OGH 8ObA71/22g

OGH8ObA71/22g16.12.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner und den Hofrat Dr. Thunhart und die fachkundigen Laienrichter Mag. Andrea Kehrer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in derArbeitsrechtssache der klagenden Partei Mag. V*, vertreten durch die Haider Obereder Pilz RechtsanwältInnen GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei K*, vertreten durch Dr. Peter Döller, Rechtsanwalt in Wien, wegen Entlassungsanfechtung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgerichtin Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 11. August 2022, GZ 10 Ra 49/22g‑112, mit welchem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 21. Februar 2022, GZ 9 Cga 92/20v‑100, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:008OBA00071.22G.1216.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben. Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig der beklagten Partei die mit2.369,70 EUR (darin 394,95 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger war bei der Beklagten als Leiter eines Pensionistenwohnheims beschäftigt. Die Beklagte kündigte das Dienstverhältnis zum 30. 9. 2012. Mit Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 4. 11. 2014 zu AZ 24 Cga 76/12i wurde diese Kündigung wegen Sozialwidrigkeit für unwirksam erklärt. Die Beklagte erhob dagegen Berufung, sodass die Entscheidung erst mit Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 27. 11. 2017 zu AZ 10 Ra 73/15a rechtskräftig wurde.

[2] Während des laufenden Rechtsmittelverfahrens erklärte der Kläger am 10. 6. 2015 seine Arbeitsbereitschaft und forderte die Beklagte zur Nachzahlung des Entgelts auf, woraufhin die Beklagte ihm das Betreten des Unternehmens untersagte. Am 29. 6. 2015 machte der Kläger die Beklagte darauf aufmerksam, dass die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen, wonach er sich gegenüber Mitarbeiterinnen distanzlos verhalten habe, rufschädigend seien. Daraufhin sprach die Beklagte am 1. 7. 2015 dem Kläger für den Fall der Rechtsunwirksamkeit der Kündigung die Entlassung aus.

[3] Bei der Beklagten hatte der Kläger ein Gehalt von 6.239,37 EUR brutto, darin enthalten eine Pauschale für 30 Überstunden. Im Zeitpunkt der Entlassung war der Kläger bereits als Religionslehrer an einer technischen Lehranstalt tätig, wo er mit einer vollen Lehrverpflichtung von 19,01 Unterrichtseinheiten 4.363,44 EUR brutto verdiente. Darüber hinaus unterrichtete er noch 7,67 Wochenstunden an einer landwirtschaftlichen Fachschule, wodurch er ein monatliches Zusatzeinkommen von 1.021,16 EUR brutto erzielte.

[4] Der Kläger stand damals im 50. Lebensjahr und war für seine in Ausbildung befindliche Tochter sorgepflichtig. Seine Ehefrau bezog als Volksschuldirektorin ein monatliches Gehalt von 4.894,50 EUR brutto zuzüglich 1.075,48 EUR an Mehrleistungsentgelten. Die Ausgaben der Familie von 3.637,67 EUR monatlich, darin 1.227,67 EUR an Kreditrückzahlungen samt Lebensversicherung, wurden von den Ehegatten gemeinsam getragen, wobei der Kläger zuletzt einen Beitrag von 2.690,26 EUR leistete.

[5] Der Kläger begehrt die von der Beklagten ausgesprochene Entlassung für rechtsunwirksam zu erklären. Die Entlassung sei deshalb erfolgt, weil er sich auf die vorläufige Rechtskraftwirkung des Urteils des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien berufen und den Anschuldigungen der Beklagten entgegengetreten sei. Die Entlassung beeinträchtige zudem seine wesentlichen Interessen, weil ihm nicht möglich sei, in absehbarer Zeit einen annähernd gleichwertigen Arbeitsplatz zu erlangen.

[6] Die Beklagte wendete ein, dass ihr der Kläger ein strafbares Verhalten unterstellt habe und seine Entlassung daher zu Recht erfolgt sei, ohne dass wesentliche Interessen des Klägers beeinträchtigt wären.

[7] Das Erstgericht wies die Klage ab. Auch wenn der Kläger keinen Entlassungsgrund gesetzt habe, sei eine Sozialwidrigkeit der Entlassung unter Berücksichtigung des Einkommens der Ehefrau des Klägers und des Umstands, dass er bereits als Lehrer tätig war, zu verneinen.

[8] Das Berufungsgericht änderte die Entscheidung dahin ab, dass dem Klagebegehren stattgegeben wurde. Es liege eine Beeinträchtigung der wesentlichen Interessen des Klägers vor, weil er als Lehrer an einer technischen Lehranstalt mit einer vollen Lehrverpflichtung einen Einkommensverlust von rund 30 % erlitten habe, den er durch seine zusätzliche Lehrtätigkeit an einer landwirtschaftlichen Fachschule nur teilweise kompensieren habe können. Die ordentliche Revision sei mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig.

