OGH 14Os133/22y

OGH14Os133/22y14.12.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Dezember 2022 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin FI Ponath in der Strafsache gegen * C* wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB, AZ 351 HR 230/19d (nunmehr AZ 34 Hv 19/22x) des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 12. Oktober 2022, AZ 31 Bs 251/22x (ON 177), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0140OS00133.22Y.1214.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Grundrechte

 

Spruch:

 

* C* wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Wien der Beschwerde des * C* gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 22. September 2022, GZ 351 HR 230/19d‑171, nicht Folge und setzte die über ihn mit Beschluss vom 8. August 2022 (ON 156) verhängte Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO fort. Gleichzeitig erachtete es die Dauer des seit 28. Juli 2017 anhängigen Ermittlungsverfahrens als unverhältnismäßig lang und stellte ausdrücklich eine Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§ 9 Abs 2, § 177 Abs 1 StPO) durch Bestellung einesSachverständigen (zur Klärung des Zustandekommens und des Ausmaßes der Verletzungen des Opfers) erst am 12. September 2022 (also eine Woche nach der Auslieferung des in Belgien festgenommenen Beschuldigten nach Österreich) fest, weil dieser Verfahrensschritt „der Sache nach“ seit Beginn des Ermittlungsverfahrens indiziert gewesen und damit ein ins Gewicht fallendes grundrechtswidriges Fortwirken von Säumigkeit gegeben sei. Einen Anspruch auf sofortige Enthaftung begründe diese Grundrechtsverletzung mit Blick auf die zum Entscheidungszeitpunkt erst kurze Dauer der Untersuchungshaft jedoch nicht (BS 7 f).

[2] Nach den der Annahme eines dringenden Tatverdachts wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB zugrunde gelegten Beschlussannahmen (BS 2 f) ist C* dringend verdächtig, er habe am 7. April 2017 in W* * B* eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB)absichtlich zugefügt, indem er mit einem unbekannten Gegenstand auf ihn einschlug, wodurch dieser eine Schädelfraktur, eine Trümmerfraktur, eine leichte Hirnblutung und ein Hämatom in der rechten Augenhöhle erlitt.

Rechtliche Beurteilung

[3] Die dagegen gerichtete Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten, die sich gegen die Annahme des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr richtet, unter Hinweis auf die festgestellte Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen Unverhältnismäßigkeit der Haft und deren Substituierbarkeit durch Anwendung gelinderer Mittel behauptet und deren Fortsetzung im elektronisch überwachten Hausarrest anstrebt, ist nicht berechtigt.

[4] Im Grundrechtsbeschwerdeverfahren überprüft der Oberste Gerichtshof die rechtliche Annahme der in § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren (nur) dahin, ob sie aus den im angefochtenen Beschluss angeführten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich angesehen werden müsste (RIS‑Justiz RS0117806, RS0118185; Kier in WK2 GRBG § 2 Rz 49). Das Unterbleiben der Erwägung einzelner aus Sicht des Beschwerdeführers allenfalls erörterungsbedürftiger Umstände kann nicht als Grundrechtsverletzung vorgeworfen werden (RIS‑Justiz RS0117806 [T28]).

[5] Vorliegend gründete das Beschwerdegericht seine Prognose (§ 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO) auf die planvolle und heimtückische Tatausführung mit massiven Verletzungsfolgen sowie das sich darin manifestierende hohe Aggressionspotential des Beschuldigten, der bereits im Jahr 2020 wegen im April 2016 begangenerStraftaten (massive Todesdrohungen) zum Nachteil des B* verurteilt worden war. Auch die – eingestandene – Vormerkung der Daten des B* als potentielles Opfer für Auftragsmörder auf einer Website verdeutliche seine ausgeprägte Gleichgültigkeit gegenüber der körperlichen Integrität Dritter. Es bestehe ein beträchtliches Risikopotential, Personen leichtfertig erhebliches körperliches Leid zuzufügen (BS 4 f).

[6] Mit dem Einwand, das Beschwerdegericht habe bei der Begründung der Annahme des Haftgrundes außer Acht gelassen, dass es keinerlei Hinweise auf ein erhöhtes Aggressionspotential gegenüber Dritten oder ein allgemein hohes Gefahrenpotential für Leib und Leben gebe, lässt die Grundrechtsbeschwerde die Erwägungen des Beschwerdegerichts in ihrer Gesamtheit außer Acht. Dass diese gegen die Kriterien logischen Denkens oder grundlegende Erfahrungssätze verstoßen würden (vgl RIS‑Justiz RS0118317), zeigt sie nicht auf.

[7] Indem sie die geänderten Lebensverhältnisse des Beschuldigten, mit denen sich das Beschwerdegericht ohnehin auseinandergesetzt hat (BS 5), einer eigenständigen Würdigung unterzieht und für den Beschuldigten günstigere Schlüsse daraus zieht, vermag sie eine willkürliche Annahme des Haftgrundes gleichfalls nicht darzutun (RIS‑Justiz RS0117806 [T11]).

