das in der Schule vermittelt wird.

Die Eltern schlossen sich 2013 mit weiteren Familien zu einer Initiative mit dem Ziel zusammen, als Alternative zum öffentlichen Schulsystem die Möglichkeit zu schaffen, schulpflichtige Kinder entsprechend der Pädagogik „Freilernen“ zu begleiten und von einem Schulbesuch an einer öffentlichen oder mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schule befreit zu sein. Im Rahmen dieser Initiative bestehen auch Gespräche mit dem Stadtschulrat für Wien bzw sonstigen Schulbehörden. Die Familie trifft sich regelmäßig mit anderen Kindern, die teils ebenfalls „Freilerner“ sind, teils aber auch die Schule besuchen.

Als der Sohn eineinhalb Jahre alt war, besuchten sie mit ihm eine „Emmi-Pikler-Spielgruppe“, wo den Kindern unstrukturierte Materialien mit dem Ziel zur Verfügung gestellt werden zu beobachten, wie die Kinder mit diesen Materialien umgehen, wobei kein konkretes Ziel angestrebt wird.

Der Sohn besuchte keinen Kindergarten, weil kein Kindergarten gefunden werden konnte, der mit der Philosophie bzw Pädagogik der Eltern zusammenpasste. Die Eltern meldeten ihn vom verpflichtenden Kindergartenjahr ab und betreuten ihn zu Hause.

Ab der Schulpflicht wurde er zum häuslichen Unterricht abgemeldet. Er besuchte niemals eine Schule, sondern wurde und wird von den Eltern zu Hause betreut und unterrichtet. In den ersten beiden Schuljahren legte er die gesetzlich vorgesehene Externistenprüfung mit Erfolg ab.

Auch für die 3. Schulstufe wurde er zum häuslichen Unterricht abgemeldet. Der Wiener Stadtschulrat nahm mit Schreiben vom 21. 6. 2013 diese Abmeldung zur Kenntnis. In diesem Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass vor Schulschluss erneut eine Externistenprüfung nachzuweisen sei. Die Externistenprüfung für die 3. Schulstufe (Schuljahr 2013/2014) legte der Sohn nicht ab, weil die Eltern die Form der Externistenprüfung im Widerspruch zu ihrer eigenen Erziehungspädagogik sehen und daher ablehnen. Auch später trat er zu keiner Externistenprüfung mehr an.

Die Eltern wurden mit Schreiben vom 11. 7. 2014 aufgefordert, die Externistenprüfung bis zum 1. 9. 2014 nachzuweisen, eine weitere Mahnung zur Vorlage des Jahreszeugnisses erfolgte mit Schreiben vom 3. 9. 2014. Da die Eltern dieser Aufforderung nicht nachkamen, wurde mit Bescheid (ohne Datum) die Teilnahme am häuslichen Unterricht für das Schuljahr 2014/2015 für den Sohn untersagt und angeordnet, dass dieser seine Schulpflicht im Schuljahr 2014/2015 auf der 3. Schulstufe an einer öffentlichen oder mit dem Öffentlichkeitsrecht auf Dauer ausgestatteten Schule zu erfüllen habe.

Ab dem Schuljahr 2015/2016 meldeten ihn die Eltern auch nicht mehr zum häuslichen Unterricht ab, weil das dafür vorgesehene Formular die Ablegung der Externistenprüfung vorsieht.

Seit 2014 liefen und laufen diverse Verwaltungs‑(gerichts‑)verfahren bis zum Verwaltungsgerichtshof gegen die Eltern wegen der Verletzung der Schulpflicht des Sohnes. Gegen die Mutter wurden mehrfach Geldstrafen (einmal 160 EUR, einmal 280 EUR, einmal in nicht festgestellter Höhe) wegen Verletzung der Schulpflicht verhängt. Nach erfolgloser Beschwerde bezahlte die Mutter die Geldstrafe von 160 EUR, das Verfahren über die Geldstrafe von 280 EUR ist noch nicht beendet, das dritte Strafverfahren wurde über Einspruch der Mutter eingestellt.

Die Eltern wechseln einander täglich mit der (Erwerbs‑)Arbeit und der Kinderbetreuung ab. Zunächst findet ein gemeinsames Frühstück statt. Dann wird der Haushalt unter Beteiligung der Kinder erledigt. In der Folge „geht jeder Einzelne seinen Dingen nach“.

Klassischer Unterricht in der Form, dass aus Büchern oder sonstigen Lehrmitteln gelernt würde, findet nicht statt. Die Eltern arbeiten mit dem Sohn den für jede Schulstufe vorgesehenen Lehrplan nicht durch, antworten jedoch auf seine Fragen.

Die Kinder lernen, indem sie Wünsche äußern und dann gemeinsam mit den Eltern Kurse suchen. So hat der Sohn einen Töpferkurs und einen Kurs bei der Freiwilligen Feuerwehr besucht. Rechnen wird etwa durch „Geschäftsmann spielen“ oder durch den Verkauf von Eintrittskarten für „Zaubershows“ gelernt. Schreiben wird zB durch Anfertigung von Briefen erlernt. In der Familie wird mit den Kindern regelmäßig gekocht. Durch viele Brett- und Sachspiele werden Sachinhalte vermittelt, etwa in welchen Ländern welche Tiere leben oder wo sich diese Länder befinden. Manche Fertigkeiten wie Messen oder Gartenarbeiten erlernt der Sohn beim Bau eines Holzhauses im Garten. Der Sohn beschäftigt sich auch regelmäßig mit dem Computer, konstruiert dort geometrische Figuren und erfindet einfache Computerspiele. Er interessiert sich für Gitarre und spielt damit, textet und lernt Noten. Er ist sprachlich versiert und erfindet stringente und nachvollziehbare Geschichten.

