OGH 13Os31/23t

OGH13Os31/23t19.4.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. April 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner in Gegenwart des Schriftführers Mag. Lung in der Strafsache gegen * N* und andere Angeklagte wegen Verbrechen des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB, AZ 38 Hv 58/22d des Landesgerichts Innsbruck, über die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten * H* gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Beschwerdegericht vom 8. März 2023, AZ 7 Bs 45/23k, (ON 183 der Hv‑Akten) nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0130OS00031.23T.0419.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Grundrechte

 

Spruch:

 

* H* wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

 

Gründe:

[1] Mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 10. Oktober 2022 (ON 153) wurde – soweit hier von Bedeutung – * H* des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt.

[2] Inhaltlich des Schuldspruchs hat er am 24. April 2022 in I* im einverständlichen Zusammenwirken (§ 12 erster Fall StGB) mit drei weiteren männlichen Personen * K*, die wehrlos und wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung infolge Suchtmittelbeeinträchtigung und starker Alkoholisierung unfähig war, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, unter Ausnützung dieses Zustands dadurch missbraucht, dass sie mit ihr den Beischlaf und diesem gleichzusetzende Handlungen vornahmen, indem sie abwechselnd Vaginal-, teils auch Analverkehr an ihr vollzogen, teils überdies Oralverkehr von ihr an sich vornehmen ließen.

[3] Dieses Urteil bekämpfen (unter anderem) der Angeklagte * H* mit Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung sowie die Staatsanwaltschaft mit (zu dessen Nachteil ausgeführter) Berufung. Über diese Rechtsmittel wurde noch nicht entschieden.

[4] Mit der angefochtenen Entscheidung gab das Oberlandesgericht Innsbruck der Beschwerde des Genannten gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 24. Februar 2023 (ON 178) nicht Folge und setzte die (mit Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 7. Juni 2022, AZ 7 Bs 115/22b, [ON 55] verhängte) Untersuchungshaft aus dem Grund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO fort.

Rechtliche Beurteilung

[5] Dagegen richtet sich die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten * H*, die sich gegen die Annahme des zuvor bezeichneten Haftgrundes wendet sowie Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft und deren Substituierbarkeit durch die Anwendung gelinderer Mittel ins Treffen führt.

[6] Die rechtliche Annahme der in § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahr (Prognoseentscheidung) überprüft der Oberste Gerichtshof im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens darauf, ob sie sich angesichts der zugrunde gelegten bestimmten Tatsachen als willkürlich, mit anderen Worten nicht oder nur offenbar unzureichend begründet, darstellt (RIS‑Justiz RS0117806).

[7] Dem Vorwurf der „Scheinbegründung“ zuwider folgerte das Beschwerdegericht die angesprochene Gefahr keineswegs allein „aus der angelasteten Handlung“:

[8] Es erschloss sie vielmehr aus einer „gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung anderer gerichtete[n] Neigung“ des Beschwerdeführers, die „derart massiv“ sei, dass „die reale Befürchtung des Ausweichens auf andere geeignete Opfer und somit neuerlicher einschlägiger [gleichartiger] Delinquenz“ vorliege. Diese Tatsachenannahmen wiederum leitete es aus den näheren Umständen der (angesonnenen) Tatbegehung durch den Beschwerdeführer ab, der „den von allen [Mittätern] erkannten Zustand des Tatopfers rücksichtslos für [die] eigene Triebbefriedigung ausgenutzt“ und dieses „zum bloßen Objekt sexueller Willkür degradiert“ habe (BS 9). Überdies ging es davon aus, dass – durch (bloßen) Zeitablauf während der Inhaftierung (vgl RIS‑Justiz RS0114303) und mit Blick auf eine (weiterhin bestehende) „Wohnmöglichkeit bei seinen Eltern“ sowie „Arbeitsmöglichkeit“ – keine Änderung jener Verhältnisse eingetreten sei, unter denen die dem Beschwerdeführer angelastete Tat begangen worden sei (BS 9 f).

[9] Soweit die Beschwerde mangelnde Begründetheit nicht der rechtlichen Annahme der in § 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO genannten Gefahr, sondern der dieser zugrunde gelegten Sachverhaltsannahmen („Neigung“) einwendet, verlässt sie den Anfechtungsrahmen (erneut RIS‑Justiz RS0117806 [insbesondere T17], jüngst 13 Os 40/22i und 13 Os 129/22b).

