OGH 13Os91/13a

OGH13Os91/13a9.10.2013

Der Oberste Gerichtshof hat am 9. Oktober 2013 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Ostojic als Schriftführerin in der Strafsache gegen Berthold C***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall, 15 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 18 St 268/12v der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt, über die Grundrechtsbeschwerde des Berthold C***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 21. August 2013, AZ 23 Bs 273/13k (ON 103 des Ermittlungsakts), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Berthold C***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Dem Bund wird der Ersatz der Beschwerdekosten von 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.

Text

Gründe:

Mit Beschluss vom 23. Jänner 2013 (ON 21) verhängte das Landesgericht Wiener Neustadt über Berthold C***** die Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht‑, der Verdunkelungs‑ und der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 1, 2 und 3 lit b StPO und setzte diese zuletzt am 31. Juli 2013 aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 3 lit b und c StPO fort (ON 99). Der dagegen gerichteten Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss nicht Folge und ordnete aus dem letzterwähnten Haftgrund die Haftfortsetzung an.

Dabei erachtete das Beschwerdegericht Berthold C***** dringend verdächtig, in Wien und an anderen Orten gewerbsmäßig mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz

(I) von 29. Juni 2011 bis 21. Jänner 2013 andere Personen in neun, im angefochtenen Beschluss einzeln bezeichneten Fällen durch Täuschung über Tatsachen zu Handlungen, nämlich zum Verkauf von Schmuck weit unter dem tatsächlichen Wert, verleitet zu haben, die diese in einem 3.000 Euro übersteigenden Wert am Vermögen schädigten;

(II) von Mitte November 2012 bis 9. Jänner 2013 in drei Fällen einzeln bezeichneten Gewahrsamtsträgern fremde bewegliche Sachen in einem 3.000 Euro übersteigenden Wert weggenommen zu haben.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen gerichtete, eine Fristüberschreitung nach § 178 Abs 2 StPO sowie einen Verstoß gegen das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen (Art 5 Abs 3 zweiter Satz MRK; Art 5 Abs 1 PersFrG; §§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) ins Treffen führende Grundrechtsbeschwerde ist berechtigt.

Bereits im Haftfortsetzungsbeschluss vom 30. April 2013, AZ 23 Bs 134/13v (ON 91), war das Oberlandesgericht ‑ mit durchwegs eingehender Begründung - von einem dringenden Tatverdacht genau in jenen Fällen ausgegangen wie im nunmehr angefochtenen Beschluss, während es zu anderen Fakten einen dringenden Tatverdacht zu jenem Zeitpunkt (und damit eine Haftvoraussetzung; vgl § 173 Abs 1 StPO) ausdrücklich verneint hatte. Jener Beschluss war bis zum 1. Juli 2013 wirksam (§§ 175 Abs 2 Z 3, 84 Abs 1 Z 5 StPO). Die Sechsmonatsfrist des § 178 Abs 2 StPO endete mit Ablauf des 23. Juli 2013.

In einem Bericht der Polizeiinspektion Ebreichsdorf vom 26. Juni 2013 (ON 92) wurden Umfang, Zwischenstand und Verlauf der Erhebungen mitgeteilt (Auswertung von rund 5.000 Rufverbindungen, wovon ca 500 bislang ausgewertet seien, „48 Betrugs‑ und Diebstahlsfakten, jene eindeutig C***** nachzuweisen“, mit „jedem ausgewerteten Tag“ steige „diese Zahl jedoch weiter an“, wobei als Beispiele die Auswertung von Rufverbindungen am 24. und am 25. Juni 2013 genannt wurden, durch die „weitere 8 Fakten bekannt“ geworden seien, die „Schadenssumme“ belaufe sich zum Berichtszeitpunkt auf „ca. 80.000 Euro“, die Auswertung der restlichen rund 4.500 Rufverbindungen werde „hinkünftig jedoch mit Nachdruck geschehen“, weiters seien noch „zahlreiche Opfereinvernahmen und eine weitere Beschuldigteneinvernahme mit C***** ausständig, mit dem Abschlussbericht sei vor Ende September 2013 nicht zu rechnen).

Aufgrund dieses Zwischenberichts ersuchte die Staatsanwaltschaft die Kriminalpolizei am folgenden Tag unter Hinweis auf die bereits seit Jänner 2013 dauernde Untersuchungshaft unter Betonung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen, „durch Zurverfügungstellung weiterer personeller Ressourcen bzw allenfalls mit Unterstützung des LKA für eine vordringliche Bearbeitung und möglichst baldige Erstattung des Abschlussberichts Vorsorge zu treffen“ (ON 93).

Dem Haftfortsetzungsbeschluss des Erstgerichts vom 28. Juni 2013 wurde ein dringender Tatverdacht ausschließlich hinsichtlich der in der Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom 30. April 2013 „angeführten Fakten“ zugrunde gelegt, in bemerkenswertem Gegensatz dazu jedoch im Hinblick auf den Bericht der Polizeiinspektion Ebreichsdorf (ON 92) und das vorgenannte Ersuchen der Staatsanwaltschaft (ON 93) das Vorliegen der Voraussetzungen für die Fortsetzung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 178 Abs 2 StPO) bejaht (ON 95).

