European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00122.22X.1213.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Sozialrecht
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Beim Kläger wurde im Jahr 2019 ein Prostatakarzinom eines nicht hochriskanten Typs diagnostiziert.
[2] Für die Behandlung eines Prostatakarzinoms wird in Österreich als etablierte operative Therapie die radikale Entfernung des Organs angeboten. Dies erfolgt mittels offener Technik, laparoskopisch und mittels roboterunterstützter Operationsmethode (Da Vinci).
[3] Der Kläger entschied sich gegen eine Radikaloperation und für eine Therapie mit dem Nano‑Knife (= irreversible Elektroporation, IRE). Die IRE ist ein etablierter und effektiver Therapieansatz für lokal beschränkte Prostatakarzinomherde mit niedermalignen Prostatakarzinomzellen. Sie gilt als minimal invasive Therapie. Aufgrund des kurzen Anwendungszeitraums gibt es keine Langzeitdaten. Da Langzeitergebnisse hinsichtlich der Tumorkontrolle und einer 5- und 10‑Jahre‑Überlebensrate nicht vorliegen, wird diese Methode als experimentell eingestuft und gilt als Alternativtherapie.
[4] Bei der IRE wird das Krebsareal fokal behandelt, während bei der klassischen Methode die gesamte Prostata entfernt wird. Die IRE wird ambulant durchgeführt. Nach einer klassisch‑operativen Vorgangsweise wird ein stationärer Aufenthalt von 7 bis 10 Tagen benötigt. Die Operationsrisken sind bei der IRE geringer. Nebenwirkungen – vor allem Inkontinenz und Impotenz – treten im Vergleich zur radikalen Prostatektomie weniger häufig auf. Die Erfolgswahrscheinlichkeit im Hinblick auf eine Heilung ist bei einer klassisch‑operativen Therapie viel höher als bei einer IRE, weil bei der radikalen Entfernung die gesamte Prostata entfernt wird. Aufgrund der fokalen Behandlung des Prostatakarzinoms bei der IRE ist folglich auch die Tumorkontrolle schlechter. In Österreich wird die radikale Prostatektomie etwa 1500‑mal pro Jahr durchgeführt. Die IRE nahmen etwa 1000 Patienten weltweit in Anspruch. Es gibt eine vergleichende Studie der beiden Therapien, die einerseits die geringeren Nebenwirkungen bei der IRE und andererseits die deutlich bessere Erfolgswahrscheinlichkeit bei der radikalen Prostatektomie belegt. Konkret beträgt bei der radikalen Entfernung die Inkontinenzrate bei über 70‑jährigen 20 % und die Impotenzrate 70 %.
[5] Hauptgrund für die Entscheidung des Klägers war, dass bei der IRE Nebenwirkungen weniger deutlich auftreten und er im Falle einer Inkontinenz seinen Beruf als Sänger lange oder überhaupt nicht mehr ausüben hätte können. Weiters ist die IRE organerhaltend, weder Rehabilitation noch Nachversorgungsbehandlungen sind notwendig, ein Krankenhausaufenthalt ist auf ein Minimum reduziert.
[6] Die IRE war beim Kläger erfolgreich, da diese zu einem Abfall des PSA‑Werts führte und auf den MRT‑Befunden kein Rest- oder Rezidiv‑Tumor festgestellt werden konnte. Auch bei einer radikalen Therapie und einer Bestrahlungstherapie ist eine vollständige Heilung des Prostatakarzinoms nicht möglich. Auch nach einer radikalen Therapie gibt es bei rund 30 % der operierten Männer einen PSA‑Relapse. Zum langfristigen Behandlungserfolg beim Kläger kann noch nichts gesagt werden. Bei der IRE gibt es keine Nachtherapie, es wird lediglich alle drei Monate der PSA‑Wert kontrolliert. Auch bei der radikalen Therapie wird lediglich alle drei Monate eine Tumor‑Nachsorge durchgeführt.
[7] Der Kläger unterzog sich der IRE am 28. 2. 2020. Er bezahlte für den Eingriff samt Abrechnungspauschale 15.330 EUR.
