OGH 13Os77/16x

OGH13Os77/16x25.7.2016

Der Oberste Gerichtshof hat am 25. Juli 2016 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Jülg als Schriftführer in der Finanzstrafsache gegen Ewald G***** und eine Beschuldigte wegen Finanzvergehen der gewerbsmäßigen Abgabenhinterziehung nach §§ 33 Abs 1, 38 Abs 1 FinStrG und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 22 HR 168/15z des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten Ewald G***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 14. Juni 2016, AZ 9 Bs 192/16b, 196/16s (ON 44 der HR‑Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0130OS00077.16X.0725.000

 

Spruch:

 

Ewald G***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

 

Gründe:

Mit Beschluss vom 23. Mai 2016 (ON 34) setzte das Landesgericht für Strafsachen Graz die am 12. Mai 2016 über Ewald G***** verhängte Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Verdunkelungs‑ und der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 2, Z 3 lit a StPO fort. Der dagegen gerichteten Haftbeschwerde dieses Beschuldigten gab das Oberlandesgericht Graz mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss nicht Folge, setzte die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Verdunkelungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 2 StPO fort und hielt fest, dass sein Beschluss längstens bis zum 12. Juli 2016 wirksam sei (§ 178 Abs 1 Z 1 StPO).

In der Sache erachtete das Beschwerdegericht Ewald G***** dringend verdächtig, er habe (gemeint) im Zuständigkeitsbereich des Finanzamts Deutschlandsberg Leibnitz Voitsberg als unternehmensrechtlicher Geschäftsführer der O***** Gesellschaft m.b.H. (kurz: O*****) gewerbsmäßig Abgabenverkürzungen um jedenfalls mehr als 100.000 Euro bewirkt, nämlich

(1) vorsätzlich unter Verletzung abgabenrechtlicher Anzeige‑, Offenlegungs‑ oder Wahrheitspflichten

(a) von 2013 bis 2015 für die Kalenderjahre 2010 bis 2014 an Umsatzsteuer sowie für die Kalenderjahre 2010 bis 2013 an Körperschaftssteuer und

(b) von 2010 bis 2015 an den jeweiligen gesetzlichen Fälligkeitszeitpunkten an Kapitalertragsteuer,

(2) von März 2015 bis Mai 2016 vorsätzlich unter Verletzung der Verpflichtung zur Abgabe von § 21 UStG entsprechenden Voranmeldungen an den jeweiligen gesetzlichen Fälligkeitszeitpunkten für die Voranmeldungszeiträume von Jänner 2015 bis März 2016 an Umsatzsteuervorauszahlungen und dies nicht nur für möglich, sondern für gewiss gehalten sowie

(3) von Jänner 2010 bis Mai 2016 vorsätzlich unter Verletzung der Verpflichtung zur Führung von § 76 EStG entsprechenden Lohnkonten an Lohnsteuer, Dienstgeberbeiträgen zum Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen und Zuschlägen zum Dienstgeberbeitrag und dies nicht nur für möglich, sondern für gewiss gehalten.

In rechtlicher Hinsicht subsumierte das Beschwerdegericht dieses Verhalten als (ersichtlich gemeint) jeweils mehrere Finanzvergehen der gewerbsmäßigen Abgabenhinterziehung nach §§ 33 Abs 1, 38 Abs 1 FinStrG (1), nach §§ 33 Abs 2 lit a, 38 Abs 1 FinStrG (2) und nach §§ 33 Abs 2 lit b, 38 Abs 1 FinStrG (3).

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten Ewald G*****, die sich gegen die Annahme des dringenden Tatverdachts und des zuvor bezeichneten Haftgrundes wendet sowie Unverhältnismäßigkeit der Haft und deren Substituierbarkeit durch die Anwendung gelinderer Mittel behauptet.

 

Beschwerdegegenstand im Verfahren über eine Grundrechtsbeschwerde ist – anders als bei einer Haftbeschwerde an das Oberlandesgericht – nicht die Haft, sondern die Entscheidung über diese (RIS‑Justiz RS0061004 [T5], RS0112012 [T5], RS0121605 [T3]).