In Arbeitsmappen werden Unternehmungen, Tätigkeiten und Aktivitäten der Kinder dokumentiert und festgehalten. Der Sohn hat viele verschiedene Interessensgebiete und wird dabei teils von den Eltern, teils von anderen Personen unterstützt (zB beim Töpfern). In vielen Bereichen, etwa beim Arbeiten mit dem Computer, Programmieren und Fotografieren, hat er ein breites Fachwissen und auch ein handwerkliches Geschick und ist dabei in seiner Entwicklung überdurchschnittlich. So baute er einen Roboter, dem er Befehle erteilen kann. Er beschäftigt sich auch intensiv mit Lötbausätzen.

Dem Sohn werden bzw wurden regelmäßig Bücher vorgelesen und er las auch selbst Bücher zu unterschiedlichsten Themen wie Vulkane, Regenwald, Weltall, Burgen, Feuerwehr und vieles mehr. Museen, Theater und Ausstellungen werden regelmäßig besucht. Einmal pro Woche besucht er einen Theaterkurs und trifft sich wöchentlich mit Freunden zum Theaterspielen.

Er kann sich gut ausdrücken. Er ist ein offenes, freundliches, glückliches und zufriedenes Kind, das in seinem Erleben und Verhalten keine Auffälligkeiten und Defizite aufweist. Er ist emotional sehr gut entwickelt und weist ein ausgeprägtes Empathievermögen auf, er verfügt über gute Sozialkompetenzen. Er kann sich gut selbst beschäftigen und mit sich alleine sein. Er hat ein großes soziales Netzwerk und verbringt viel Zeit in Gruppen. Er hat zu seinem Bruder eine gute Geschwisterbeziehung.

Würde der Sohn das wünschen, würden ihm die Eltern den Schulbesuch ermöglichen. Gegen seinen Willen würden sie den Schulbesuch allerdings nie durchsetzen und dafür auch Verwaltungsstrafen in Kauf nehmen. Diesbezügliche Anordnungen durch den Stadtschulrat werden gegen den Willen des Sohnes nicht befolgt. Die Eltern besprechen diesen Umstand immer wieder mit ihrem Sohn, vor allem auch im Rahmen der diversen anhängigen Verfahren. Der Sohn will sich in der bisherigen Form bilden, weil er meint, in der Schule würde er nicht „in der Fülle, was er alles kann“, gesehen. Er hat Angst vor Veränderungen, insbesondere wenn ihm die vertraute Art des Lernens genommen würde und er eine Regelschule besuchen müsste. Dass sich die Eltern bewusst für das „Freilernen“ und gegen eine Regelbeschulung entschieden haben, hat er von klein auf vermittelt bekommen. Eine aktuelle Suggestion des Sohnes durch die Eltern ist nicht gegeben. Da die Form des „Freilernens“ in Österreich rechtlich nicht anerkannt ist, vermitteln die Eltern dem Sohn in gewisser Weise die Einstellung, man müsse sich nicht an die Gesetze halten. Die Eltern gehen hier aber nicht dogmatisch und abwertend vor, sodass die Haltung der Eltern beim Sohn keinen inadäquaten Widerstand gegen Vorschriften, Rechte und Normen hervorgerufen hat.

Der Sohn wird von den Eltern liebevoll betreut und gut versorgt und in manchen Teilbereichen überdurchschnittlich gefördert. Die Eltern haben nicht nur die momentanen Bedürfnisse des Kindes, sondern eine langfristige gute Entwicklung im Blick. Sie können die Neigungen des Sohnes erkennen und fördern. Sie loben und unterstützen ihn und zeigen ihm auch Wege, mit Frustrationen umzugehen. Sie sorgen sehr dafür, dass er Verantwortung übernimmt und Selbstständigkeit erlangt. Sie geben ihm Orientierung und Strukturen und setzen Regeln und Grenzen. Sie sind davon überzeugt, dass er innerhalb kurzer Zeit bestehende Wissenslücken schließen wird können und Entwicklungsrückstände aufholen wird. Ihnen ist ein wertschätzender und demokratischer Umgang sehr wichtig, sie verstärken ihre Kinder positiv. Sie nehmen die Bedürfnisse ihrer Kinder sensibel wahr, und befriedigen diese und stellen ihre eigenen Bedürfnisse jenen der Kinder hintan. Sie zeigen keine Hinweise auf pathologische Ausprägungen in ihren Persönlichkeiten, sie weisen keine überdurchschnittlichen Belastungen oder Unsicherheiten auf. Sie sind greifbar, reflektiert und offen.

Der Sohn hat im Bereich der Kulturtechniken, die die Schule vermittelt, große Lücken und ist diesbezüglich ungefähr auf dem Stand der 2. Klasse Volksschule. Auch im Bereich des Allgemeinwissens weist er im Vergleich mit Gleichaltrigen deutliche Rückstände auf. Er hat allerdings ein weit höheres spezifisches Wissen in anderen Bereichen.

Er schreibt überdurchschnittlich langsam in Druckbuchstaben. Die Wörter schreibt er nach einer langen Nachdenkphase richtig. Er kann sinnerfassend und flüssig lesen, wobei er bei schwierigen Wörtern und einer ungewöhnlichen Sprache langsamer wird.

Englische Wörter beherrscht er nur, wenn er diese für seine eigenen Interessen benötigt. Ein Gefühl für diese Sprache, Freude am Erlernen der Sprache sowie grammatikalische Grundregeln fehlen. Grundsätzlich ist er am Erlernen der englischen Sprache interessiert.

Vernetztes Wissen bezüglich Geschichte, Physik, Biologie und Geographie ist nur nach individuellen Interessen vorhanden.