[10] Auch der Vorwurf, einzelne Umstände, die aus Beschwerdesicht gegen das Vorliegen des herangezogenen Haftgrundes sprächen, seien „vernachlässigt“ worden, stellt die Prognoseentscheidung nicht prozessförmig in Frage (RIS‑Justiz RS0117806 [T1, T11] und Kier in WK2 GRBG § 2 Rz 49 mwN).

[11] Anhand eigenständig entwickelter Überlegungen reklamiert die Beschwerde eine „bereits durch das gegenständliche Strafverfahren“ (aus ihrer Sicht gar wohl) eingetretene „Änderung der Verhältnisse“.

[12] Indem sie solcherart (einzelne der) in Anschlag gebrachten bestimmten Tatsachen beweiswürdigend bestreitet, behauptet sie – abermals – keine Willkür der Prognoseentscheidung.

[13] Was die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft anlangt, prüft der Oberste Gerichtshof im Grundrechtsbeschwerdeverfahren in zwei Schritten, ob angesichts der – hier durch den (noch nicht rechtskräftigen) Schuldspruch determinierten (vgl RIS‑Justiz RS0061112, 12 Os 186/08g) – qualifizierten Verdachtslage (§§ 173 Abs 1 erster Satz, 174 Abs 1 erster und vierter Satz, Abs 3 Z 2 und 4, 177 Abs 2 StPO) der vom Oberlandesgericht gezogene Schluss auf ein ausgewogenes Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe vertretbar war (§ 173 Abs 1 zweiter Satz StPO) und – zusätzlich nach Maßgabe eigener Beweiswürdigung – ob die Gerichte alles ihnen Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen haben (§ 177 Abs 1 StPO, RIS‑Justiz RS0120790).

[14] In diese Prüfung hat der Oberste Gerichtshof aber von vornherein nur dann einzutreten, wenn – nach Ausschöpfung des Instanzenzugs – entsprechende Verstöße durch das Gericht (§ 1 Abs 1 GRBG) in der Beschwerde konkret behauptet werden (§ 3 Abs 1 erster Satz GRBG, vgl Kier in WK2 GRBG § 3 Rz 16 mwN und RIS-Justiz RS0120790 [T1]).

[15] Eine Fehlbeurteilung der Haftvoraussetzung nach § 173 Abs 1 zweiter Satz StPO bringt der Beschwerdeführer, indem er die Haft mit dem Hinweis auf das geringe Lebensalter des Beschwerdeführers, die noch nicht eingetretene Rechtskraft der vom Schöffengericht verhängten Haftstrafe und die „zu erwartende Möglichkeit einer bedingten Haftentlassung“ als unverhältnismäßig bezeichnet, aber nicht vor.

[16] Hinzugefügt sei, dass als Vergleichsbasis, was die zu erwartende Strafe betrifft, das vom Gericht erster Instanz verhängte Strafmaß heranzuziehen ist (RIS‑Justiz RS0108401). Sowohl die Möglichkeit einer Strafreduktion im Rechtsmittelverfahren als auch die einer bedingten Entlassung haben dabei außer Betracht zu bleiben (RIS‑Justiz RS0108401, RS0123343 und RS0061308 [T7 und T9]). Hiervon ausgehend steht – auf der Basis der qualifizierten Verdachtslage – die im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung rund achteinhalb Monate dauernde Untersuchungshaft weder zur Bedeutung der Sache noch zu der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis.

[17] Mit bloßem Bestreiten der Einschätzung des Oberlandesgerichts, die Untersuchungshaft sei durch gelindere Mittel (§ 173 Abs 5 StPO) nicht substituierbar (BS 10), sowie der Bekundung seiner Bereitschaft, „jedes gelindere Mittel zu akzeptieren, geforderte Gelöbnisse abzulegen und Weisungen zu befolgen“, zeigt der Beschwerdeführer schon mangels Konkretisierung keinen Beurteilungsfehler auf (siehe aber RIS‑Justiz RS0116422 [T1]).

[18] Die Grundrechtsbeschwerde war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.

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