OGH 10ObS26/14t

OGH10ObS26/14t23.4.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr.

Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. iur. Monika Lanz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Johann Sommer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch Dr. Robert Mogy, Rechtsanwalt in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei Kärntner Gebietskrankenkasse, 9021 Klagenfurt, Kempfstraße 8, wegen Kostenerstattung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 14. Jänner 2014, GZ 7 Rs 65/13b‑29, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung

Das Erstgericht erkannte die beklagte Gebietskrankenkasse schuldig, der Klägerin die Kosten der Behandlung der Weißfleckenerkrankung (Vitiligo) ihrer minderjährigen Tochter mit einer Kräutertherapie der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) in London in Höhe von insgesamt 4.124,28 EUR sA zu erstatten.

Das Berufungsgericht wies in Stattgebung der Berufung der beklagten Partei das Klagebegehren zur Gänze ab. Es verwies in seiner rechtlichen Beurteilung insbesondere darauf, dass es für die gezielte grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in einem anderen EU‑Mitgliedstaat grundsätzlich zwei Wege, nämlich die Sachleistungsaushilfe gemäß Art 20 Abs 2 VO 883/2004 und die Kostenerstattung einer Behandlung im EU‑Ausland wegen fehlender Vertragsbeziehungen im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV) gebe. Nach Art 20 Abs 2 VO 883/2004 habe ein Versicherter, der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten habe, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten, Anspruch auf Sachleistungen, die vom Träger des Aufenthaltsorts nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht werden, als ob er nach diesen Rechtsvorschriften versichert wäre. Die Genehmigung werde erteilt, wenn die betreffende Behandlung Teil der Leistungen sei, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats der betreffenden Person vorgesehen seien, und ihr diese Behandlung nicht innerhalb eines in Anbetracht ihres derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs ihrer Krankheit medizinisch vertretbaren Zeitraums gewährt werden könne. Eine Sachleistungsaushilfe iSd Art 20 Abs 2 VO 883/2004 komme jedoch schon deshalb nicht in Betracht, weil die Klägerin nie einen diesbezüglichen Antrag für ihre Tochter gestellt habe.

Von der Sachleistungsaushilfe zu unterscheiden sei das System der schlichten Kostenerstattung einer Behandlung im EU‑Ausland wegen fehlender Vertragsbeziehungen im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit (Art 56 AEUV). Es bestehe daher direkt aus der Dienstleistungsfreiheit ein Recht auf grenzüberschreitende Leistungsbeanspruchung nach dem Recht des zuständigen Versicherungsträgers und ‑ werde dieses Recht nicht gewährt ‑ auf Erstattung der Kosten der Leistungsbeanspruchung im ausländischen Mitgliedstaat in Höhe der Sätze, die der zuständige Versicherungsträger nach dem für ihn geltenden Recht zu zahlen gehabt hätte. Es bleibe aber auch in diesem Fall die Kostenerstattung auf jene Leistungen beschränkt, die auch auf dem inländischen Behandlungsmarkt erstattungsfähig seien. Es könne der zuständige Mitgliedstaat durch das Ausweichen eines Versicherten auf eine Auslandsbehandlung nicht dazu gezwungen werden, sein Leistungsangebot nur wegen der Leistungsbesorgung im Ausland zu erweitern. Auch für Auslandsbehandlungen gelte der Maßstab des § 133 Abs 2 ASVG, wonach die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein müsse, jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfe.

Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs könne ein Kostenersatz auch bei einer von der Wissenschaft noch nicht anerkannten Behandlungsmethode dann gewährt werden, wenn diese Krankenbehandlung zweckmäßig sei und das Maß des Notwendigen nicht überschreite. Dies setze voraus, dass eine zumutbare Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst nicht zur Verfügung gestanden sei, nicht erfolgversprechend gewesen sei oder erfolglos geblieben sei, während die Außenseitermethode beim Versicherten erfolgreich gewesen sei oder von ihr nach den Ergebnissen einer für die Bildung eines Erfahrungssatzes ausreichenden Zahl von Fällen (prognostisch) ein Erfolg erwartet werden durfte. Wenn herkömmliche Behandlungsmethoden erfolgreich und ohne unzumutbare Nebenwirkungen angewendet werden können (oder hätten angewandt werden können), bestehe kein Anlass zur Übernahme der Kosten einer Außenseitermethode durch den gesetzlichen Krankenversicherungsträger. In einem solchen Fall sei es auch nicht wesentlich, wie hoch die Kosten der Außerseitermethoden im Vergleich zu jenen der Schulmedizin seien.