Mathematische Grundfunktionen beherrscht er (Mengenbegriff, Addition, Subtraktion, leichte Divisionen sowie leicht nachvollziehbare Rechenaufgaben in Zusammenhang mit diesen Grundfunktionen). Mal-Reihen kann er nicht, weil er diese bislang nicht benötigt hat. Ihm fehlt das Selbstverständnis, dass mathematische Grundkenntnisse Basis für weitere mathematische Bezüge darstellen. In Mathematik besteht derzeit ein Nachholbedarf von vier Jahren Stoff. Das Nachholen wäre ein großer Aufwand, wahrscheinlich wird er diese Herausforderung – die er derzeit auch nicht abschätzen kann – nicht wahrnehmen.

Ebenso wird er sich die Kulturtechniken des Schreibens, Rechnens und vernetzten Denkens ohne aktive, systematische Heranführung wahrscheinlich nicht selbstständig aneignen. Ohne aktive Vermittlung wird er selbstständig aufeinanderfolgende Lerninhalte nicht nachholen können.

Regeln (wie Grammatik oder auch mathematisches Wissen ua) müssen an Kinder aktiv herangetragen werden. Bei der derzeit bestehenden Ausbildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr müsste der Sohn den Lernstoff von vielen Schuljahren komprimiert nachholen. Wenn sich ein Kind – außer es ist hochbegabt – Wissen selbstbestimmt aneignen soll, würde es länger als die in der Schule dafür vorgesehene Zeit benötigen.

Aufgrund seiner kognitiven Ausstattung, seiner Auffassungsgabe und seinen guten Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistungen wäre es dem Sohn zuzutrauen, den Lernstoff der gesamten Volksschule aufzuholen und in eine erste Klasse Unterstufe eingestuft zu werden, vermutlich würden sich allerdings im Umgang mit einer neuen schulischen Lernform große Probleme auftun. Der Besuch einer Regelschule mit klassischem Unterricht würde ihn überfordern, den Verlust von Lebensqualität, Begeisterungsfähigkeit und Freude am Lernen bedeuten und wahrscheinlich seinen Widerstand hervorrufen. Der Besuch einer Regelschule würde auch das gesamte familiäre System belasten und sich auf die einzelnen familiären Beziehungen negativ auswirken.

Der Sohn scheint bei Eigeninteresse sehr schnell und gezielt zu lernen. Sollte er in der Zukunft einen Beruf erlernen, der exakt seinen aufgebauten Fähigkeiten und Fertigkeiten entspricht, wird er kein Problem haben, in eine gesicherte Zukunft zu gehen. Voraussetzung dafür ist allerdings auch, dass er in diesem Fall kein Wissen nachweisen muss, das er nicht erlangt hat. Er hat aufgrund seiner kognitiven Ausstattung und seiner Persönlichkeit (Durchhaltevermögen, Disziplin, Begeisterungsfähigkeit, Selbstständigkeit, Eigeninitiative, Offenheit, Empathiefähigkeit etc) eine gute Voraussetzung, seinen Weg zu gehen.

Mit Schreiben vom 27. 7. 2015 beantragte der Stadtschulrat für Wien beim Erstgericht, den Eltern gemäß § 181 Abs 2 ABGB die Obsorge für den Sohn zu entziehen. Die Eltern verhinderten die Erfüllung der Schulpflicht und lehnten auch die Externistenprüfungen ab. Gespräche mit den Eltern hätten nichts gebracht. Es bestehe die Sorge, dass der Sohn durch die verweigernde Haltung der Eltern einen großen Bildungsverlust erleide. Dadurch sei das Wohl des Sohnes beeinträchtigt.

Die Eltern sprachen sich gegen die Entziehung oder Einschränkung der Obsorge aus und brachten vor, Bildung finde nicht nur in der Schule statt, sondern überall. Die Familie agiere im Rahmen der „Initiative Freilernen 2013“ mit weiteren sieben Familien und verfolge einen anderen Weg der Wissens- und Bildungsvermittlung, als dies von staatlichen Behörden vorgesehen sei. Um dem Kind seine Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten, werde Bildung auch in Hinkunft im Rahmen des „Freilernens“ durch die Familie wahrgenommen. Die in den Schulgesetzen vorgesehenen Externistenprüfungen widersprächen der Philosophie des „Freilernens“. Es entspreche auch dem freien Willen des Sohnes, sich weiterhin frei und selbstbestimmt Wissen anzueignen und in dieser Form Bildung wahrzunehmen. Der vom Stadtschulrat Wien befürchtete Bildungsverlust sei nicht eingetreten, durch den beschrittenen Weg sei das Kind vielmehr in der Lage, seine innewohnenden Fähigkeiten und Talente auszubauen, was im Fall eines erzwungenen Schulbesuchs in dem umfassenden Umfang nicht möglich wäre. Das Wohl des Sohnes sei keinesfalls gefährdet.

Das Erstgericht schränkte mit Beschluss vom 26. 3. 2018 die den Eltern zustehende gemeinsame Obsorge (Recht und Pflicht zur Pflege und Erziehung, gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung) dahingehend ein, dass es den Eltern auftrug, dafür Sorge zu tragen, dass der Sohn bis zur Beendigung seiner Schulpflicht jeweils am Ende eines Schuljahrs die in den Schulunterrichtsgesetzen bei Teilnahme am häuslichen Unterricht vorgesehene Externistenprüfung ablegt, und dies jeweils bis längstens 31. 7. eines jeden Jahres dem Gericht nachzuweisen.

Das Erstgericht traf die zusammengefasst wiedergegebenen Feststellungen und führte rechtlich aus, da die Eltern der Anordnung des Schulbesuchs des Sohnes zur Erfüllung der Schulpflicht nicht nachkämen und sein Ausbildungsstand in den durch die Schule vermittelten Kulturtechniken große Lücken aufweise, sei das Wohl des Sohnes konkret gefährdet. Die Absolvierung der Schulpflicht solle einem Kind ermöglichen, bestimmte Fertigkeiten zu erlangen, die insbesondere in weiterer Zukunft auch die Ausübung eines Berufs ermöglichten. Für die Ausübung diverser Berufe bzw für eine fortführende Ausbildung sei ein Schulabschluss bzw die Absolvierung der Schulpflicht erforderlich. Durch das Verhalten der Eltern bestehe die Gefahr, dass dem Sohn Ausbildungsmöglichkeiten bzw Berufschancen verwehrt blieben, zumal nicht darauf vertraut werden könne, dass der Sohn von sich aus diese Defizite durch Nachlernen beseitigen werde. Der häusliche Unterricht werde nicht mit den vorgesehenen Lehrplänen abgehalten. Die verfügte Einschränkung der Obsorge der Eltern sei daher notwendig. Von der Anordnung des Regelschulbesuchs sei aufgrund der zu erwartenden und festgestellten negativen Folgen für den Sohn und das Familiensystem abzusehen.

