OGH 1Ob6/23y

OGH1Ob6/23y21.3.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J*, vertreten durch die Peissl & Partner Rechtsanwälte OG in Köflach, gegen die beklagte Partei A*, vertreten durch Dr. Peter Schaden und Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, wegen 4.681,98 EUR sowie Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 29. September 2020, GZ 1 R 98/22x‑74, sowie über den Rekurs der klagenden Partei gegen den in dieses Urteil aufgenommenen Beschluss, mit dem der Rekurs der klagenden Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Graz-West vom 19. Jänner 2022, GZ 2 C 444/18x‑67, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00006.23Y.0321.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht

 

Spruch:

I. Dem Rekurs des Klägers wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.

II. Die Revision der beklagten Partei wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 501,91 EUR (darin enthalten 83,65 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger ließ seine gebrochene Hand im Krankenhaus der Beklagten behandeln. Es entwickelte sich zunehmend eine Fehlstellung des Bruchs, die den behandelnden Ärzten nicht auffiel, obwohl sie spätestens bei einer Untersuchung am 2. 5. 2016 erkennbar gewesen wäre. Aufgrund dieser zunächst unerkannt gebliebenen Komplikation musste sich der Kläger am 9. 8. 2016 einer Operation unterziehen, bei der sein Handgelenk durch eine Metallplatte versteift wurde.

[2] Der Kläger leitete aus der Fehldiagnose vom 2. 5. 2016 Ersatzansprüche ab. Er begehrte auch die Feststellung der Haftung der Beklagten für daraus resultierende künftige Schäden, wobei er sich darauf stützte, dass diese aufgrund der wegen der Fehldiagnose verspäteten Operation und der dabei erfolgten Gelenksversteifung eintreten könnten.

[3] Im zweiten Rechtsgang ist nur mehr das Feststellungsbegehren zu beurteilen. Die Entscheidung über das Zahlungsbegehren erwuchs im ersten Rechtsgang in Rechtskraft.

[4] Das Erstgericht gab dem Feststellungsbegehren im zweiten Rechtsgang statt, weil die Beklagte die Fehlstellung des Bruchs am 2. 5. 2016 erkennen hätte müssen, dem Kläger der erleichterte Nachweis der Kausalität der Fehldiagnose für die Versteifung seines Handgelenks gelungen sei und künftige Schäden daraus nicht auszuschließen seien. Im Urteilsspruch gab es auch die Entscheidung über das bereits in Rechtskraft erwachsene Zahlungsbegehren wieder.

[5] Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Streitgegenstand 5.000 EUR aber nicht 30.000 EUR übersteigt.

[6] Es wies die Berufung des Klägers – die sich gegen den „neuerlichen“ Ausspruch über den klageabweisenden Teil des Zahlungsbegehrens richtete –  zurück, weil er dadurch, dass das Erstgericht den rechtskräftigen Ausspruch über dieses Begehren bloß „wiederholt“ und darüber nicht inhaltlich neu abgesprochen habe, nicht beschwert sei.

[7] Im Übrigen bestätigte es die erstinstanzliche Entscheidung sowie dessen Begründung und ließ die ordentliche Revision nachträglich zur „allfällige[n] Korrektur“ seiner Entscheidung, falls diese von der herrschenden Rechtsprechung zur Erleichterung des Kausalitätsnachweises bei einer ärztlichen Fehlbehandlung abweiche, zu.

Rechtliche Beurteilung

[8] I. Der (richtig) Beschluss des Berufungsgerichts, mit dem es die Berufung des Klägers ohne Sachentscheidung aus formellen Gründen zurückwies, ist gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO mit (Voll‑)Rekurs anfechtbar (RS0098745). Der dagegen erhobene Rekurs des Klägers ist aber nicht berechtigt.

[9] 1. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels ist nicht nur die formelle, sondern auch die materielle Beschwer. Fehlt diese, ist das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen (RS0041868 [T14, T16]; vgl auch RS0041770 [T71]). Wird der Rechtsmittelwerber in seinem Rechtsschutzbegehren durch die angefochtene Entscheidung nicht beeinträchtigt, ist das Rechtsmittel auch dann zurückzuweisen, wenn die Entscheidung formal vom Antrag abweicht (RS0041868 [T15]).

[10] 2. Das Erstgericht brachte im Spruch seines im zweiten Rechtsgang gefassten Urteils nur zum Ausdruck, wie die Entscheidung „insgesamt“, also unter Einschluss des in Rechtskraft erwachsenen Teils zu lauten hat. Dies ergibt sich mit eindeutiger Klarheit aus der Begründung der Entscheidung. Der Kläger wurde durch die bloße Wiedergabe des bereits rechtskräftigen Teils der Entscheidung materiell nicht beschwert. Das Berufungsgericht wies seine Berufung daher zu Recht zurück. Ein Verstoß gegen die Teilrechtskraft kann dem Erstgericht nicht vorgeworfen werden. Aus diesem Grund ist das Urteil des Erstgerichts auch nicht mit Nichtigkeit behaftet. Die Behauptung des Rekurswerbers, die Entscheidung des Erstgerichtes habe seine „prozessuale Position gegenüber der Beklagten zumindest in kostenrechtlicher Hinsicht“ verschlechtert, ist nicht nachvollziehbar. Sollte damit gemeint sein, dass das Erstgericht für die Kostenbemessung die Teilrechtskraft unberücksichtigt gelassen habe, hätte dies mit rechtzeitigem Kostenrekurs (vgl 1 Ob 26/18g) geltend gemacht werden können. Das bloße Interesse an einer günstigeren Kostenentscheidung begründet keine Beschwer (RS0041770 [T78, T83, T87]).

