OGH 13Os129/22b

OGH13Os129/22b11.1.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. Jänner 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner in Gegenwart des Schriftführers Mag. Kastner in der Strafsache gegen * J* und andere Beschuldigte wegen Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 zweiter Fall und Abs 4 Z 3 SMG sowie weiterer strafbarer Handlungen, AZ 21 HR 91/19z des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten * G* gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Grazals Beschwerdegericht vom 24. November 2022, AZ 8 Bs 289/22v, (ON 396 der Ermittlungsakten) nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0130OS00129.22B.0111.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

* G* wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

 

Gründe:

[1] Mit Beschluss vom 14. Jänner 2022 (ON 288) verhängte das Landesgericht für Strafsachen Graz über * G* die Untersuchungshaft und setzte diese zuletzt am 10. Oktober 2022 (ON 385) aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO fort. Der dagegen gerichteten Beschwerde des Genannten (ON 387) gab das Oberlandesgericht Graz mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss nicht Folge und setzte die Untersuchungshaft aus dem nämlichen Haftgrund fort.

[2] In der Sache erachtete das Beschwerdegericht * G* dringend verdächtig, er habe vorschriftswidrig Suchtgift in einer das Fünfundzwanzigfache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge

(A) als Beitragstäter (§ 12 dritter Fall StGB) eingeführt, indem er den Mitbeschuldigten * J* beim Transport von 500 Gramm Kokain (enthaltend 400 Gramm Cocain‑Base) von den Niederlanden nach Österreich am 2. November 2020 dadurch unterstützte, dass er diesem die finanziellen Mittel für den (der Einfuhr vorangegangenen) Ankauf des Suchtgifts zur Verfügung stellte, sowie

(B) anderen überlassen, indem er

(II) am 18. September 2020 1.000 Gramm Kokain (enthaltend 800 Gramm Cocain‑Base) und

(I) sonst im Jahr 2020 weitere 2.000 Gramm Kokain (enthaltend 1.600 Gramm Cocain‑Base)

dritten Personen verkaufte.

[3] Dieses Verhalten subsumierte das Beschwerdegericht jeweils einem Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 12 dritter Fall StGB, § 28a Abs 1 zweiter Fall und Abs 4 Z 3 SMG (A) sowie nach § 28a Abs 1 fünfter Fall und (gemeint) Abs 4 Z 3 SMG (B).

[4] Die Sechsmonatsfrist des § 178 Abs 2 StPO endete – unter Nichteinrechnung inzwischen vollzogener Haft anderer Art (ON 306 f, ON 312 und ON 315) – mit Ablauf des 18. Juli 2022.

[5] Gegen den Beschluss des Beschwerdegerichts richtet sich die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten * G*, die sich gegen die Annahme des zuvor bezeichneten Haftgrundes wendet, Fristüberschreitung nach § 178 Abs 2 StPO releviert und eine Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) sowie Substituierbarkeit der Haft durch die Anwendung gelinderer Mittel ins Treffen führt.

[6] Die rechtliche Annahme der in § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahr (Prognoseentscheidung) überprüft der Oberste Gerichtshof im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens darauf, ob sie sich angesichts der zugrunde gelegten bestimmten Tatsachen als willkürlich, mit anderen Worten nicht oder nur offenbar unzureichend begründet darstellt (RIS‑Justiz RS0117806).

[7] Das Beschwerdegericht erschloss die angesprochene Gefahr primär aus der „(hoch wahrscheinlich) gewichtigen Rolle“ des Beschwerdeführers „in einer grenzübergreifend agierenden“, „auf Suchtgifthandel spezialisierten Tätergruppe“, seiner „weitreichenden Vernetzung“ „in der Suchtgiftszene“ und aus seiner „deutlich ausgeprägten Bereitschaft, die Rechtsgüter Leib und Leben sowie fremdes Vermögen nicht zu achten“. Diese Tatsachenannahmen wiederum leitete es vor allem aus dem Ergebnis einer Auswertung von „über das (vermeintlich) abhörsichere Kryptotelefon geführten Kommunikationen“ des Beschwerdeführers ab. Weiters ging es davon aus, dass sich „die Verhältnisse, unter denen die Taten begangen“ worden wären – also die erwähnte „Rolle“, „Vernetzung“ und „Bereitschaft“ des Beschwerdeführers – „bislang nicht wesentlich geändert“ hätten (BS 5 f).