Nach den getroffenen Feststellungen hätte es zahlreiche ‑ auch problemlose ‑ von der Wissenschaft anerkannte Behandlungsmethoden für das Leiden der Tochter der Klägerin gegeben, die nicht nur nicht ausgeschöpft, sondern zum Teil nicht einmal versucht worden seien. Aus dem Umstand, dass die von der Klägerin konsultierten Ärzte eine entsprechende Behandlung nicht empfohlen haben, könne nicht abgeleitet werden, dass die beklagte Partei zum Ersatz der Kosten für die Behandlung mit chinesischen Kräutern in London samt Nebenkosten verpflichtet wäre.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision im Hinblick auf die bereits vorliegende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils.

Die Klägerin macht in ihrem Rechtsmittel im Wesentlichen geltend, es sei ohnedies eine schulmedizinische Behandlung mit einer Salbe vorgenommen worden, welche jedoch erfolglos geblieben sei. Entscheidend sei aber, dass die ihre Tochter behandelnden Ärzte die Ansicht vertreten hätten, dass keine der schulmedizinischen Behandlungsmethoden zweckmäßig bzw erfolgversprechend sei. So lange diese Ansicht des behandelnden (Fach‑)Arztes nicht augenscheinlich falsch oder rechtsmissbräuchlich sei, sei sie für den sozialversicherungsrechtlichen Kostenersatz bindend. Es sei ihr daher ‑ jedenfalls prima facie ‑ der Beweis gelungen, dass im konkreten Fall der Behandlung der Weißfleckenerkrankung ihrer Tochter keine schulmedizinische Alternative bestanden habe. Dies ergebe sich auch aus dem im Verfahren eingeholten gerichtsärztlichen Sachverständigengutachten, wonach letztlich nicht feststehe, dass die vom Sachverständigen aufgezeigten Behandlungsvarianten im konkreten Fall auch tatsächlich erfolgversprechend anwendbar gewesen wären.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist mangels Geltendmachung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

1. Die Klägerin bekämpft mit diesen Ausführungen nicht die bereits vom Berufungsgericht zutreffend zitierte ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach bei der Krankenbehandlung iSd § 133 Abs 2 ASVG grundsätzlich ein Vorrang der wissenschaftlich anerkannten schulmedizinischen Behandlungsmethoden besteht. Ist eine Krankheit durch schulmedizinische Maßnahmen gut zu behandeln, gibt es an sich keinen Anlass für die Finanzierung von „Außerseitermethoden“ im Sinne einer komplementärmedizinischen bzw alternativen Behandlung. Ein Kostenersatz kann auch bei einer von der Wissenschaft noch nicht anerkannten Behandlungsmethode („Außenseitermethode“ bzw komplementärmedizinische Behandlungsmethode ‑ vgl zu dieser Begriffswahl die Ausführungen in Thaler/Plank , Heilmittel und Komplementärmedizin [2005] 118 f) ‑ nur dann gewährt werden, wenn diese Krankenbehandlung zweckmäßig ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet. Dies setzt voraus, dass eine zumutbare Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst nicht zur Verfügung stand, nicht erfolgversprechend war oder erfolglos blieb, während die komplementärmedizinische Behandlungsmethode beim Versicherten erfolgreich war oder von ihr nach den Ergebnissen einer für die Bildung eines Erfahrungssatzes ausreichenden Zahl von Fällen (prognostisch) ein Erfolg erwartet werden durfte. Eine Kostenübernahme für komplementärmedizinische Behandlungsmethoden („Außenseitermethoden“) durch den gesetzlichen Krankenversicherungsträger kommt auch dann in Betracht, wenn schulmedizinische Behandlungsmethoden zu unerwünschten (erheblichen) Nebenwirkungen führen und durch komplementärmedizinische Behandlungsmethoden („alternative Heilmethoden“) der gleiche Behandlungserfolg (ohne solche Nebenwirkungen) erzielt werden kann (vgl 10 ObS 86/09h, SSV‑NF 23/81 = DRdA 2011/43, 440 [ Naderhirn ] = ZAS 2011/46, 284 [ Stadler ] mwN; RIS‑Justiz RS0102470, RS0104903, RS0083792 ua).