[8] Mit Bescheid vom 28. 6. 2021 lehnte die Beklagte die Kostenerstattung für die am 28. 2. 2020 durchgeführte IRE in Höhe von 15.230 EUR zuzüglich einer Abrechnungspauschale von 100 EUR ab.
[9] Mit seiner dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung der ihm für die Durchführung des IRE‑Eingriffs entstandenen Behandlungskosten samt begleitenden Behandlungskosten im höchstmöglichen Umfang. Bei der Komplettentfernung der Prostata seien die Nebenwirkungen Impotenz und Inkontinenz. Bei der IRE handle es sich um eine wissenschaftlich anerkannte Methode der ärztlichen Kunst, die ohne langen Spitalsaufenthalt durchführbar sei und Nebenwirkungen hintanhalte.
[10] Die Beklagte wandte ein, dass die IRE nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft keine evidenzbasierte Methode sei. Es fehle an einem ausreichenden Erfahrungssatz zur Beurteilung der Frage, ob mit diesem Eingriff typischerweise langfristig ein Behandlungserfolg erzielt werde.
[11] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren auf Zuerkennung der Behandlungskosten für die beim Kläger am 28. 2. 2020 durchgeführte IRE statt und wies das Mehrbegehren auf Zuerkennung sämtlicher begleitender Behandlungskosten im höchstmöglichen Umfang zurück. Im Umfang der Zurückweisung des Klagebegehrens erwuchs seine Entscheidung unangefochten in Rechtskraft.
[12] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Dem Kläger sei es nicht gelungen zu beweisen, dass mit der IRE typischerweise – also in einer ausreichenden Anzahl von Fällen – ein Erfolg erzielt werden könne. Denn es fehle aufgrund des kurzen Anwendungszeitraums an Langzeitdaten (Tumorkontrolle und 5‑ bis 10‑Jahre‑Überlebensrate), die Methode werde als experimentell eingestuft. Dem Kläger sei weiters der Beweis nicht gelungen, dass die IRE konkret in seinem Fall erfolgreich gewesen sei. Denn mit der Therapie sei zwar ein kurzfristiger Erfolg erzielt worden. Über einen langfristigen Behandlungserfolg könne aber noch nichts gesagt werden. In Fällen der Kostenerstattung für Außenseitermethoden seien die Interessen des Versicherten an seiner Heilung oder Lindern seiner Krankheit gegen jene der Versichertengemeinschaft an der ökonomischen Sicherung des Sachleistungsprinzips und der wirtschaftlichen Mittelverwendung abzuwägen. Im konkreten Fall führe der unmittelbare Behandlungserfolg nicht zu einem Kostenerstattungsanspruch des Klägers für die noch experimentelle IRE, weil die deutlich bessere Erfolgswahrscheinlichkeit der klassisch operativen Methode fest steht.
Rechtliche Beurteilung
[13] In seiner gegen dieses Urteil erhobenen außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:
[14] 1.1 Nach ständiger Rechtsprechung besteht bei der Krankenbehandlung im Sinn des § 133 Abs 2 ASVG grundsätzlich ein Vorrang der wissenschaftlich anerkannten schulmedizinischen Behandlungsmethoden. Ist eine Krankheit durch schulmedizinische Maßnahmen gut zu behandeln, gibt es keinen Anlass für die Finanzierung von „Außenseitermethoden“ im Sinn einer komplementär-medizinischen bzw alternativen Behandlung (10 ObS 149/19p SSV‑NF 33/78; 10 ObS 26/14t SSV‑NF 28/23).
[15] 1.2 Zwar ist bei einer von der Wissenschaft noch nicht anerkannten alternativen Behandlungsmethode („Außenseitermethode“) ein Kostenersatz nicht ausgeschlossen. Er ist jedoch auf Ausnahmefälle eingeschränkt und wird nur dann gewährt, wenn die komplementärmedizinische Heilmethode einer zweckmäßigen Krankenbehandlung entspricht und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet (vgl RS0083806; RS0083801).