Das von den Eltern angerufene Rekursgericht änderte den erstgerichtlichen Beschluss dahingehend ab, dass es beiden Eltern die Obsorge für den Sohn im Bereich der Vertretung in schulischen Angelegenheiten vorläufig entzog und in diesem Umfang dem Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger übertrug. Im Übrigen, nämlich hinsichtlich einer endgültigen Einschränkung der Obsorge im Bereich der Vertretung des Minderjährigen in schulischen Angelegenheiten, hob das Rekursgericht den erstinstanzlichen Beschluss auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu.

Das Rekursgericht führte in rechtlicher Hinsicht aus, das österreichische Schulsystem sehe eine grundsätzlich obligatorische Schulpflicht und als Ausnahme die Möglichkeit eines konkreten Erfordernissen genügenden häuslichen Unterrichts mit der Verpflichtung zur Ablegung von Externistenprüfungen vor und sei menschenrechts- und verfassungskonform. Die inhaltliche Ausrichtung und Gestaltung dieser Ausbildung einschließlich ihrer Durchsetzung falle nicht in die Kompetenz der Zivilgerichte. Diesen obliege jedoch die Prüfung, ob und inwieweit ein Eingriff in die Rechte von Obsorgeberechtigten angeordnet werden dürfe. Eine Fortführung der bisherigen Methode des Wissenserwerbs, die zum Entstehen der Wissenslücken des Sohnes geführt habe, berge die Gefahr, dass sich die Lücken nur weiter vergrößern würden und eine Behebung umso aufwändiger und länger würde, je später gegengesteuert werde. Die dringend notwendige Verbesserung der Situation könne daher nur durch ein Abgehen vom „Freilernen“ erreicht werden. Die Eltern seien nicht gewillt, selbst aktiv zu werden und Handlungen zu setzen, das Kind zeitnahe beim Aufholen dieser Defizite zu fördern. Dieses Verhalten gefährde das Wohl des Sohnes. Es gehe weder um die abstrakten Erfolge bestimmter Unterrichtssysteme noch um die Zukunftsaussichten von Schulabgängern in unterschiedlichen Ausbildungsschienen. Sich durch Nichtabmeldung zum häuslichen Unterricht und durch Nichtanmelden und -antreten zu dieser Prüfung der Schulpflicht zu entziehen, bedeute nicht nur eine Negierung des staatlichen Regelungs- und Eingriffrechts in schulischen Angelegenheiten. Die Eltern griffen damit auch in das Recht des Sohnes auf Bildung ein, da sie ihm den Zugang zu bestehenden Bildungseinrichtungen und die Möglichkeit, aus der erhaltenen Ausbildung durch deren offizielle Anerkennung Gewinn zu ziehen, verweigerten oder zumindest erschwerten, da er seine Rückstände später nachholen werde müssen, um eine Teilnahme an einem höheren Ausbildungssystem zu erreichen. Ohne nachgewiesenen Schulabschluss bestehe am Arbeitsmarkt wohl nur eine Vermittelbarkeit für Hilfstätigkeiten. Auch ein Zugang zu höherer Bildung (Universität, Fachhochschule, außeruniversitäre Ausbildungs- und Lehrgänge, jeweils national wie international) sei an Nachweise gebunden, die hierfür erforderlichen Qualifikationen zu besitzen. Aus den Feststellungen ergebe sich nicht, dass für den Sohn der Regelunterricht derzeit unumgänglich sei. Es stehe auch nicht fest, ob, in welcher Weise und in welchem Zeitrahmen die fehlenden Externistenprüfungen (noch) nachgeholt werden könnten. Schon im Hinblick auf die bereits bestandenen Externistenprüfungen könne nicht davon ausgegangen werden, dass er diese weiteren Prüfungen nicht auch erfolgreich bestehen werde. Damit wäre aber ein Besuch einer „Regelschule“ durchaus vermeidbar, soweit die übrigen Regeln, insbesondere zum häuslichen Unterricht, beachtet würden. Die Anordnung des Erstgerichts reiche aber nicht aus. Die Verpflichtung zur Externistenprüfung habe schon bisher bestanden, sei von den Eltern aber ignoriert worden. Es bedürfe eines teilweisen Entzugs der Pflege und Erziehung des Sohnes im Bereich der schulischen Angelegenheiten, da nur so eine rechtlich durchsetzbare und damit wirksame Handhabe bestehe, der dargestellten Gefährdung des Wohles des Sohnes entgegen zu wirken. Die erforderliche, aktive Wissensvermittlung zur Behebung der bestehenden Wissenslücken setze eine wirksame Vertretungsmacht des oder der Dritten voraus. Der Sohn bleibe weiterhin grundsätzlich in der Pflege und Erziehung seiner Eltern und damit in seinem gewohnten sozialen Umfeld. Die Eltern könnten ihn weiterhin im Rahmen außerschulischer Maßnahmen in seinen Anlagen und Fähigkeiten fördern. Sie verlören aber das Recht, ihn im Innenverhältnis nach ihrem Konzept des „Freilernens“ zu pflegen und zu erziehen und ihn im Außenverhältnis wirksam zu vertreten. Ein endgültiger Teilentzug der Obsorge erfordere die Einbeziehung auch der in § 178 ABGB angeführten Personen. Nähere Erhebungen zu den Großelternteilen seien nötig, weshalb nur eine vorläufige Entscheidung möglich sei und betreffend eine endgültige Obsorgemaßnahme das Verfahren ergänzungsbedürftig sei.