2. Die maßgebenden Feststellungen des Erstgerichts sind entgegen der Ansicht der Revisionswerberin insgesamt eindeutig dahin zu verstehen, dass es für das Leiden der Tochter der Klägerin eine Reihe von erfolgversprechenden schulmedizinischen Behandlungs-möglichkeiten gegeben hätte, die jedoch ‑ wie bereits das Berufungsgericht zutreffend aufgezeigt hat ‑ nicht nur nicht ausgeschöpft, sondern nur zum Teil (Behandlung mit einer nicht näher bezeichneten Salbe) versucht wurden. Der Umstand, dass viele Arzneimittel für Kinder nicht zugelassen sind und ihre Anwendung bei Kindern daher „off label‑use“ erfolgt, ändert nichts an der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn eine zumutbare erfolgversprechende Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst mit in Österreich zugelassenen Heilmitteln nicht zur Verfügung steht oder erfolglos blieb und die Behandlung mit dem für die konkrete Erkrankung nicht zugelassenen Heilmittel erfolgreich war oder von der Behandlung nach den Ergebnissen einer für die Bildung des Erfahrungssatzes ausreichenden Zahl von Fällen ein Erfolg erwartet werden konnte (vgl § 6 Abs 1 Z 1 RL über die ökonomische Verschreibweise von Heilmitteln 2005 [„RöV“]; Thaler/Plank , Heilmittel und Komplementärmedizin 76 mwN; 10 ObS 409/02y, SSV‑NF 17/54 mwN).

3. Dass diese im vorliegenden Fall in Betracht kommenden schulmedizinischen Behandlungsmethoden zu unerwünschten (erheblichen) Nebenwirkungen bei der Tochter der Klägerin geführt hätten, steht nicht fest und wird auch von der Klägerin nicht behauptet. Ihr Einwand, die Frage, ob es für den jeweils konkreten Fall eine zumutbare schulmedizinische Behandlungsmethode gebe, sei von den den Versicherten jeweils behandelnden Ärzten verbindlich für den Krankenversicherungsträger zu entscheiden, ist nicht berechtigt. Es trifft zwar zu, dass die Entscheidung über die konkrete Wahl einer Behandlungsmethode grundsätzlich im Einvernehmen zwischen Arzt und Patient zu treffen ist, der Leistungsanspruch des Versicherten gegenüber dem Krankenversicherungsträger wird jedoch nach ständiger Rechtsprechung im Streitfall letztlich durch die Gerichte im Rahmen der bestehenden Gesetze konkretisiert (vgl Thaler/Plank , Heilmittel und Komplementärmedizin 187; 10 ObS 21/10a, SSV‑NF 24/19 mwN). Die Entscheidung des Gerichts erfolgt in der Regel aufgrund der Ergebnisse der eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten.

4. Es wurde ebenfalls bereits vom Berufungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass die Klägerin die Möglichkeit einer „aushelfenden Sachleistungserbringung“ nach Art 20 Abs 2 VO 883/2004 nicht in Anspruch genommen hat, wobei jedoch auch in diesem Fall zu berücksichtigen gewesen wäre, dass die in einem anderen Mitgliedstaat angestrebte Behandlung im Leistungskatalog des Wohnsitzstaats enthalten sein muss. Diese Voraussetzung ist sachgemäß, weil das soziale Sicherungsniveau der einzelnen Marktbürger jeweils von dem sozialen Sicherungssystem abhängt, in dem sie Mitglied sind. Dieses Sicherungsniveau soll nicht dadurch erhöht werden können, dass die Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat beschafft werden (10 ObS 179/12i).

Da die Entscheidung des Berufungsgerichts somit in allen von der Klägerin in ihrer Revision relevierten Fragen im Einklang mit der zitierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs steht, war die außerordentliche Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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