[8] Anhand eigenständig entwickelter Überlegungen zu einem „Wegfall des zentralen Kommunikationsmittels“ und „defacto Verunmöglichung der verschlüsselten Kommunikation der angeblichen Tätergruppierung“ reklamiert die Beschwerde eine (aus ihrer Sicht gar wohl eingetretene) „Veränderung der Verhältnisse“.

[9] Indem sie solcherart (einzelne der) in Anschlag gebrachten bestimmten Tatsachen beweiswürdigend bestreitet, behauptet sie keine Willkür der Prognoseentscheidung. Sind doch Vergleichsbasis des diesbezüglichen Willkürverbots nur die in Anschlag gebrachten bestimmten Tatsachen, nicht aber deren Begründung (erneut RIS‑Justiz RS0117806 [insbesondere T17], jüngst [in diesem Verfahren] 13 Os 40/22i; Ratz, Zur Bedeutung von Nichtigkeitsgründen im Grundrechtsbeschwerdeverfahren, ÖJZ 2005, 415 [418]).

[10] Das Argument, die Annahme fortbestehender Tatbegehungsgefahr sei „gänzlich unnachvollziehbar und damit willkürlich“, weil der Beschwerdeführer seit 14. Jänner 2022 in Untersuchungshaft angehalten werde und die ihm angelasteten Tathandlungen „allesamt im Jahr 2020 stattgefunden“ hätten, wiederum versäumt es, an der (oben referierten) Tatsachengrundlage (BS 5 f) des Prognosekalküls in ihrer Gesamtheit Maß zu nehmen.

[11] Indem die Beschwerde eine „nachvollziehbare Rechtfertigung“ für die Fristüberschreitung nach § 178 Abs 2 StPO vermisst, setzt sie sich zur Gänze über das vom Oberlandesgericht dazu festgehaltene Tatsachensubstrat (BS 9) hinweg. Auch insoweit ist sie damit nicht gesetzmäßig ausgeführt (Kier in WK2 GRBG § 2 Rz 103 mwN).

[12] Dass das Oberlandesgericht die Annahme besonderer Schwierigkeiten oder besonderen Umfangs der Ermittlungen (§ 178 Abs 2 StPO) nicht (im Sinn der vom Beschwerdeführer korrekt zitierten Judikatur des Obersten Gerichtshofs [13 Os 91/13a]) auf genau jene Tatvorwürfe bezogen hätte, hinsichtlich derer es die Verdachtslage als dringend einstufte, wird übrigens – zu Recht (BS 9) – gar nicht behauptet.

[13] Unter dem Aspekt einer allfälligen Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) prüft der Oberste Gerichtshof nach Maßgabe eigener Beweiswürdigung, ob die Gerichte alles ihnen Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen haben (§ 177 Abs 1 StPO; RIS‑Justiz RS0120790).

[14] In diese Prüfung hat der Oberste Gerichtshof aber von vornherein nur dann einzutreten, wenn – nach Ausschöpfung des Instanzenzugs – entsprechende Verstöße durch das Gericht (§ 1 Abs 1 GRBG) in der Beschwerde konkret behauptet werden (§ 3 Abs 1 erster Satz GRBG; vgl Kier in WK2 GRBG § 3 Rz 16 mwN; RIS‑Justiz RS0120790 [T1]).

[15] Hat das Oberlandesgericht ohnehin verfahrensbeschleunigende Maßnahmen durch die – das Ermittlungsverfahren leitende (§ 101 Abs 1 erster SatzStPO) – Staatsanwaltschaft angeordnet (vgl Kier, WK‑StPO § 9 Rz 54 f; Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 177 Rz 6 und RIS‑Justiz RS0124006), hat die Grundrechtsbeschwerde darzulegen, weshalb dies keinen angemessenen Ausgleich für eine (allfällige) Verletzung des Beschleunigungsverbots darstellen, die Entscheidung also grundrechtswidrig sein sollte (RIS‑Justiz RS0120790 [T30]).

