OGH 7Ob95/02z

OGH7Ob95/02z22.5.2002

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schalich als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller, Dr. Hoch und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Michaela E*****, in Obsorge der Mutter Bernadette E*****, über den Rekurs der Mutter, vertreten durch Winkler-Heinzle, Rechtsanwaltpartnerschaft in Bregenz, gegen den Beschluss des Landesgerichtes Feldkirch als Rekursgericht vom 21. Februar 2002, GZ 1 R 40/02v-8, womit infolge Rekurses der Mutter der Beschluss des Bezirksgerichtes Feldkirch vom 5. Februar 2002, GZ 19 P 11/02t-4, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die Ehe der Eltern der am 30. 6. 1993 geborenen Michaela wurde am 21. 12. 2001 gemäß § 55a EheG einvernehmlich geschieden. Im Scheidungsvergleich kamen die Eltern überein, dass die Obsorge für das Mädchen künftig der Mutter allein zukommen soll; hinsichtlich des Besuchsrechtes des Vaters wurde eine detaillierte Regelung getroffen. Am 15. 1. 2002 ersuchte das Erstgericht (dem die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung des Scheidungsvergleiches obliegt) die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch als zuständigen Jugendwohlfahrtsträger um Information und Befragung des Kindes zu den am 21. 12. 2001 zwischen den Eltern getroffenen Vereinbarungen iSd § 182b AußStrG.

Die Mutter, die vom Jugendwohlfahrtsträger mit dem Kind zu dessen Befragung geladen worden war, beantragte am 1. 2. 2002, die Befragung des Kindes zu unterlassen, da dadurch dessen Wohl gefährdet würde; das Mädchen würde dadurch in einen seiner weiteren Entwicklung abträglichen Loyalitätskonflikt gestürzt werden.

Das Erstgericht wies den Antrag der Mutter ab. Die Vorgangsweise, das Kind durch den zuständigen Jugendwohlfahrtsträger zu den in der Scheidungsfolgenvereinbarung getroffenen Vereinbarungen über die Obsorge und das Besuchsrecht informieren und befragen zu lassen, entspreche § 182b AußStrG, der dem Pflegschaftsgericht zwingend vorschreibe, das Kind zu den Fragen der Obsorge und des Besuchsrechtes anzuhören. Minderjährige, die wie Michaela das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, könnten auch durch den Jugendwohlfahrtsträger gehört werden.

Das von der die ersatzlose Aufhebung des erstgerichtlichen Beschlusses begehrenden Mutter angerufene Rekursgericht gab deren Rechtsmittel insofern Folge, als es den Beschluss des Erstgerichtes aufhob und die Pflegschaftssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwies, wobei es aussprach, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei.