[9] Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag das Urteil dahin abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[10] Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

[11] Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts zulässig, weil es zur Beurteilung des Berufungsgerichts einer Klarstellung bedarf. Die Revision ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[12] 1. Die erfolgreiche Anfechtung einer Entlassung wegen Sozialwidrigkeit bedarf nach § 105 Abs 3 Z 2 iVm § 106 Abs 2 ArbVG des Nachweises, dass wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt sind (RIS‑Justiz RS0051746; RS0051845). Die mit jeder einseitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses verbundenen Nachteile reichen nicht aus, sondern es müssen Umstände vorliegen, welche die Beendigung des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitnehmer über das normale Maß hinaus nachteilig machen (RS0051727 [T8, T11, T13]). Gewisse Schwankungen der Einkommenslage muss jeder Arbeitnehmer im Lauf seines Arbeitslebens hinnehmen (RS0051727 [T2]). Das Tatbestandsmerkmal der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen ist aber erfüllt, wenn die durch die Entlassung bewirkte finanzielle Schlechterstellung ein solches Ausmaß erreicht, dass sie eine fühlbare, ins Gewicht fallende Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage zur Folge hat, ohne dass schon eine soziale Notlage oder Existenzgefährdung eintreten müsste (RS0051727).

[13] 2. In der Vergangenheit ist die Rechtsprechung häufig davon ausgegangen, dass Einbußen von unter 10 % hinzunehmen seien, während Einkommensverluste von 20 % und mehr auf gewichtige soziale Nachteile hindeuten würden (9 ObA 261/98t mwN). Die prozentuelle Einkommenseinbuße ist aber auch mit Bezug auf das absolut bezifferte Gesamteinkommen zu sehen (RS0051727 [T18]). Bei hohen Einkommen kann nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs selbst eine Einbuße von 40 % keine Sozialwidrigkeit begründen, wenn der Arbeitnehmer weiterhin in der Lage ist, seine individuellen Lebensbedürfnisse zu befriedigen (RS0051727 [T14]). Der Oberste Gerichtshof hat deshalb immer wieder darauf hingewiesen, dass nicht auf starre Prozentsätze abgestellt werden darf (RS0051727 [T10]; RS0051753 [T7]). Es ist vielmehr die gesamte wirtschaftliche und soziale Lage des Arbeitnehmers zu berücksichtigen (RS0051741; RS0051703; RS0051806).

[14] 3. Dem Berufungsgericht ist dahin beizupflichten, dass sich eine wesentliche Beeinträchtigung der Interessen des Arbeitnehmers auch daraus ergeben kann, dass er eine deutlich über die Normalarbeitszeit hinausgehende Arbeitsbelastung in Kauf nehmen muss, um die Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse weiter zu gewährleisten. Auf die in der Revision relevierte Frage, ob die Tätigkeit des Klägers an zwei Schulen mit einem im Vergleich zu seiner bisherigen Tätigkeit erhöhten Arbeitsaufwand verbunden war, kommt es im vorliegenden Fall aber nicht an.

[15] 4. Bei der Untersuchung, ob wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt sind, ist nach ständiger Rechtsprechung nämlich auch auf das Einkommen des Ehegatten abzustellen und die Sozialwidrigkeit zu verneinen, wenn in Anbetracht des hohen Einkommens des Ehegatten eine fühlbar ins Gewicht fallende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Arbeitnehmers nicht zu befürchten ist (RS0051703; RS0051845). Selbst wenn man das Zusatzeinkommens des Klägers an der landwirtschaftlichen Fachschule außer Betracht lässt, verbleibt dem Kläger und seiner Ehefrau ein Einkommen von 10.333,42 EUR brutto, welches weithin ausreicht, um die monatlichen Ausgaben der Familie von insgesamt 3.637,67 EUR zu bestreiten. Berücksichtigt man noch, dass der Kläger – worauf das Erstgericht zutreffend hingewiesen hat – bereits im Zeitpunkt seiner Entlassung als Lehrer tätig und damit von Anfang an finanziell abgesichert war, ist eine wesentliche Beeinträchtigung seiner Interessen zu verneinen.

[16] 5. Auf das Vorliegen eines verpönten Motivs ist der Kläger in seiner Berufung gegen das klagsabweisende Urteil des Erstgerichts nicht zurückgekommen, sodass dieser Rechtsgrund auch im Revisionsverfahren nicht mehr zu prüfen ist (RS0041570; RS0043338).

[17] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 58 Abs 1 ASGG iVm §§ 41 und 50 ZPO, wobei die von der Beklagten verzeichneten Kosten dahin zu korrigieren waren, dass der Tarifansatz TP3C angesichts des herangezogenen Streitwerts von 100.000 EUR nur 1.315,10 EUR beträgt. Der Anlassfall betrifft eine Rechtsstreitigkeit nach § 50 Abs 2 ASGG, sodass im Berufungsverfahren kein Kostenersatzanspruch besteht.

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