Gegen den abändernden Teil des Beschlusses des Rekursgerichts richten sich die außerordentlichen Revisionsrekurse einerseits der Eltern, andererseits des Kinder- und Jugendhilfeträgers (KJHT).

Die Eltern beantragen die ersatzlose Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Weiters beantragten sie, ihrem Rechtsmittel aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Der KJHT stellt nur einen Aufhebungsantrag.

Der Oberste Gerichtshof hat den Rechtsmittelwerbern die Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung zum jeweiligen Revisionsrekurs der Gegenseite freigestellt.

Die Eltern haben keine Revisionsrekursbeantwortung eingebracht, der KJHT äußerte sich dahingehend, der Argumentation der Eltern zu folgen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revisionsrekurse sind zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie sind aber nicht berechtigt.

Die Eltern machen geltend, die Anordnung des Rekursgerichts ergebe keinen Sinn, wenn ihnen als Eltern die Obsorge nur im Bereich der Vertretung, nicht aber auch im Bereich der Pflege und Erziehung und Vermögensverwaltung entzogen werde. Die Entscheidung des Rekursgerichts sei nichtig, weil der Spruch mit der Begründung und diese mit sich selbst in Widerspruch stehe. Die Anordnung sei voreilig, unsachgemäß und unrechtmäßig. Als gelinderes Mittel sei eine Unterstützung der Erziehung über das Jugendamt möglich. Aus den Stellungnahmen des Jugendamts und den pädagogischen und psychologischen Gutachten ergebe sich, dass das „Freilernen“ dem Wohl des Sohnes entspreche. Gerügt werden weiters (sekundäre) Feststellungsmängel.

Der KJHT bringt vor, er sei vor der Anordnung des Rekursgerichts nicht gehört worden. Die verfügte Obsorgebeschränkung sei ungeeignet, da der KJHT keine faktischen Möglichkeiten habe, das Ziel des Beschlusses zu erreichen. Den Eltern seien etwa keine Auflagen erteilt worden. Die Übernahme von Obsorgepflichten im Außenverhältnis, also beispielsweise die Anhaltung zum Schulbesuch bzw zum Ablegen relevanter Prüfungen, könne vom KJHT nur dann durchgeführt werden, wenn das Kind im Rahmen der „vollen Erziehung“ betreut werde.

Hierzu wurde erwogen:

1. Vorbemerkungen

1.1. Mit der gerügten Nichtigkeit sprechen die Eltern offenbar § 57 Z 1 AußStrG an, der im Wesentlichen § 477 Abs 1 Z 9 ZPO entspricht (RIS‑Justiz RS0121710). Nach der zu dieser Bestimmung ergangenen Rechtsprechung ist mit „Widerspruch“ nicht eine Inkonsistenz in den Gründen oder zwischen Spruch und Gründen gemeint (RIS‑Justiz RS0042133 [T5]), sondern eine solche innerhalb des Spruchs. Der geltend gemachte wesentliche Verfahrensmangel fällt daher schon von vornherein nicht in den Anwendungsbereich von § 57 Z 1 AußStrG. Die Fassung des angefochtenen Beschlusses ist auch durchaus so, dass er überprüft werden kann. Zum Spannungsverhältnis zwischen Spruch und Begründung des angefochtenen Beschlusses folgen Ausführungen unter Punkt 5.

1.2. Die von den Eltern gerügten Feststellungsmängel liegen nicht vor, weil das Erstgericht die von den Eltern zitierten Passagen aus den Gutachten im Rahmen seiner überaus ausführlichen Feststellungen ohnehin berücksichtigt hat.

1.3. Ein allfälliger Verstoß gegen das rechtliche Gehör des KJHT wäre insofern nicht relevant, als sich aus dem Vorbringen des KJHT im Revisionsrekurs keine Notwendigkeit ergibt, weitere Feststellungen zu treffen oder Umstände mit den Parteien zu erörtern.

2. Zu den rechtlichen Grundlagen der Schulpflicht

2.1. Die allgemeine Schulpflicht beginnt mit jenem 1. September, der auf die Vollendung des sechsten Lebensjahres des Kindes folgt (§ 2 Abs 1 SchulpflichtG 1985) und dauert neun Jahre (Art 14 Abs 7a B‑VG, § 3 SchulpflichtG 1985).

Die allgemeine Schulpflicht ist gemäß § 5 Abs 1 SchulpflichtG 1985 durch den Besuch von allgemein bildenden Pflichtschulen sowie von mittleren oder höheren Schulen (einschließlich der land- und forstwirtschaftlichen Fachschulen und der höheren land- und forstwirtschaftlichen Lehranstalten) zu erfüllen.

Nach § 11 Abs 2 SchulpflichtG 1985 kann die Schulpflicht auch durch die Teilnahme an häuslichem Unterricht erfüllt werden, sofern der Unterricht jenem an einer im § 5 SchulpflichtG 1985 genannten Schule mindestens gleichwertig ist.

Die Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten haben die Teilnahme ihres Kindes an einem in § 11 Abs 2 SchulpflichtG 1985 genannten Unterricht dem Landesschulrat jeweils vor Beginn des Schuljahres anzuzeigen. Der Landesschulrat kann die Teilnahme an einem solchen Unterricht untersagen, wenn mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass die geforderte Gleichwertigkeit des Unterrichts nicht gegeben ist (§ 11 Abs 3 SchulpflichtG 1985).