Das Rekursgericht führte aus: Das Gericht habe die im Zuge einer einvernehmlichen Ehescheidung nach § 55a EheG zu treffende Obsorgevereinbarung der Eltern gemäß § 177 Abs 3 ABGB - nach umfassender amtswegiger Prüfung - nur dann zu genehmigen, wenn sie dem Kindeswohl entspreche. Im Zuge des Genehmigungsverfahrens sei das Anhörungsrecht des Minderjährigen iSd § 182b AußStrG zu wahren, das bis zum Inkrafttreten des Kindschaftsrechtes-Änderungsgesetzes 2001 in § 178b ABGB geregelt gewesen sei. § 182b Abs 1 AußStrG trage der vorherrschenden internationalen Tendenz, insbesondere der Rechtsprechung der EMR-Konventionsorgane zur persönlichen Anhörung in Verfahren mit Schwerpunkt im persönlichen Lebensbereich, Rechnung, dass Minderjährige in sie betreffenden Pflegschaftsverfahren möglichst weitgehend gehört und informiert werden sollten. § 182b Abs 1 zweiter Satz AußStrG regle die Durchführung der Befragung, die soweit dies sinnvoll und unter Schonung des Minderjährigen möglich sei - durch das Gericht erfolgen müsse. Erforderlichenfalls könne ein Minderjähriger, der das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet habe, wenn dies seine Entwicklung oder sein Gesundheitszustand erfordere oder wenn sonst eine Äußerung der ernsthaften und unbeeinflussten Meinung des Minderjährigen nicht zu erwarten sei, durch den Jugendwohlfahrtsträger, durch Einrichtungen der Jugendgerichtshilfe oder in anderer geeigneter Weise, etwa durch Sachverständige, befragt werden. In der Regel habe somit eine Befragung auch eines unter 10-jährigen Minderjährigen zu erfolgen. Die Befragung habe nach § 182b Abs 2 AußStrG im Interesse des Schutzes des Minderjährigen zu unterbleiben, wenn dadurch oder durch den damit verbundenen Aufschub der Verfügung das Kindeswohl gefährdet wäre oder im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit offenbar eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten sei. Die Befragung des Minderjährigen entfalle daher gänzlich, wenn die - von wem immer durchgeführte - Befragung als solche oder die durch sie verursachte Entscheidungsverzögerung das Kindeswohl gefährden könnte, ferner wenn eine verwertbare Meinungsäußerung wegen Alter, Entwicklungsgrad oder Gesundheitszustand des Minderjährigen nicht zu erwarten sei. In diesem Sinne sei es zulässig, von der Befragung abzusehen, wenn ausreichend sicher anzunehmen sei, dass die Befragung den betroffenen Minderjährigen in einen seiner weiteren Entwicklung abträglichen Loyalitätskonflikt stürzen würde. Die von der Mutter in diesem Zusammenhang zitierte Rechtsprechung (1 Ob 573/92, JBl 1992, 639) und Lehre (Schwimann in Schwimann2 Rz 2 zu § 178b ABGB), wonach bei Kindern die Befragung nach ihrer Präferenz für einen Elternteil grundsätzlich zu vermeiden sei, beziehe sich auf Art und Durchführung der Befragung. Eine Fragestellung im aufgezeigten Sinne sei grundsätzlich zu vermeiden, soweit dadurch ein der weiteren Entwicklung des Minderjährigen abträglicher schwerer Loyalitätskonflikt ausgelöst werde. Aus der Entscheidung JBl 1992, 639 lasse sich jedoch nicht ableiten, dass entgegen der klaren Regelung des § 182b Abs 1 AußStrG (zuvor § 178b ABGB) im Rahmen des Genehmigungsverfahrens nach § 177 Abs 3 ABGB grundsätzlich von der Befragung eines Minderjährigen (unter 10 Jahren) abzusehen wäre. Im Rahmen der Befragung eines Minderjährigen zur Obsorgeregelung sei auch die direkte Frage, zu welchem Elternteil er wolle, möglich, wenn eine verwertbare Antwort zu erwarten sei. Maßgebliches Kriterium für ein Absehen von der Befragung sei nach dem klaren Wortlaut des § 182b AußStrG - auch im Falle einer einvernehmlichen Ehescheidung nach § 55a EheG - die Gefährdung des Kindeswohles oder die unzureichende Verständnisfähigkeit. Die von der Mutter vertretene Auffassung, der Staat solle sich auch im Bereich der Jugendwohlfahrt nach dem Subsidiaritätsprinzip verhalten und nur dort eingreifen und in Aktion treten, wo dies erforderlich erscheine, sei mit dem Wortlaut des § 182b AußStrG nicht in Einklang zu bringen. Im Sinne des Art 12 Abs 2 der UN-Kinderrechtskonvention sei ein Minderjähriger in dem ihn betreffenden Obsorge- und Besuchsrechtsverfahren zu hören, wobei zwischen der Entscheidung des Pflegschaftsgerichtes über die Obsorgebetrauung bzw Besuchsrechtsregelung und der Genehmigung einer Obsorge- oder Besuchsrechtsregelung der Kindeseltern nach § 177 Abs 3 ABGB nicht zu differenzieren sei. Das Anhörungsrecht des Minderjährigen wäre verletzt, wenn im Fall der einvernehmlichen Scheidung der Ehe der Kindeseltern nach § 55a EheG und der pflegschaftsgerichtlichen Genehmigung der Scheidungsvereinbarung, von der Befragung des Kindes von vornherein, ohne dass die Voraussetzungen nach § 182b Abs 2 AußStrG vorlägen, Abstand genommen würde. Ein solches generelles Absehen von der Befragung des Minderjährigen lasse sich auch nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip begründen. Der Nichteinmischung des Staates in die Familienautonomie stehe hier das Postulat des Schutzes des Schwächeren gegenüber. Das Pflegschaftsgericht habe von Amts wegen zu prüfen, ob es aus den in § 182b Abs 2 AußStrG angeführten Gründen, insbesondere wenn durch die Befragung das Kindeswohl gefährdet wäre, von der Befragung abzusehen habe. Dabei würden freilich Unbehagen, Unwillen und andere auch bei Erwachsenen vorkommende Gefühle nicht ausreichen, um von einer Befragung absehen zu können. Abzusehen sei von der Befragung des Minderjährigen allerdings bei voraussehbarer Gefahr schwerwiegender Störungen seines Gefühllebens, wenn die Befragung den Minderjährigen in schwere seelische Konflikte stürzen würde, die seiner weiteren Entwicklung abträglich seien.