[8] Eine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit liegt – nach Maßgabe des § 2 Abs 1 letzter Fall GRBG – vor, wenn eine haftrelevante Vorschrift in letzter Instanz missachtet oder deren Missachtung durch eine Unterinstanz nicht festgestellt und bereinigt, erforderlichenfalls ausgeglichen wurde (vgl RIS‑Justiz RS0061078 [T2]; Kirchbacher/Rami, WK-StPO Vor §§ 170–189 Rz 26).

[9] Demnach ist auch eine (auf einer ins Gewicht fallenden Säumigkeit in Haftsachen beruhende, die Verhältnismäßigkeit nach § 173 Abs 1 zweiter Satz StPO nicht notwendig in Frage stellende) Verletzung des Beschleunigungsgebots nach § 9 Abs 2, § 177 Abs 1 StPO – ebenso wie das Unterbleiben ihres Aufgriffs oder Ausgleichs durch eine Kontrollinstanz – grundrechtswidrig (vgl RIS‑Justiz RS0120790, RS0117747 [T2 und T3]). Eine solche Verletzung zwingt jedoch nicht automatisch zur Enthaftung des Beschuldigten (RIS‑Justiz RS0120790 [T13]).

[10] Mit dem bloßen Hinweis auf die erst am 12. September 2022 erfolgte Bestellung eines Sachverständigen zur Frage der Verletzungsfolgen (ON 169) wird nicht dargelegt, weshalb die durch das Beschwerdegericht erfolgte Feststellung der dadurch eingetretenen Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen und Anerkennung einer daraus resultierenden Grundrechtsverletzung dem Rechtsschutzinteresse des Beschuldigten nicht hinreichend Rechnung tragen würde (Kier, WK‑StPO § 9 Rz 54).

[11] In welcher Form das Beschwerdegericht durchAnordnung konkreter verfahrensbeschleunigender Maßnahmen der Verzögerung Abhilfe schaffen hätte sollen (RIS‑Justiz RS0124006 [T7]), erklärt die Grundrechtsbeschwerde ebenso wenig. Ein solcher Auftrag war im Übrigen auch nicht geboten (vgl Kirchbacher/Rami, WK‑StPO Vor §§ 170 –189 Rz 23/1), weil eine Fortwirkung der Verzögerung mit der mittlerweile nachgeholten Verfahrenshandlung nicht erkennbar und auch die Frist für die Gutachtenserstellung zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung noch nicht verstrichen war. Eine durch den Verstoß bewirkte Unverhältnismäßigkeit der – unter Berücksichtigung der (nach dem Beschwerdevorbringen von 27. Juli 2022 bis zur Übergabe an die österreichischen Behörden andauernden) Auslieferungshaft in Belgien – etwa zweieinhalbmonatigen Haft hat das Beschwerdegericht zu Recht verneint (zu den Kriterien Kier, WK-StPO § 9 Rz 52). Solcherart war eine sofortige Enthaftung nicht angezeigt (vgl zum Ganzen 14 Os 15/16m, 13 Os 77/16x, 14 Os 66/18i).

[12] Zur Frage der Substituierbarkeit der Untersuchungshaft durch gelindere Mittel (§ 173 Abs 5 StPO) muss eine Grundrechtsbeschwerde konkret darlegen, worin dem Beschwerdegericht insoweit ein Beurteilungsfehler unterlaufen sein soll (RIS‑Justiz RS0116422 [T1]). Dem entspricht die Beschwerde nicht, indem sie die Einschätzung des Oberlandesgerichts zur Nichtsubstituierbarkeit der Haft durch Wohnsitznahme in Wien aufgrund des Gewichts des Haftgrundes (BS 7) gänzlich außer Acht lässt.

[13] Soweit die Beschwerde schließlich die Fortsetzung der Untersuchungshaft als Hausarrest (§ 173a StPO) erstmals in der Grundrechtsbeschwerde begehrt, scheitert sie einerseits am Fehlen der Ausschöpfung des Instanzenzugs (RIS‑Justiz RS0114487) und übersieht andererseits, dass es sich beim elektronisch überwachten Hausarrest (§ 173a StPO) um eine besondere Form des Vollzugs der Untersuchungshaft (und nicht um ein gelinderes Mittel) handelt, dessen Bedingungen nicht in den Schutzbereich des GRBG fallen, sodass selbst die Ablehnung eines entsprechenden Begehrens nicht mit Grundrechtsbeschwerde bekämpft werden kann (RIS‑Justiz RS0126401).

[14] C* wurde demnach im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt, weshalb die Grundrechtsbeschwerde ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen war.

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