OGH 14Os24/23w

OGH14Os24/23w25.4.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 25. April 2023 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger, Dr. Mann, Dr. Setz‑Hummel LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Fitzthum in der Strafsache gegen * B* wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 fünfter Fall, Abs 3, § 148 zweiter Fall StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 127 Hv 100/15d des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0140OS00024.23W.0425.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Grundrechte

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 24. Februar 2020, GZ 127 Hv 100/15d‑1597, wurde * B* – soweit hier von Bedeutung – des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 fünfter Fall, Abs 3, § 148 zweiter Fall StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.

[2] Seine dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wies der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom 2. Juni 2022, GZ 12 Os 128/21x‑16, zurück. Die Akten wurden zur Entscheidung über die Berufungen dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet (§ 285i StPO).

[3] Mit Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 21. Oktober 2022, AZ 32 Bs 273/22i, wurde der Berufung des B* nicht, hingegen jener der Staatsanwaltschaft Folge gegeben und über ihn eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren verhängt. Dabei erkannte das Berufungsgericht eine in der (großteils nicht vom Angeklagten zu vertretenden) überlangen Verfahrensdauer von (bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens) rund 22 Jahren gelegene Verletzung von Art 6 MRK an, bezog sich dabei auch auf die schon mit Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 11. April 2017 (Berger gegen Österreich) festgestellte entsprechende Konventionsverletzung sowie eine weitere Phase behördlicher Inaktivität zwischen Rechtswirksamkeit der Anklageschrift am 29. Juli 2016 und Fällung des erstinstanzlichen Urteils am 24. Februar 2020 und trug dieser Grundrechtsverletzung durch Reduktion der als an sich angemessen erachteten Freiheitsstrafe im Ausmaß von drei Jahren Rechnung (US 6 f).

[4] Noch während anhängigen Hauptverfahrens hatte der EGMR mit dem vom Berufungsgericht berücksichtigten Urteil vom 11. April 2017, Nr 58049/11, Berger/Österreich, in gegenständlicher Rechtssache – soweit hier von Bedeutung – eine Verletzung von Art 6 Abs 1 MRK in Bezug auf die Dauer des Ermittlungsverfahrens festgestellt und dazu insbesonders auf den Zeitraum zwischen der Festnahme des Angeklagten und der Einbringung der Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft (von mehr als neun Jahren und drei Monaten) sowie auf – als exzessiv angesehene – Verzögerungen bei der Bestellung eines geeigneten Sachverständigen (gleichfalls durch die Staatsanwaltschaft), die fast fünf Jahre und sieben Monate in Anspruch nahm, verwiesen (Rz 42 ff).

[5] Einen ausdrücklich nur auf dieses Erkenntnis gestützten Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens „hinsichtlich des rechtskräftigen Urteils zu 127 Hv 100/15d“ wies der Oberste Gerichtshofs mit Beschluss vom 24. Jänner 2023, AZ 14 Os 123/22b, zurück.

[6] Nunmehr begehrt B* gestützt auf den von der Rechtsprechung entwickelten erweiterten Anwendungsbereich des § 363a StPO (RIS‑Justiz RS0122228) die „Erneuerung des Strafverfahrens hinsichtlich des rechtskräftigen Urteils zu 127 Hv 100/15d“ mit der Behauptung einer Verletzung im Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 MRK.

Rechtliche Beurteilung

[7] Für einen – wie hier – nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag, bei dem es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und Art 35 MRK sinngemäß (RIS‑Justiz RS0122737 [T1, T34], RS0128394).

[8] Der Antrag hat – weil die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substantiiert und schlüssig vorträgt in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein (RIS‑Justiz RS0122737 [T6]; Grabenwarter/Pabel, MRK7 § 13 Rz 16) – eine (vom Obersten Gerichtshof sodann selbst zu beurteilende) Grundrechtsverletzung deutlich und bestimmt darzulegen (RIS‑Justiz RS0122737 [T17]) und sich mit der als grundrechtswidrig bezeichneten Entscheidung in allen relevanten Punkten auseinanderzusetzen (RIS‑Justiz RS0124359).

[9] Ferner wird dem Erfordernis der Ausschöpfung des Rechtswegs dann entsprochen, wenn von allen effektiven Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht wurde (vertikale Erschöpfung) und die geltend gemachte Konventionsverletzung zumindest der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften im Instanzenzug vorgebracht wurde (horizontale Erschöpfung; zum Ganzen RIS‑Justiz RS0122737 [T13]).

[10] Die Behandlung eines Erneuerungsantrags bedeutet daher nicht die Überprüfung einer gerichtlichen Entscheidung oder Verfügung nach Art einer zusätzlichen Beschwerde‑ oder Berufungsinstanz, sondern beschränkt sich auf die Prüfung der reklamierten Verletzung eines Rechts nach der MRK oder einem ihrer Zusatzprotokolle (vgl RIS‑Justiz RS0129606 [T2, T3], RS0132365).

[11] Den dargestellten Kriterien wird der Antrag des Verurteilten nicht gerecht.

[12] Soweit er sich inhaltlich primär gegen die Strafzumessung durch das Oberlandesgericht Wien zu AZ 32 Bs 273/22i wendet, weil „sich das Verfahren nach festgestellter Konventionsverletzung – somit für einen Zeitraum von weiteren sechs Jahren – in einem Zustand der Dauerrechtsverletzung“ befunden habe, fehlt es dem Erneuerungswerber an der auch für Erneuerungsanträge gemäß § 363a StPO im erweiterten Anwendungsbereich geltenden Zulässigkeitsvoraussetzung der fortdauernden Opfereigenschaft im Sinn des Art 34 MRK (RIS‑Justiz RS0125374).