[11] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 40, 50 ZPO. Eine Rekursbeantwortung wurde nicht erstattet.

II. Die – vom Kläger beantwortete – Revision der Beklagtenist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulässigkeitsausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig, weil darin keine erhebliche Rechtsfrage aufgezeigt wird.

[12] 1. Die behauptete Aktenwidrigkeit wurde geprüft, sie liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

[13] 2. Im ersten Rechtsgang legte der Senat zu 1 Ob 189/20f dar, dass die Frage, ob die Pflichtverletzung (die Fehldiagnose vom 2. 5. 2016) für das potenziell schädigende Ereignis, aus dem Dauerfolgen abgeleitet werden (die Versteifung der Hand), ursächlich war, schon im Feststellungsprozess zu beurteilen sei (RS0038915 [T2]; 1 Ob 48/20w ua). Dabei komme dem Kläger nach der Rechtsprechung eine Beweiserleichterung zugute. Stehe – wie hier – der ärztliche Behandlungsfehler fest und habe sich die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts (die Versteifung der Hand) dadurch nicht bloß unwesentlich erhöht, habe der beklagte Arzt bzw Krankenanstaltenträger zu beweisen, dass die ihm zuzurechnende Sorgfaltsverletzung dafür „mit größter Wahrscheinlichkeit“ nicht kausal gewesen sei. Es kehrt sich demnach die Beweislast für das (Nicht‑)Vorliegen der Kausalität um (RS0038222 [T7, T12]; RS0026768 [T4, T8]). Die gegenteilige Entscheidung 6 Ob 137/20w ist vereinzelt geblieben (vgl 1 Ob 11/21f).

[14] 3. Das Erstgericht traf im ersten Rechtsgang zu den Fragen, ob bei richtiger Diagnose eine andere Operationsmethode (mit Erhalt des Gelenks) gewählt worden wäre, welche Auswirkungen eine früher gewählte andere Operationsvariante gehabt hätte und ob die tatsächlich erfolgte Operation eine Folge der zunächst nicht erkannten Fehlstellung des Bruchs war, jeweils Negativfeststellungen. Im zweiten Rechtsgang stellte es ergänzend fest, dass die Fehldiagnose vom 2. 5. 2016 die Chance einer gelenkserhaltenden Operation wesentlich verringert habe und nicht festgestellt werden könne, dass diese „mit größter Wahrscheinlichkeit für den fehlenden Gelenkserhalt nicht kausal gewesen sei“.

[15] 4. Dass die Vorinstanzen dem Feststellungsbegehren auf dieser Sachverhaltsgrundlage – auf Basis der dargelegten Rechtsprechung – stattgaben, bedarf keiner Korrektur.

[16] Mit ihrem Argument, die Negativfeststellungen zur Kausalität der Fehldiagnose für die mit einer Versteifung des Handgelenks einhergehende Operation stünden den Entscheidungen der Vorinstanzen entgegen, unterliegt die Revisionswerberin einem Missverständnis: Dem Kläger kommt die dargelegte Beweiserleichterung nämlich erst (vgl auch RS0039872) dann zugute, wenn ihm der Nachweis der tatsächlichen Ursächlichkeit des ärztlichen Kunstfehlers für jenes potenziell schädigende Ereignis, aus dem er weitere künftige Nachteile ableitet (die Versteifung des Handgelenks) – wie hier – nicht gelang. Warum die Vorinstanzen die Rechtsprechung zum erleichterten Nachweis der Kausalität eines ärztlichen Kunstfehlers für den dadurch verursachten Nachteil unrichtig angewandt haben sollen, wird von der Beklagten nicht nachvollziehbar dargelegt. Das Berufungsgericht wich auch nicht vom festgestellten Sachverhalt ab. Vielmehr beruht die Rechtsrüge der Beklagten, soweit darin behauptet wird, die Fehldiagnose vom 2. 5. 2016 habe zu keiner wesentlichen Verringerung der Chance einer „gelenkserhaltenden“ Operation geführt, nicht auf den erstinstanzlichen Feststellungen (RS0043312 [T14]). Ob die Wahl der durchgeführten Operationsmethode (mit Versteifung des Handgelenks) lege artis war, spielt für das aus der Fehldiagnose vom 2. 5. 2016 – als rechtswidriger schädigender Handlung – abgeleitete Feststellungsbegehren keine Rolle, weil die Operation (als weitere Zwischenursache möglicher künftiger Schäden) nicht „neuerlich“ rechtswidrig gewesen sein muss.

[17] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 und 50 ZPO. Die Klägerin hat auf die fehlende Zulässigkeit der Revision hingewiesen (RS0035979 [T16]).

Stichworte