European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00005.22S.0329.000
Spruch:
Der Rekurs wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR (darin enthalten 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld für ihren am 24. Jänner 2014 geborenen Sohn für den Zeitraum von 24. Jänner 2014 bis 23. Jänner 2015.
[2] Das Kind lebte seit seiner Geburt gemeinsam mit der Klägerin und seinem Vater an der Adresse u*, Polen, im gemeinsamen Haushalt. Der Vater und (ab 4. Februar 2014) das Kind waren dort auch „zum ständigen Aufenthalt“ gemeldet. Hingegen war die Klägerin von 21. November 2005 bis 12. März 2015 an der Adresse B*, Polen, „zum ständigen Aufenthalt“ gemeldet. Eine Meldung der Klägerin an ihrem tatsächlichen Wohnsitz an der Adresse u*, Polen, erfolgte deshalb nicht, weil ihre Schwiegermutter, der das dort befindliche Haus gehörte, dies nicht wollte.
[3] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ohne Ermittlung der polnischen Meldevorschriften ab. Da die Klägerin und das Kind nicht an derselben Adresse gemeldet gewesen seien, lägen die Anspruchsvoraussetzungen des § 2 Abs 1 Z 2 iVm Abs 6 KBGG nicht vor.
[4] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge, hob das Ersturteil auf und verwies die Sache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Im Anlassfall bestehe nach der VO (EG) 883/2004 die Verpflichtung Österreichs zum Export von Kinderbetreuungsgeld. Zwar sei unstrittig, dass in Polen ein dem österreichischen Melderecht vergleichbares Meldesystem bestehe, andernfalls die Klägerin nicht an der Adresse B*, Polen, gemeldet hätte sein können. Träfe jedoch ihre Behauptung zu, eine Meldung am gemeinsamen Wohnsitz mit dem Kind sei ihr aus rechtlichen Gründen unmöglich gewesen, habe die Voraussetzung der „hauptwohnsitzlichen Meldung“ an derselben Adresse wie das Kind unangewendet zu bleiben. Nur wenn ihr die Meldung auch gegen den Willen ihrer Schwiegermutter möglich gewesen wäre, jedoch aus individuellen Gründen unterblieben sei, sei der Bezug von Kinderbetreuungsgeld von der Erfüllung der Voraussetzung des § 2 Abs 6 KBGG abhängig. Da das Erstgericht die relevanten polnischen Meldevorschriften nicht ermittelt habe, könne diese Frage derzeit aber nicht beurteilt werden, womit die Sache noch nicht entscheidungsreif sei.
[5] Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof ließ das Berufungsgericht mit der Begründung zu, dass zur Vergleichbarkeit des polnischen Meldesystems mit dem österreichischen Melderecht noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
[6] Gegen diese Entscheidung richtet sich der von der Klägerin beantwortete Rekurs der Beklagten, mit dem sie die Wiederherstellung des klageabweisenden Ersturteils anstrebt. Hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
Rechtliche Beurteilung
[7] Der Rekurs ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung (§ 502 Abs 1 ZPO) nicht zulässig.
[8] 1. Der Aufhebungsbeschluss orientiert sich an der im Rechtssatz RS0132841 zusammengefassten Judikatur des Obersten Gerichtshofs zur Anspruchsvoraussetzung der „hauptwohnsitzlichen Meldung“ im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 . Die Beklagte tritt dem nicht entgegen und bestreitet auch nicht, dass der dem Hauptwohnsitz nach § 1 Abs 7 MeldeG entsprechende tatsächliche Mittelpunkt der Lebensinteressen der Klägerin und ihres Kindes an der Adresse u*, Polen, lag. Sie meint allerdings, das Berufungsgericht sei von den Grundsätzen der dargestellten Judikatur abgewichen:
[9] 2. Die Beklagte stützt sich zunächst auf den von der Klägerin nicht bestrittenen Umstand, dass es in Polen ein dem österreichischen Melderecht vergleichbares Meldesystem gibt. Daraus leitet sie ab, dass es an der Klägerin gelegen gewesen wäre, sich an ihrem tatsächlichen Wohnsitz auch anzumelden. Diese Ansicht reicht zu kurz.
[10] 2.1. Zwar ist richtig, dass im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 zunächst darauf abzustellen ist, ob im jeweiligen Mitgliedstaat ein dem österreichischen Melderecht vergleichbares System existiert. Ist das zu bejahen, ist die Vornahme einer (dem österreichischen Melderecht entsprechenden) „hauptwohnsitzlichen Meldung“ nach der Ausgestaltung des ausländischen Melderechts Bedingung für den Bezug von Kinderbetreuungsgeld (RS0132841).