Rechtliche Beurteilung

[16] Dieses Anfechtungskriterium verfehlt die Beschwerde, soweit sie das Beschleunigungsgebot dadurch verletzt sieht, dass die Staatsanwaltschaft einer ihr mit (über eine frühere Haftbeschwerde des G* ergangenem) Beschluss des Oberlandesgerichts Graz vom 12. September 2022, 8 Bs 241/22k, (ON 371) erteilten Anordnung, dem Landesgericht bis zum 30. September 2022 die „Ergebnisse der Auswertung“ bestimmter Korrespondenzinhalte vorzulegen, nicht fristgerecht nachkam (siehe dazu im Übrigen BS 6 bis 10):

[17] Im bekämpften Beschluss (ON 396) hat das Oberlandesgericht der Staatsanwaltschaft den „Auftrag erteilt, bezogen auf den hafttragenden Sachverhalt (§ 178 Abs 2 StPO) innerhalb der nächsten Haftfrist [also bis zum 24. Jänner 2023, vgl BS 1],

1. die Enderledigung vorzunehmen oder

2. jene zusätzlichen Aspekte deutlich und bestimmt zu bezeichnen, aus denen eine signifikante Steigerung des Gewichts der im dringenden Verdacht stehenden Taten (tatbestandliche Handlungseinheiten) resultiert, welche konkreten Ermittlungsmaßnahmen zur Aufklärung eben dieser Aspekte ergriffen werden und welche Dauer für deren Durchführung in Aussicht genommen wird“ (BS 1).

[18] Dass und weshalb diese – beschlussförmig erteilte – Anordnung des Oberlandesgerichts nicht ausreichen sollte, um die behauptete Verletzung des Beschleunigungsverbots angemessen auszugleichen, sagt die Beschwerde nicht deutlich und bestimmt.

[19] Sollte das Beschwerdevorbringen, die „Setzung weiterer Beschleunigungsmaßnahmen“ sei „unzulässig“ (sic!), weil das Oberlandesgericht „durch seine Entscheidung vom 12.09.2022 und der damit gesetzten Frist eine res iudicata geschaffen“ habe, als Kritik an der im bekämpften Beschluss (ON 396) erteilten Anordnung als solcher aufzufassen sein, wäre sie unverständlich.

[20] Zu Unrecht reklamiert der Beschwerdeführer des Weiteren – bereits in der Haftbeschwerde behauptete (ON 387) – angebliche Säumnis des Landesgerichts bei der Anberaumung der (am 10. Oktober 2022 vorgenommenen) Haftverhandlung (vgl dazu BS 7 f) sowie „verzögerte Bearbeitung“ seiner Haftbeschwerde durch das Oberlandesgericht:

[21] Am 30. September 2022 – einem Freitag – langte beim Landesgericht ein Enthaftungsantrag des Beschwerdeführers ein (ON 373). Mit Verfügung des Einzelrichters vom 3. Oktober 2022 – einem Montag – wurde der Antrag der Staatsanwaltschaft zur Äußerung übermittelt (ON 373 S 1). Nach Einlangen der Ermittlungsakten mit einer – ablehnenden – Äußerung der Staatsanwaltschaft vom 4. Oktober 2022 (ON 373 S 1) beraumte der Einzelrichter eine Haftverhandlung für den 10. Oktober 2022 an (ON 1), nach deren Durchführung er – unter der Annahme des zu A und B II geschilderten dringenden Tatverdachts als hafttragendem Vorwurf – den Beschluss auf Fortsetzung der Untersuchungshaft verkündete (ON 383 S 2).

[22] Damit hat das Landesgericht, als der Beschwerdeführer seine Freilassung beantragt und sich die Staatsanwaltschaft dagegen ausgesprochen hatte, im Grunde der dazu entwickelten Rechtsprechung (13 Os 122/09d RIS‑Justiz RS0120790 [T21], RS0124552) „ohne Verzug“ (§ 176 Abs 1 Z 2 StPO) eine Haftverhandlung anberaumt und über den Antrag entschieden.

[23] Eine schriftliche Ausführung der (sogleich nach Verkündung jenes Beschlusses erhobenen) Haftbeschwerde wurde am 12. Oktober 2022 beim Landesgericht eingebracht (ON 387). Am 14. Oktober 2022 verfügte der Einzelrichter die Zustellung seines Beschlusses in (zwischenweilig hergestellter) schriftlicher Ausfertigung an den Verteidiger des Beschwerdeführers und ersuchte die Staatsanwaltschaft um „Anfertigung einer (ergänzten) Aktenkopie zur Vorlage der Haftbeschwerde“ (ON 1), woraufhin er – nach Entsprechung – am 18. Oktober 2022 die Vorlage der Akten an das Oberlandesgericht verfügte (ON 388).