Demzufolge kann im Grundrechtsbeschwerdeverfahren die Sachverhaltsgrundlage des dringenden Tatverdachts nur nach Maßgabe der Mängel- und der Tatsachenrüge (Z 5 und 5a des § 281 Abs 1 StPO) bekämpft werden (RIS‑Justiz RS0110146).

Soweit der Beschwerdeführer erkennbar Tatumstände behauptet, die den Prüfungskriterien eines dieser Nichtigkeitsgründe entsprechen, sei erwidert:

Der Vorwurf, „die vom Gerichtshof zweiter Instanz angenommene Verdachtslage“ sei „aus den Aussagen der Zeugen keineswegs in vertretbarer Weise ableitbar“ (der Sache nach Z 5 vierter Fall), lässt offen, welche konkreten Sachverhaltsannahmen er bekämpft (siehe aber RIS‑Justiz RS0130729).

Die als „unklar“ bezeichnete Annahme, es sei mit Dringlichkeit indiziert, dass die Summe der Verkürzungsbeträge „jedenfalls den für die gerichtliche Zuständigkeit maßgeblichen Betrag von EUR 100.000,00 mehrfach übersteigt“ (BS 5), lässt an Deutlichkeit (Z 5 erster Fall) nichts vermissen. Entgegen dem Einwand, sie beruhe auf einer „reinen Vermutung“ (inhaltlich Z 5 vierter Fall), konnte das Beschwerdegericht diese Verdachtsannahme willkürfrei auf die zum Teil geständige Verantwortung der beiden Beschuldigten (BS 3), darüber hinaus vor allem auf die Angaben mehrerer Zeugen zu den in der O***** geübten, das Unterbleiben buchhalterischer Erfassung von Einnahmen begünstigenden Verkaufs‑ und Abrechnungspraxis („Barverkäufe“; „Rechnungssplitting“ – BS 3 f) und eine Zeugenaussage stützen, nach der nicht – wie von den Beschuldigten eingeräumt – nur Zustellfahrer, sondern auch andere Beschäftigte dieses Unternehmens „schwarz entlohnt“ worden seien (BS 5).

Das übrige dazu erstattete Beschwerdevorbringen verlässt den dargestellten Anfechtungsrahmen, indem es– zudem fast ausnahmslos ohne Aktenbezug (RIS‑Justiz RS0124172 [T3, T5]) – aus einzelnen Verfahrensergebnissen aufgrund eigenständiger Beweiswerterwägungen von jenen des Beschwerdegerichts abweichende Schlüsse zieht und weitere Ermittlungsschritte einfordert.

Die rechtliche Annahme der in § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahr (Prognoseentscheidung) überprüft der Oberste Gerichtshof im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens darauf, ob sich diese angesichts der ihr zugrunde gelegten bestimmten Tatsachen als willkürlich, mit anderen Worten als nicht oder nur offenbar unzureichend begründet darstellt (RIS‑Justiz RS0117806).

Seine Einschätzung, es bestehe die konkrete Gefahr, der Beschuldigte werde auf freiem Fuß Zeugen zu beeinflussen versuchen, stützte das Oberlandesgericht auf die Überlegung, dass noch die zeugenschaftliche Vernehmung zahlreicher Bediensteter der O***** ausständig sei. Das Abhängigkeitsverhältnis der Dienstnehmer gegenüber dem Dienstgeber und der Umstand, dass die Beschuldigten bereits zurückliegend Geschäftsunterlagen vernichtet hätten, woraus eine „Verschleierungstendenz“ (auch) des Beschwerdeführers ersichtlich sei, lasse dessen Einflussnahme auf die betreffenden, als Zeugen in Betracht kommenden Personen konkret befürchten (BS 5 f).

Diese Ableitung entspricht den Gesetzen folgerichtigen Denkens ebenso wie grundlegenden Erfahrungssätzen und ist solcherart unter dem Aspekt der Begründungstauglichkeit nicht zu beanstanden (RIS‑Justiz RS0116732, RS0118317).