[11] 2.2. In seinen ausführlich begründeten Entscheidungen 10 ObS 45/19v (SSV‑NF 33/44) und 10 ObS 41/19f hat der Oberste Gerichtshof jedoch betont, dass die Voraussetzung der gemeinsamen „hauptwohnsitzlichen Meldung“ nach § 2 Abs 6 KBGG nicht nur dann unangewendet zu bleiben hat, wenn im jeweiligen Mitgliedstaat (gar) kein vergleichbares Meldesystem existiert, sondern auch, wenn es ein solches zwar gibt, dieses aber keine mit dem österreichischen Melderecht vergleichbare „hauptwohnsitzliche Meldung“ ermöglicht. Der Umstand, dass in Polen eine der Hauptwohnsitzmeldung in Österreich entsprechende Meldung grundsätzlich möglich ist, ist für sich allein daher nicht entscheidend. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Klägerin eine Meldung am gemeinsamen Wohnsitz mit dem Kind auch ohne Zustimmung ihrer Schwiegermutter erreichen hätte können (vgl 10 ObS 88/21w [Rz 22]). Davon ist das Berufungsgericht ausgegangen, sodass seine Rechtsansicht nicht zu beanstanden ist.
[12] 3. Zudem argumentiert die Beklagte, die Klägerin wäre durchaus in der Lage gewesen, sich an ihrem tatsächlichen Wohnsitz zu melden, weil nach den polnischen Meldevorschriften ihre Schwiegermutter verpflichtet gewesen wäre, den Aufenthalt der Klägerin in ihren Räumlichkeiten zu bestätigen. Die Weigerung ihrer Schwiegermutter, dieser Pflicht nachzukommen, sei daher kein rechtliches, sondern ein unbeachtliches individuelles Hindernis gewesen, das die Klägerin aus der Welt schaffen hätte können und müssen.
[13] 3.1. Dem ist nur zu erwidern, dass die Rechtslage in Polen bisher weder geklärt noch mit den Parteien erörtert wurde. Somit lässt sich derzeit weder die Behauptung der Klägerin, ihr sei eine Meldung ohne Zustimmung ihrer Schwiegermutter rechtlich unmöglich gewesen, noch die gegenteilige Behauptung der Beklagten verifizieren. Vor dem Hintergrund, dass die unterbliebene Ermittlung fremden Rechts einen Verfahrensmangel besonderer Art darstellt, der zur Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanz führt (vgl RS0116580; RS0040045), hat der Oberste Gerichtshof in vergleichbaren Konstellationen auch stets eine Verfahrensergänzung durch Ermittlung der während des relevanten Zeitraums geltenden ausländischen Meldevorschriften für erforderlich erachtet (10 ObS 45/19v SSV‑NF 33/44; 10 ObS 41/19f). Wenn das Berufungsgericht in diesem Sinn vorgeht, liegt dem keine Fehlbeurteilung zugrunde.
[14] 3.2. An der Notwendigkeit der Ermittlung der polnischen Meldevorschriften ändert auch nichts, wenn die Beklagte eigene rechtliche Schlüsse aus einzelnen, ihrer Ansicht nach anwendbaren Bestimmungen des polnischen Melderechts zieht. Abgesehen davon, dass die relevanten polnischen Bestimmungen nicht feststehen und es auch nicht auf deren Interpretation durch die Beklagte, sondern die Anwendungspraxis im Ursprungsland ankommt (vgl RS0080958; RS0113594), würde eine dem § 8 Abs 1 MeldeG entsprechende Vorschrift für eine abschließende Beurteilung der Sache auch nicht ausreichen. Träfe die Auffassung der Beklagten zu, wäre vielmehr entscheidend, ob das polnische Meldesystem auch eine dem § 15 Abs 4 MeldeG entsprechende „Ersatzvornahme“ zulässt (zu einem vergleichbaren inländischen Fall vgl jüngst LVwG Niederösterreich 17. 6. 2021, LVwG‑AV-629/001-2021). Dazu nimmt die Beklagte in ihrem Rekurs nicht Stellung.
[15] 4. Mangels Ermittlung der relevanten polnischen Meldevorschriften betrifft letztlich auch die vom Berufungsgericht formulierte Zulassungsfrage gegenwärtig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung. Eine solche könnte erst dann allenfalls vorliegen, wenn die Vergleichbarkeit konkreter ausländischer Bestimmungen mit dem österreichischen Melderecht zu beurteilen wäre (siehe etwa 10 ObS 88/21w).
[16] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Im Zwischenstreit über die mangels Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung verneinte Zulässigkeit des Rekurses gegen einen Aufhebungsbeschluss im Sinn des § 519 Abs 1 Z 2 ZPO ist die Kostenentscheidung nicht nach § 52 ZPO vorzubehalten (RS0123222). Die Klägerin hat auf die fehlende Zulässigkeit des Rekurses hingewiesen und daher Anspruch auf Kostenersatz (RS0123222 [T8]).
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