[24] Dieses übersandte sie zunächst der Oberstaatsanwaltschaft, deren Stellungnahmen vom 20. Oktober 2022 und vom 24. Oktober 2022 es (nach den Registerdaten) jeweils dem Verteidiger des Beschwerdeführers zur Äußerung übermittelte. Mit Note vom 24. Oktober 2022 (ON 390) verlangte es von der Staatsanwaltschaft weitere Aufklärungen (§ 89 Abs 5 erster Satz StPO). Deren Ergebnis lag dem Oberlandesgericht am 27. Oktober 2022 vor (ON 392), das es dem Beschwerdeführer zur allfälligen Äußerung übersandte. Mit Verfügung vom selben Tag (ON 1) übermittelte das Landesgericht dem Oberlandesgericht einen Antrag der Staatsanwaltschaft vom 21. Oktober 2022 (ON 1), den Beschwerdeführer zu einem zusätzlichen – vom (nunmehrigen) Vorwurf B I umfassten – Tatverdacht zu vernehmen und die Untersuchungshaft auch auf diesen zu stützen, sowie ein Protokoll über eine diesbezügliche gerichtliche Vernehmung des Beschwerdeführers als Beschuldigten vom 27. Oktober 2022 (ON 391). Mit Note vom 31. Oktober 2022 ersuchte das Oberlandesgericht die Staatsanwaltschaft um dringliche Übermittlung eines Amtsvermerks der Kriminalpolizei vom 20. Oktober 2022, der – obwohl die Anklagebehörde in der Aufklärung und im erwähnten Antrag darauf Bezug genommen hatte – dem Beschwerdegericht nicht zur Verfügung stand; dem entsprach die Staatsanwaltschaft am 3. November 2022. Mit Note des Beschwerdegerichts vom 18. November 2022 wurde dem Beschwerdeführer die Gelegenheit eingeräumt, sich in Bezug auf den „(erweiterten) Haftantrag“ der Staatsanwaltschaft zu möglicher Berücksichtigung der „zusätzliche[n] Sachverhaltsaspekte (weitere Suchtgiftquanten, die auf Basis eines einheitlichen, auf kontinuierliche Begehung gerichteten Tatentschlusses überlassen wurden)“ bei der Entscheidung über die Fortsetzung der Untersuchungshaft binnen fünf Tagen zu äußern. Eine diesbezügliche Äußerung des Beschwerdeführers langte am 24. November 2022 beim Oberlandesgericht ein, das daraufhin – noch am selben Tag – den bekämpften Beschluss fasste.

[25] Angesichts der vom Oberlandesgericht zu berücksichtigenden Neuerungen und der damit verbundenen Prüfungspflicht (vgl § 89 Abs 2b StPO, RIS-Justiz RS008997) ist – unter den konkreten Fallgegebenheiten mit Blick auf den Aktenumfang – die mehr als fünfwöchige Dauer des Beschwerdeverfahrens gerechtfertigt.

[26] Eine grundrechtswidrige Verzögerung des Verfahrens durch das Landesgericht oder das Oberlandesgericht ist in den erwähnten Umständen nicht auszumachen.

[27] Wenn – wie die Beschwerde mutmaßt – „der Beschwerdeführer selbst“ es gewesen wäre, der „durch die Stellung mehrerer Fristsetzungsanträge“ eine „entsprechende Verfahrensbeschleunigung“ erreicht hätte, würde dies am Ergebnis nichts ändern.

Mit bloßem Bestreiten der Einschätzung des Oberlandesgerichts, die Untersuchungshaft sei durch gelindere Mittel (§ 173 Abs 5 StPO) nicht substituierbar (BS 6), sowie der Erklärung, zu „sämtlichen […] gelinderen Mitteln bereit“ zu sein, zeigt der Beschwerdeführer keinen konkreten Beurteilungsfehler auf (siehe aber RIS‑Justiz RS0116422 [T1]).

[28] Die Grundrechtsbeschwerde war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.

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