Der zureichende Erfolg eines häuslichen Unterrichts ist jährlich vor Schulschluss durch eine Prüfung an einer im § 5 SchulpflichtG 1985 genannten entsprechenden Schule nachzuweisen, soweit auch die Schüler dieser Schulen am Ende des Schuljahres beurteilt werden. Wird ein solcher Nachweis nicht erbracht, so hat der Landesschulrat (zwingend: VwGH 2000/10/0187; Wieser, Handbuch des österreichischen Schulrechts I [2010] 190; ders, Schulrecht I [2010] 185) anzuordnen, dass das Kind seine Schulpflicht im Sinne des § 5 SchulpflichtG 1985 zu erfüllen hat (§ 11 Abs 4 SchulpflichtG 1985).

2.2. Nach § 32 Abs 1 SchulunterrichtsG ist der Besuch einer allgemeinbildenden Pflichtschule – von in den Folgeabsätzen normierten Ausnahmen abgesehen – längstens bis zum Ende des Unterrichtsjahres des auf die Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht folgenden Schuljahres zulässig.

Das Pflichtschulabschluss-Prüfungs-G (BGBl I 2012/72) regelt den Erwerb der mit dem erfolgreichen Abschluss der 8. Schulstufe bzw der erfolgreichen Erfüllung der ersten acht Jahre der allgemeinen Schulpflicht verbundenen Berechtigungen durch Jugendliche und Erwachsene, welche den Pflichtschulabschluss nicht im Rahmen des Schulbesuches oder sonst durch Externistenprüfungen erlangt haben (§ 1 Abs 1 leg cit). Zur Pflichtschulabschluss-Prüfung sind Personen auf Antrag zuzulassen, die am Tag des Antretens zur Pflichtschulabschluss-Prüfung oder zur ersten Teilprüfung derselben das 16. Lebensjahr vollendet und die 8. Schulstufe nach dem Lehrplan der Hauptschule, der Neuen Mittelschule, der Polytechnischen Schule oder der 4. oder einer höheren Klasse der allgemein bildenden höheren Schule nicht oder nicht erfolgreich abgeschlossen haben (§ 2 Abs 1 leg cit).

2.3. Die Eltern bezweifeln in ihrem Revisionsrekurs nicht mehr, dass die hier zusammengefasst dargestellte Rechtslage (auch unter dem Blickwinkel der EMRK) verfassungskonform ist. Dazu können die Eltern auf die insoweit zutreffenden Ausführungen des Rekursgerichts in seinem Aufhebungsbeschluss vom 20. 9. 2016 verwiesen werden.

2.4. Die Eltern haben jahrelang beharrlich gegen § 11 Abs 2 bis 4 SchulpflichtG 1985 verstoßen, weil sie dem Sohn ab der dritten Schulstufe einen häuslichen Unterricht, der dem an einer öffentlichen Schule gleichwertig ist, nicht geboten haben, ihn nicht zur Externistenprüfung antreten haben lassen und ihn ab dem Schuljahr 2015/2016 auch nicht mehr zum häuslichen Unterricht abgemeldet haben.

3. Gefährdung des Kindeswohls

Der erkennende Senat teilt die Beurteilung der Vorinstanzen, dass die Eltern das Wohl des Sohnes gefährden. Die Eltern können im Wesentlichen auf die zutreffenden Ausführungen der Vorinstanzen verwiesen werden.

Zusammengefasst besteht die Gefährdung des Kindeswohls in folgenden Umständen:

3.1. Durch die Verweigerung des Schulbesuchs ist der Sohn zunächst im Recht auf Bildung (Art 2 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK) verletzt (vgl auch § 138 Z 11 ABGB, wonach zum Kindeswohl auch die Wahrung der Rechte des Kindes gehört). Dieses Recht wird nämlich als Recht des Kindes verstanden (Wildhaber in Pabel/Schmahl, IntKommMRK Art 2 1. ZPMRK Rz 11 f mwN). Es verlangt eine Abwägung zwischen den Interessen der Eltern, ihre Erziehungsmethoden und ihre Weltanschauung durchzusetzen, gegenüber dem Recht des Kinders auf eine ordentliche Ausbildung und dem Anspruch des Staates, seinen Bürgern die Teilhabe an gesellschaftlichen Institutionen zu ermöglichen, gleichzeitig aber sicherzustellen, dass die Kinder jenes Rüstzeug erhalten, das sie benötigen, um den später an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden (vgl Wildhaber Art 2 1. ZPMRK Rz 10; Frowein in Frowein/Peukert, EMRK3 Art 2 1. ZPMRK Rz 7, 9 f; zu Art 14 GRC auch Blauensteiner/Kalteis in Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art 14 Rz 15).

3.2. Dadurch, dass der Sohn keine Nachweise über Schulabschlüsse erworben hat und – sollte die Erziehung so weitergehen – aller Voraussicht nach auch bis zu seiner Volljährigkeit weder einen Pflichtschulabschluss noch ein Maturazeugnis erwerben wird, ist sein berufliches Fortkommen erheblich beeinträchtigt. Es ist zwar nach den Feststellungen nicht ausgeschlossen, dass er einen Beruf erlernen kann, der exakt seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten entspricht. Jedoch gilt dies nur, wenn er kein Wissen nachweisen muss, das er nicht erlangt hat. Es ist allgemein und daher auch den Gerichten bekannt (weshalb in der Unterlassung der Einholung eines berufskundlichen Gutachtens durch das Rekursgericht auch kein Verfahrensmangel liegt), dass ohne Bildungsnachweise unselbstständige Berufe – von bloßen, schlecht bezahlten Hilfstätigkeiten abgesehen – nicht oder nur sehr schwer zu erlangen sind. Jedoch sind auch für viele selbstständige Berufe Bildungsnachweise erforderlich. Für die meisten Berufe, für die der aufgeweckte Sohn die nötigen Begabungen mitbringt, wird ihm daher mangels jeglicher Bildungsnachweise voraussichtlich der Weg verschlossen bleiben, wenn an der bisherigen Erziehung im Bereich der Bildung nichts geändert wird. Schon die realistische Möglichkeit einer derart schwerwiegenden Beschränkung seiner beruflichen Perspektiven gefährdet das Kindeswohl.