Im vorliegenden Fall habe die Mutter in ihrem Antrag vom 1. 2. 2002 Umstände geltend gemacht, die dazu führen könnten, von der Befragung des Kindes nach § 182b Abs 2 AußStrG abzusehen. Die bloße Behauptung solcher Umstände sei für sich allein jedoch nicht geeignet, von vornherein von der Befragung des Kindes nach § 182b Abs 2 AußStrG abzusehen. Das Pflegschaftsgericht habe in diesem Zusammenhang auch von Amts wegen das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Unterbleiben der Befragung nach § 182b Abs 2 AußStrG zu prüfen. Es sei Aufgabe des Erstgerichtes, die von der Mutter behaupteten Umstände abzuklären (zweckmäßigerweise zunächst durch die Einvernahme der Kindeseltern) und danach zu beurteilen, ob ein Ausnahmefall für das Absehen von der Befragung nach § 182b Abs 2 AußStrG vorliege. Ohne die erforderliche Sachverhaltsergänzung sei eine abschließende Beurteilung, ob von der Befragung des Kindes abzusehen sei, nicht möglich.

Zur Begründung seines Ausspruches der Zulässigkeit des Rekurses an den Obersten Gerichtshof führte das Rekursgericht aus, zur iSd § 14 Abs 1 AußStrG erheblichen Rechtsfrage, ob bei einer Obsorge- und Besuchsregelung im Rahmen der einvernehmlichen Scheidung der Ehe der Eltern nach § 55a EheG die Befragung des Kindes nach § 182b AußStrG im Rahmen des Genehmigungsverfahrens nach § 177 Abs 3 ABGB (allenfalls allein auf Grund der Angaben der Kindeseltern) unterbleiben könne, liege keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes vor.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der Mutter, in dem sie ihre bereits in den vorinstanzlichen Verfahren vertretenen Rechtsansichten, wonach eine Information des Kindes im vorliegenden Fall überflüssig sei und eine Befragung schwere Loyalitätskonflikte, Schuldgefühle und "Vergeltungsängste" beim Kind auslösen könnte, wiederholt. Die Rekurswerberin beantragt, die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinne einer Stattgebung ihres Antrages, die Befragung des Kindes durch den Jugendwohlfahrtsträger zu unterlassen, abzuändern.

Rechtliche Beurteilung

Vorweg ist festzuhalten, dass die Mutter durch die (über ihr, die ersatzlose Behebung des erstinstanzlichen Beschlusses anstrebendes, Rechtsmittel gefällte) Entscheidung des Rekursgerichtes beschwert und daher grundsätzlich rekurslegitimiert ist (vgl RIS-Justiz RS0037615):

ein Rekurs an den Obersten Gerichtshof gegen einen in zweiter Instanz gefassten Aufhebungsbeschluss kann auch von der Partei ergriffen werden, auf deren Rechtsmittel hin die Aufhebung erfolgt ist (Kodek in Rechberger, ZPO2 § 519 Rz 5 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung).