Am 24. Juli 2013 stellte der Verteidiger einen Enthaftungsantrag, weil Gründe, die eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate rechtfertigen würden, nicht gegeben seien (ON 97).

Auch dem daraufhin ergangenen ablehnenden, die Untersuchungshaft (über sechs Monate hinaus) fortsetzenden erstgerichtlichen Beschluss vom 31. Juli 2013 wurde ein dringender Tatverdacht (neuerlich nur) hinsichtlich der in der Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien vom 30. April 2013 „angeführten Fakten“ zugrunde gelegt (ON 99).

In der dagegen erhobenen Beschwerde argumentierte der Verteidiger damit, dass die Frage, ob die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 178 Abs 2 StPO) vorliegen, nur mit Blick auf den als dringend eingestuften Tatverdacht, nicht aber unter Einbeziehung eines weiter reichenden, nicht dringenden Tatverdachts zu beurteilen sei. Das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen sei zudem nicht zeitgerecht beachtet worden (ON 100).

In dem nunmehr mit Grundrechtsbeschwerde angefochtenen Beschluss geht das Oberlandesgericht nach wie vor von einem dringenden Tatverdacht nur in Ansehung von Tatvorwürfen aus, die es schon seiner Entscheidung vom 30. April 2013 (ON 91) zugrunde gelegt hatte, erachtet aber mit Blick auf die weiteren in Untersuchung gezogenen Sachverhalte, hinsichtlich der jedoch kein dringender Tatverdacht angenommen wurde, weder die Bestimmung des § 178 Abs 2 StPO noch das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) als verletzt.

Die vom Beschwerdegericht für die Fristüberschreitung angeführten Gründe (BS 10, 12 f, 15) bewegen sich ‑ was die Unvermeidbarkeit der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft betrifft ‑ nicht mehr innerhalb der Grenzen (noch) vertretbarer Ermessenabwägung (vgl RIS‑Justiz RS0121605 [T2]).

Nach § 178 Abs 2 StPO darf über sechs Monate hinaus die Untersuchungshaft, was den Abschnitt bis zum Beginn der Hauptverhandlung (§§ 239 erster Satz, 304 erster Satz, 447, 488 Abs 1 erster Satz StPO) betrifft, nur dann aufrechterhalten werden, wenn dies wegen besonderer Schwierigkeiten oder besonderem Umfang der Ermittlungen im Hinblick auf das Gewicht des Haftgrundes unvermeidbar ist.

Mit Rücksicht darauf, dass das Gesetz einen Haftgrund nur nach Maßgabe dringenden Tatverdachts für die Untersuchungshaft genügen lässt (§ 173 Abs 1 StPO), bringt auch die in § 178 Abs 2 StPO angeordnete Verknüpfung („im Hinblick auf das Gewicht des Haftgrundes“) zum Ausdruck, dass sich die dort genannten Ermittlungserschwernisse auf genau jene Tatvorwürfe beziehen müssen, hinsichtlich derer die Verdachtslage als dringend eingestuft wird (in diese Richtung auch Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 178 Rz 11). Das Vorliegen besonderer Schwierigkeiten oder besonderen Umfangs der Ermittlungen wegen eines nicht dem Untersuchungshaftkalkül unterzogenen Verhaltens hat bei Beurteilung der Zulässigkeit der Fristüberschreitung außer Betracht zu bleiben. Allein hinsichtlich der dem angefochtenen Beschluss zugrundeliegenden ‑ überdies als geklärt beurteilten (BS 13) ‑ Tatvorwürfe lagen aber die Voraussetzungen für eine (weitere) Fristüberschreitung gerade nicht vor.

Indem das Oberlandesgericht die § 178 Abs 2 StPO somit widerstreitende Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über sechs Monate nicht als Grundrechtsverletzung anerkannte, sondern vielmehr selbst die Fortsetzung der Untersuchungshaft verfügte, wurde Berthold C***** ‑ entgegen der Stellungnahme der Generalprokuratur ‑ im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Gemäß § 7 Abs 2 GRBG sind die Gerichte verpflichtet, mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln unverzüglich einen der Rechtsauffassung des Obersten Gerichtshofs entsprechenden Zustand herzustellen. Der Beschwerdeführer wird somit aus der Untersuchungshaft zu entlassen sein (zur Enthaftungskonsequenz bei einem Verstoß gegen § 178 Abs 2 StPO vgl 14 Os 120/10v).

Zudem trifft die Beschwerdeargumentation zur Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) zu, weil bereits mit Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 30. April 2013 (ON 91) klargestellt war, zu welchen Fakten ein dringender Verdacht schon zu diesem Zeitpunkt gegeben war, während zu den übrigen noch untersuchten Vorwürfen gerade kein dringender Tatverdacht bestand. Zur Kürzung der Haft konnte demnach durchaus eine Verfahrenstrennung (§ 27 StPO) dienlich sein (vgl 14 Os 108/08a, EvBl 2008/174, 904; Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 177 Rz 7).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 8 GRBG.

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