Mit Spekulationen zur Möglichkeit einer Zeugenbeeinflussung wird sie ebenso wenig prozessförmig bekämpft (RIS‑Justiz RS0117806 [T5]) wie mit der Kritik, zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung seien noch (immer) nicht alle der „rund 50 Mitarbeiter“ der O***** im Ermittlungsverfahren vernommen gewesen.

Dem (auch) in diesem Zusammenhang der Sache nach erhobenen Einwand einer Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) ist grundsätzlich zu entgegnen, dass Verzögerungen des Verfahrens – der Ansicht des Beschwerdeführers zuwider – nicht (schon) den Haftgrund beseitigen, sondern nur unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft Bedeutung erlangen können (vgl Kier in WK2 GRBG § 2 Rz 17). Dabei kann ein grundrechtswidriger Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot aufgrund einer ins Gewicht fallenden Säumigkeit in Haftsachen zwar auch ohne Verletzung der Verhältnismäßigkeit im Sinn des § 173 Abs 1 zweiter Satz StPO gegeben sein. Anders als eine solche zwingt er jedoch – abermals entgegen der Beschwerdesicht – nicht gleichsam automatisch zur Enthaftung des Beschuldigten (Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 177 Rz 5; RIS‑Justiz RS0120790 [T2, T10, T13]).

Was die Verhältnismäßigkeit anlangt, prüft der Oberste Gerichtshof im Grundrechtsbeschwerdeverfahren demnach in zwei Schritten, ob angesichts der vom Oberlandesgericht angeführten bestimmten Tatsachen der von diesem gezogene Schluss auf ein ausgewogenes Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe vertretbar war (§ 173 Abs 1 zweiter Satz StPO) und – zusätzlich nach Maßgabe eigener Beweiswürdigung – ob die Gerichte alles ihnen Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen haben (§ 177 Abs 1 StPO; RIS‑Justiz RS0120790).

In diese Prüfung hat der Oberste Gerichtshof aber von vornherein nur dann einzutreten, wenn – nach Ausschöpfung des Instanzenzugs – entsprechende Verstöße durch das Gericht (§ 1 Abs 1 GRBG) in der Beschwerde konkret behauptet werden (§ 3 Abs 1 erster Satz GRBG; vgl Kier in WK2 GRBG § 3 Rz 16 mwN; RIS‑Justiz RS0120790 [T1]).

Eine Fehlbeurteilung der Haftvoraussetzung nach § 173 Abs 1 zweiter Satz StPO bringt der Beschwerdeführer, indem er die Haft nicht auf Basis der Sachverhaltsannahmen des Oberlandesgerichts zum dringenden Tatverdacht, sondern (bloß) aufgrund davon abweichender Überlegungen als „unverhältnismäßig“ bezeichnet, aber nicht vor.

Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) durch eine strafgerichtliche Entscheidung oder Verfügung (§ 1 Abs 1 GRBG) macht der Beschuldigte mit seiner Kritik an „schleppender Beweisaufnahme“ im – von der Staatsanwaltschaft geleiteten (§ 101 Abs 1 erster Satz StPO) – Ermittlungsverfahren ebenso wenig geltend (Kier in WK2 GRBG § 1 Rz 16, 21). Dass es das Oberlandesgericht verabsäumt hätte, in seiner Haftentscheidung nach Möglichkeit Abhilfe gegen die vermeintlichen Verzögerungen zu schaffen (vgl Kier, WK‑StPO § 9 Rz 54 f; Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 177 Rz 6; RIS‑Justiz RS0124006), wird nämlich nicht behauptet.

Mit bloßem Bestreiten der Einschätzung des Oberlandesgerichts, die Untersuchungshaft sei durch gelindere Mittel (§ 173 Abs 5 StPO) nicht substituierbar (BS 6), und dem Angebot eines Gelöbnisses zeigt die Beschwerde keinen konkreten Beurteilungsfehler auf (siehe aber RIS‑Justiz RS0116422 [T1]).

Die Grundrechtsbeschwerde war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.

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