[16] 1.3 Dies setzt voraus, dass eine zumutbare erfolgversprechende Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst nicht zur Verfügung stand oder eine solche versucht wurde und erfolglos blieb, während die „Außenseitermethode“ beim Versicherten erfolgreich war oder sie sich ex ante gesehen (zumindest) als erfolgversprechend darstellte (RS0083792 [T2]).
[17] 1.4 Wenn jedoch schulmedizinische Behandlungsmethoden zu unerwünschten (erheblichen) Nebenwirkungen führen und durch alternative Heilmethoden der gleiche Behandlungserfolg (ohne solche Nebenwirkungen) erzielt werden kann, kommt auch eine Kostenübernahme für alternative Heilmethoden durch den gesetzlichen Krankenversicherungsträger in Betracht (RS0102470 [T4, T7]). Auch dann ist jedoch erforderlich, dass mit der in Frage stehenden Behandlungsmethode typischerweise – also in einer für die Bildung eines Erfahrungssatzes ausreichenden Zahl von Fällen wirksam – ein Erfolg erzielt werden kann, oder wenn auch ohne diese Voraussetzungen bewiesen wird, dass die Behandlungsmethode bei dem Versicherten erfolgreich war (RS0083792).
[18] 2.1 Mit diesen Grundsätzen höchstgerichtlicher Rechtsprechung, insbesondere mit der ebenfalls die IRE betreffenden Entscheidung 10 ObS 55/19i SSV‑NF 33/31, steht die Entscheidung des Berufungsgerichts im Einklang.
[19] 2.2 Der Kläger weist in der Revision darauf hin, dass es sich bei der IRE um einen etablierten und effektiven Therapieansatz für lokal beschränkte Prostatakarzinome mit niedermalignen Prostatakarzinomzellen handle. Er lässt jedoch die weiteren Feststellungen des Erstgerichts außer Acht, wonach es sich bei der IRE um eine zwar etablierte, aber doch eine Alternativtherapie handelt, für die noch keine Langzeitergebnisse vorliegen und die deshalb als experimentell einzustufen ist.
[20] 2.3 Der Kläger macht geltend, dass die radikale Prostatektomie wegen der damit verbundenen Nebenwirkungen und aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit unzumutbar gewesen sei. Er hat jedoch kein dahingehendes Vorbringen erstattet. Angaben in seiner Aussage können ein Vorbringen nicht ersetzen (RS0038037). Das Erstgericht hat nicht festgestellt, dass dem Kläger die radikale Prostatektomie unzumutbar gewesen wäre, sondern lediglich die oben wiedergegebenen Feststellungen über die Gründe seiner Entscheidung für die IRE getroffen.
[21] 2.4 Mit seinen Ausführungen, wonach der Beweis erbracht sei, dass die bei ihm durchgeführte IRE im konkreten Fall erfolgreich gewesen sei, wünscht der Kläger eine andere Auslegung der vom Erstgericht getroffenen Feststellungen, womit er jedoch keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung aufzeigt (RS0118891 ua). Insbesondere setzt sich der Kläger nicht mit dem zentralen Argument des Berufungsgerichts auseinander, dass zu einem langfristigen Behandlungserfolg der IRE bei ihm noch nichts gesagt werden könne.
[22] 2.5 Die in diesem Zusammenhang vom Kläger geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor. Dem Berufungsgericht kann nicht zur Last gelegt werden, dass es vom festgestellten Sachverhalt in unzulässiger Weise abgewichen wäre, weil es die Feststellung: „Auch die IRE ist zweckmäßig und ausreichend, da diese in mehreren urologischen Abteilungen als Alternativtherapie angeboten und von Krankenkassen bezahlt wird.“ nicht übernommen hat. Dabei handelt es sich nämlich einerseits um eine rechtliche Beurteilung. Andererseits hat das Erstgericht ohnehin festgestellt, dass es sich bei der IRE um eine „etablierte Alternativtherapie“ handelt, womit sich das Berufungsgericht auch auseinandergesetzt hat.
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