[13] Vorauszuschicken ist, dass sich der hier reklamierte, in der unangemessenen Verfahrensdauer liegende, tatsächlich eingetretene Nachteil eines Angeklagten im Stadium des noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens alleine durch eine rasche Prozessbeendigung unter Beachtung des Milderungsgrundes des § 34 Abs 2 StGB ausgleichen lässt, während eine Neudurchführung des Strafverfahrens (im engeren Sinn) die Verfahrensgarantie des Art 6 Abs 1 MRK geradezu konterkarieren würde (RIS‑Justiz RS0116662; Rebisant, WK‑StPO § 363c Rz 157; vgl Grabenwarter/Pabel, MRK7 § 24 Rz 85).

[14] Diesen Grundsätzen entsprechend hat das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht – wie oben dargelegt – nicht nur den vom EGMR festgestellten Konventionsverstoß anerkannt, sondern auch danach eingetretene weitere Verzögerungen berücksichtigt und eine in der (Gesamt‑)Dauer des Verfahrens bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss (vgl dazu RIS‑Justiz RS0124901) gelegene Verletzung von Art 6 MRK festgestellt, welcher ausdrücklich und messbar durch Reduktion der dem Schuld- und Unrechtsgehalt sowie dem sozialen Störwert der Tat an sich entsprechenden Freiheitsstrafe um drei Jahre Rechnung getragen wurde (erneut US 6 f zu AZ 32 Bs 273/22i; RIS‑Justiz RS0114926 [T3]).

[15] Dass dieser durch Sanktionsreduktion effektuierte Ausgleich der Grundrechtsverletzung trotz der überdurchschnittlichen Verfahrensdimension mit internationalen Bezügen offensichtlich unangemessen und damit – auch mit Blick auf die Judikatur der Straßburger Instanzen – nicht ausreichend wäre (Grabenwarter/Pabel, MRK7 § 13 Rz 18 mwN), legt der Erneuerungswerber nicht substantiiert und unter Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Berufungsgerichts dar.

[16] Die Sanktionsfrage betreffende Umstände, die nicht Gegenstand einer Sanktionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 11 StPO) sind, sondern in den Bereich der Berufung fallen, können mit dem innerstaatlich subsidiären Rechtsbehelf eines Erneuerungsantrags ohne vorherige Anrufung des EGMR hinwieder nicht geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0125371; eingehend 11 Os 106/09m, 108/09f; Fabrizy/Kirchbacher, StPO14 § 363a Rz 9).

[17] Genau dies trifft auf die mit Bezug auf das Berufungsurteil des Oberlandesgerichts erhobenen Einwände, wonach die lange Verfahrensdauer nicht zu einer Erhöhung, sondern einer Reduktion des vom Erstgericht festgesetzten Strafausmaßes führen hätte müssen, der Milderungsgrund des § 34 Abs 1 Z 17 StGB zu Unrecht nicht herangezogen und trotz Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen nicht von der Möglichkeit der außerordentlichen Strafmilderung Gebrauch gemacht worden sei, insgesamt daher die Verfahrensdauer und weitere Milderungsgründe mit Blick auf Art 6 MRK nicht angemessen berücksichtigt worden seien, zu.

[18] Die Kritik an den Entscheidungsgründen des Berufungsgerichts, weil es in einem von diesem zitierten Verfahren (12 Os 117/12s) nicht zu einer Erhöhung, sondern einer Reduktion der Strafe gekommen sei, und der Vorwurf, das Berufungsgericht habe die durch die lange Verfahrensdauer bewirkte Einschränkung einer effektiven Verteidigung nicht (ausdrücklich) berücksichtigt, verfehlen ebenso den Bezugspunkt. Über die Inhalte der in grundrechtliche Kritik gezogenen Entscheidungen hinausgehendes Vorbringen in einem Erneuerungsantrag ist unbeachtlich (neuerlich RIS‑Justiz RS0125371).

[19] Sofern sich das unter dem Titel „Verfahrenshistorie, Verfahrensdauer und Milderungsgründe“ erstattete Vorbringen (etwa mit der Kritik am Unterbleiben von beantragten oder amtswegigen Beweisaufnahmen, der Behauptung einer Befangenheit des der Hauptverhandlung beigezogenen Sachverständigen und Einwänden gegen dessen Gutachten, dem Hinweis auf angebliche „große Erinnerungslücken“ und Falschaussagen vernommener Zeugen und der These, aufgrund der langen Verfahrensdauer sei dem Verurteilten eine „sinnvolle Verteidigung“ nur eingeschränkt möglich gewesen und entlastende Beweise [aufgrund der Vernichtung von Urkunden und des Todes von Zeugen] verloren gegangen) gegen das – nach dem Vorgesagten mit Nichtigkeitsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof bekämpfte – schuldig sprechende Ersturteil richten soll, erweist sich der Antrag als unzulässig (Art 35 Abs 1 und Abs 2 lit b erster Fall MRK; RIS‑Justiz RS0122737 [T11, T12]).

[20] Der Kritik am Unterbleiben einer Einstellung des Verfahrens und der Anordnung verfahrensbeschleunigender Maßnahmen im Rahmen vage angesprochener Entscheidungen des Landesgerichts für Strafsachen Wien und des Oberlandesgerichts Wien im Ermittlungsverfahren stehen zudem die Zulassungsvoraussetzungen der Erschöpfung des Instanzenzugs und/oder der Einhaltung der Frist des § 35 Abs 1 MRK entgegen (RIS‑Justiz RS0122737 [insb T2, T4]).

[21] Der Erneuerungsantrag war daher zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 StPO).

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