Die Eltern meinen, die gesetzliche Definition des Kindeswohls enthalte keinen ausdrücklichen Verweis auf die Schulpflicht oder auf möglichst breite oder „höhere“ Berufsmöglichkeiten, die einer frühen Spezialisierung von Kenntnissen und Fähigkeiten vorzuziehen seien. Nach § 138 Z 4 ABGB gehört aber zum Kindeswohl auch die Förderung der Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes. Wie dargestellt, sind bei Fortdauer des bisherigen Zustandes die künftigen beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten des Sohnes erheblich eingeschränkt, sodass an der Kindeswohlgefährdung nicht zu zweifeln ist (zur Verletzung der Schulpflicht als möglicher „Erziehungsnotstand“ vgl bereits 1 Ob 552/76 SZ 49/38 = RIS‑Justiz RS0063558).

4. Gesetzliche Vorgaben bei Kindeswohlgefährdung

4.1. Gefährden die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes, so hat das Gericht, von wem immer es angerufen wird, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen. Besonders darf das Gericht die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise, auch gesetzlich vorgesehene Einwilligungs- und Zustimmungsrechte, entziehen (§ 181 Abs 1 Satz 1 bis 3 ABGB). Die gänzliche oder teilweise Entziehung der Pflege und Erziehung oder der Verwaltung des Vermögens des Kindes schließt die Entziehung der gesetzlichen Vertretung in dem jeweiligen Bereich mit ein; die gesetzliche Vertretung in diesen Bereichen kann für sich allein entzogen werden, wenn die Eltern oder der betreffende Elternteil ihre übrigen Pflichten erfüllen (§ 181 Abs 3 ABGB).

Durch eine Verfügung nach § 181 ABGB darf das Gericht die Obsorge nur so weit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes nötig ist (§ 182 ABGB).

4.2. Ist das Kindeswohl gefährdet und ist zu erwarten, dass die Gefährdung nur durch Betreuung außerhalb der Familie oder des sonstigen bisherigen Wohnumfeldes abgewendet werden kann, ist Kindern und Jugendlichen volle Erziehung zu gewähren, sofern der Kinder- und Jugendhilfeträger mit der Pflege und Erziehung zur Gänze betraut ist (§ 26 Abs 1 B-KJHG 2013). Volle Erziehung umfasst insbesondere die Betreuung bei nahen Angehörigen, bei Pflegepersonen und in sozialpädagogischen Einrichtungen (§ 26 Abs 2 B-KJHG 2013).

4.3. Das Gericht hat die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls, insbesondere zur Aufrechterhaltung der verlässlichen Kontakte und zur Schaffung von Rechtsklarheit, auch vorläufig einzuräumen oder zu entziehen. Dieser Entscheidung kommt vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu, sofern das Gericht diese nicht ausschließt (§ 107 Abs 2 Satz 1 und 3 AußStrG).

Das Gericht hat die zur Sicherung des Kindeswohls erforderlichen Maßnahmen anzuordnen, soweit dadurch nicht Interessen einer Partei, deren Schutz das Verfahren dient, gefährdet oder Belange der übrigen Parteien unzumutbar beeinträchtigt werden (§ 107 Abs 3 Satz 1 AußStrG).

Im Verfahren über die Obsorge oder die persönlichen Kontakte können angefochtene Beschlüsse auch zu Ungunsten der anfechtenden Partei abgeändert werden, wenn dies das Wohl des betroffenen Minderjährigen verlangt (§ 107 Abs 1 Z 3 AußStrG).

5. Folgerungen

Der erkennende Senat teilt im Wesentlichen die Einschätzung des Rekursgerichts, sodass grundsätzlich auf dessen Ausführungen verwiesen werden kann. Zusammengefasst ergibt sich aus der dargestellten Kindeswohlgefährdung die dringende Notwendigkeit, an der bisherigen Situation etwas zu ändern.

5.1. Die vom Erstgericht angeordnete Maßnahme reicht nicht aus, weil die Eltern ja auch bisher schon nach den zitierten Gesetzesbestimmungen verpflichtet waren, bei fehlendem Schulbesuch für einen entsprechenden häuslichen Unterricht und für die jährliche Ablegung der Externistenprüfung bzw bei Unterlassung derselben für den Regelschulbesuch zu sorgen. Dennoch konnten nicht einmal Geldstrafen die Eltern dazu bewegen, sich gesetzeskonform zu verhalten.

Wie die Eltern selbst erkennen, ist die Entziehung der Obsorge in schulischen Angelegenheiten nur im Bereich der Vertretung nicht ausreichend.

Nach § 160 Abs 1 ABGB umfasst die Pflege des minderjährigen Kindes besonders die Wahrnehmung des körperlichen Wohles und der Gesundheit sowie die unmittelbare Aufsicht, die Erziehung besonders die Entfaltung der körperlichen, geistigen, seelischen und sittlichen Kräfte, die Förderung der Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes sowie dessen Ausbildung in Schule und Beruf.

Da die Eltern in schulischen Belangen die Pflege und Erziehung in einer das Kindeswohl gefährdenden Art ausgeübt haben, ist es notwendig, ihnen insoweit die Obsorge auch im Bereich der Pflege und Erziehung zu entziehen. Wie sich aus der wiedergegebenen Begründung des Rekursgerichts ergibt, war sein Entscheidungswille ohnehin darauf gerichtet, den Eltern in schulischen Belangen (auch) die Pflege und Erziehung entziehen, es hat dies aber nicht im Spruch ausgedrückt. Dies war in Form der ausgesprochenen Maßgabebestätigung nachzuholen.