Das Rechtsmittel der Mutter ist allerdings entgegen dem Ausspruch des Rekursgerichtes, an den der Oberste Gerichtshof nicht gebunden ist (§ 508a ZPO iVm § 16 Abs 4 AußStrG) wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage (§ 14 Abs 1 AußStrG) unzulässig.

Gemäß § 510 Abs 3 letzter Satz ZPO (§ 16 Abs 4 AußStrG) kann sich die Zurückweisung eines ordentlichen Rechtsmittels wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken.

Die vom Rekursgericht vorgenommene Interpretation der die Anhörung bzw Befragung des Kindes regelnden Bestimmung des § 182b AußStrG folgt den Gesetzesmaterialien und steht mit der Judikatur zur Vorgängerbestimmung des § 178b ABGB im Einklang (vgl etwa RIS-Justiz RS0048956; EFSlg 87.096; EFSlg 93.197). Diese Vorjudikatur ist im Wesentlichen weiter anwendbar, da die bisher in § 178b ABGB enthaltene Regelung über die Einvernahme Minderjähriger lediglich im Interesse der Rechtsbereinigung und Entflechtung der Gemengelage von materiellem und formellem Recht ins Außerstreitgesetz übernommen, so weit als möglich ausgedehnt und zeitgemäßer formuliert wurde (EB RV 296 BlgNR 21. GP 86f). Dabei wurde in Absatz 2 leg cit der, nach der Terminologie des ABGB Verfahrensbeteiligung (= Parteistellung) kraft materiellen Rechtes bedeutende, Begriff "Anhörung" durch jenen der "Befragung" ersetzt (vgl EB aaO). Wie das Rekursgericht selbst wiederholt zutreffend bemerkt, ist der Inhalt des § 182b klar und eindeutig. Unzweifelhaft ist danach die Anhörung des Kindes in Verfahren über Pflege und Erziehung oder das Besuchsrecht zwingend ("tunlichst") vorzunehmen. Die Befragung darf (nur) aus zwei Gründen unterbleiben, die unter den Begriffen des Kindeswohles und der Verständnisfähigkeit zusammenzufassen sind: Durch die Berücksichtigung der wohlverstandenen Interessen des Minderjährigen ist es zB zulässig, von der Befragung abzusehen, weil ausreichend sicher anzunehmen ist, dass sie das betroffene Kind in einen seiner weiteren Entwicklung abträglichen Loyalitätskonflikt stürzen würde (EB RV 296 BlgNR 21. GP 87). Da dies, ebenso wie der Umstand, dass § 182b AußStrG ua für Obsorge- und Besuchsrechtsregelungen (wie zuvor § 178b ABGB - vgl Schwimann in Schwimann, ABGB2 I, § 178b Rz 1) auch im Rahmen einvernehmlicher Scheidungen Anwendung zu finden hat, klar auf der Hand liegt, ist eine iSd § 14 Abs 1 AußStrG erhebliche Rechtsfrage nicht zu beantworten.

Ausgehend vom klaren Gesetzeswortlaut hat das Rekursgericht zur Feststellung, ob einer der in Abs 2 des § 182b AußStrG genannten Gründe, eine Befragung des Kindes zu unterlassen, vorliegt, eine Verfahrensergänzung durch das Erstgericht angeordnet. Ob diese erforderlich ist, ist einer Nachprüfung durch den Obersten Gerichtshof entzogen: Zweck des Rekurses ist nur die Überprüfung der Rechtsansicht der zweiten Instanz durch den Obersten Gerichtshof; ist die dem Aufhebungsbeschluss zugrundeliegende Rechtsansicht - wie hier - richtig, kann der Oberste Gerichtshof nicht überprüfen, ob die Verfahrensergänzung tatsächlich notwendig ist (Kodek in Rechberger2 Rz 5 zu § 519 mwN; 7 Ob 9/2002b ua).

Mangels der Voraussetzungen des § 14 Abs 1 AußStrG war das Rechtsmittel der Mutter daher zurückzuweisen.

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