5.2. Dass die Eltern auch im Bereich der Vermögensverwaltung des Sohnes dessen Wohl gefährdeten bzw dass für die Wahrnehmung der schulischen Angelegenheiten durch den KJHT auch die Übertragung der Vermögensverwaltung an diesen notwendig wäre, hat das Verfahren bisher nicht ergeben. Die Eltern meinen, die Obsorgeübertragung müsste dann auch die Vermögensverwaltung umfassen, wenn etwa Nachhilfe oder Externistenprüfung zu bezahlen wäre. Ihnen ist zu entgegnen, dass diese Zahlungen entweder von den Eltern im Rahmen ihrer Unterhaltspflicht (vgl etwa RIS‑Justiz RS0109908) oder aus dem – allenfalls vorhandenen – Vermögen des Sohnes zu leisten sind (vgl RIS‑Justiz RS0117512 [T5]).

5.3. Die Eltern bezeichnen im Rechtsmittel den Obsorgeentzug durch das Rekursgericht als „voreilig, unsachgemäß und unrechtmäßig“ und meinen, es hätten gelindere Mittel, etwa die Unterstützung der Erziehung oder Aufträge durch das Jugendamt oder das Gericht, angewendet werden müssen, sie könnten sich zu entsprechenden Maßnahmen freiwillig verpflichten und den Lernerfolg dem Gericht nachweisen.

Dem ist entgegenzuhalten, dass die Eltern – wie schon ausgeführt – durch ihr bisheriges Verhalten bewiesen haben, dass sie grundsätzlich nicht bereit sind, sich gesetzeskonform zu verhalten, sodass nicht angenommen werden kann, Beratung, bloße Aufträge des KJHT oder des Gerichts oder Verpflichtungserklärungen der Eltern würden am bisherigen Zustand etwas ändern.

5.4. Andererseits kommt derzeit der vollständige Entzug von Pflege und Erziehung, also die „volle Erziehung“ (§ 26 B‑KJHG 2013) – wie der KJHT sie vorschlägt – nicht in Betracht. Sieht man von den schulischen Angelegenheiten ab, liegt nämlich eine Kindeswohlgefährdung nicht vor. Die Eltern kümmern sich um den Sohn, auch eine mangelhafte Pflege – abgesehen von schulischen Belangen – ist den Eltern nicht vorzuwerfen. Es ist daher derzeit und vor allem im Rahmen der nur vorläufig angeordneten Maßnahme nicht notwendig und wäre überschießend, den Sohn durch die gänzliche Entziehung der elterlichen Obsorge im Rahmen der vollen Erziehung aus seiner gewohnten Umgebung (Wohnen mit den Eltern und dem jüngeren Bruder) zu entfernen.

5.5. Der erkennende Senat verkennt die Einwände und Bedenken des KJHT in dessen Rechtsmittel nicht und ist sich der Schwierigkeit der konkreten Situation durchaus bewusst. Es besteht aber immerhin die Möglichkeit, dass die Eltern – anders als bisher – in Zukunft mit dem KJHT hinsichtlich der schulischen Belange des Sohnes doch kooperieren, wenn ihnen bewusst ist, dass eine weiter verweigernde Haltung letztlich doch zum gänzlichen Entzug der Obsorge im Rahmen der vollen Erziehung führen könnte. In diesem Sinn war den Eltern im Spruch auch die entsprechende Kooperation mit dem KJHT aufzutragen. Welche Maßnahmen letztlich auf Dauer zu treffen sein werden, wird das Erstgericht entsprechend dem Auftrag im Aufhebungsbeschluss des Rekursgerichts im Rahmen der endgültigen Regelung prüfen müssen.

5.6. Dem KJHT ist die juristische Handhabe zu geben, damit er wirksam tätig werden kann. Einer Zustimmung des KJHT zur (teilweisen) Übertragung der Obsorge bedarf es nicht (Hopf in KBB5 § 209 Rz 1 mwN). Festzulegen, welche konkreten Maßnahmen der KJHT im Bereich der ihm übertragenen Obsorge in schulischen Angelegenheiten zu treffen hat, ist hingegen nicht Aufgabe des Gerichts. Nach der Konzeption des Gesetzgebers ist der KJHT die fachlich kompetente Stelle für die Jugendwohlfahrt (vgl § 12 B‑KJHG 2013). An ihm wird es – insbesondere in Absprache mit den Schulbehörden – liegen, für den vorliegenden Fall geeignete Maßnahmen zur notwendigen Beseitigung der bestehenden Defizite zu treffen.

6. Es war somit der angefochtene Beschluss mit der im Spruch ausgedrückten Maßgabe zu bestätigen und den Eltern die notwendige Kooperation mit dem KJHT aufzutragen.

7. Aus dem erstgerichtlichen Akt ergibt sich, dass auch der um drei Jahre jüngere Bruder des Sohnes, der seit vier Jahren schulpflichtig ist, keine Schule besucht. Das Erstgericht wird zu prüfen haben, ob auch beim Bruder Maßnahmen zur Gewährleistung von dessen Kindeswohl nötig sind.

Zu B.:

Da das Rekursgericht nichts anderes ausgesprochen hat, kommt seiner Entscheidung vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu. Im Übrigen gilt § 44 AußStrG sinngemäß (§ 107 Abs 2 Satz 3 und 4 AußStrG).

Gemäß § 44 Abs 2 AußStrG ist gegen Entscheidungen über die vorläufige Verbindlichkeit oder Vollstreckbarkeit ein Rechtsmittel nicht zulässig. Der Rechtsmittelwerber kann in seinem Rechtsmittel gegen den vorläufig wirksamen Beschluss die Abänderung dieser vorläufigen Wirksamkeit nur anregen. Der Antrag ist daher zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0122828).

Dem somit als Anregung zu verstehenden Antrag der Eltern war nicht näherzutreten, weil ihnen keine erheblicheren Nachteile drohten, die bei einem Erfolg ihres Revisionsrekurses nicht beseitigt hätten werden können (§ 44 Abs 1 Satz 3 AußStrG).

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