OGH 5Ob210/20y

OGH5Ob210/20y11.3.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei V*****, vertreten durch Dr. Thomas Hufnagl, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei A*****, vertreten durch die Sunder-Plaßmann Loibner & Partner Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 6.796,35 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 7. August 2020, GZ 36 R 122/20p‑36, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 20. März 2020, GZ 50 C 9/19h‑31, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0050OB00210.20Y.0311.000

 

Spruch:

Der Rekurs wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 626,52 EUR (darin 104,42 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Am 21. 5. 2014 versuchte der Beklagte einen Polizeibeamten mit Gewalt an Amtshandlungen und in weiterer Folge an seiner Festnahme zu hindern. Durch das Verhalten des Beklagten stürzten er und der Polizeibeamte zu Boden. Der Polizeibeamte erlitt dabei eine schwere Körperverletzung. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21. 10. 2014, AZ 55 Hv 114/14g, wurde der Beklagte hierfür wegen des Vergehens des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt gemäß §§ 15, 269 Abs 1 dritter Fall StGB sowie des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung gemäß § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

[2] Die Klägerin ist die Unfall- und Krankenversicherin des Polizeibeamten. Im Zusammenhang mit den Verletzungsfolgen aus dem Vorfall vom 21. 5. 2014 erbrachte sie Leistungen in Höhe von insgesamt 6.796,53 EUR. Mit ihrer Klage vom 12. 12. 2018 begehrte sie vom Beklagten deren Ersatz.

[3] Der Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Die Schadenersatzforderung sei verjährt, weil diese aus der fahrlässig begangenen Körperverletzung resultiere. Sie hätte daher gemäß § 127 B‑KUVG iVm § 1489 erster Satz ABGB binnen drei Jahren ab Kenntnis von Schaden und Schädiger gerichtlich geltend gemacht werden müssen.

[4] Die Klägerin entgegnete, der Schaden sei aus einer gerichtlich strafbaren Handlung entstanden, die nur vorsätzlich begangen werden könne und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht sei. Es gelte somit die lange Verjährungsfrist nach § 1489 zweiter Satz ABGB. Die Forderung sei daher nicht verjährt.

[5] Das Erstgericht wies die Klage ab.

[6] Das Erstgericht sei an den rechtskräftigen Urteilsspruch des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21. 10. 2014 gebunden. Der Widerstand gegen die Staatsgewalt nach § 269 Abs 1 dritter Fall StGB erfülle die Voraussetzungen des § 1489 Satz 2 zweiter Fall ABGB, die fahrlässige Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB hingegen nicht. Es sei von einer echten Idealkonkurrenz dieser beiden Tatbestände auszugehen, sodass zwei rechtlich eigenständige Delikte vorlägen, die durch eine Tathandlung erfüllt worden seien. § 1489 Satz 2 zweiter Fall ABGB stelle explizit auf „gerichtlich strafbare Handlungen“ und nicht auf den einheitlichen Lebenssachverhalt ab. Daher seien die beiden verwirklichten Delikte für die Frage der Verjährungsfrist getrennt voneinander zu betrachten. § 1489 Satz 2 zweiter Fall ABGB setze voraus, dass der Schaden aus entsprechend qualifizierten gerichtlich strafbaren Handlungen „entstanden“ sei. Der dem Schadenersatzanspruch der Klägerin zugrunde liegende Schaden sei in diesem Sinn allein aus der bloß fahrlässig begangenen Körperverletzung erwachsen, nicht aus der Widerstandshandlung iSd § 269 Abs 1 dritter Fall StGB. Kausalität alleine reiche für die Begründung der 30‑jährigen Verjährungsfrist nach § 1489 Satz 2 zweiter Fall ABGB nicht aus. § 1489 Satz 2 zweiter Fall ABGB sei auf den hier zu beurteilenden Fall nicht anzuwenden, was auch mit dem Normzweck des § 1489 Satz 2 zweiter Fall ABGB und seinem Ausnahmecharakter konform gehe. Ausgehend von der dreijährigen Verjährungsfrist nach § 1489 erster Satz ABGB sei die Geltendmachung der Schadenersatzansprüche verspätet gewesen.

[7] Das Berufungsgericht hob das Ersturteil über Berufung der Klägerin auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.

[8] Die Bindung an eine strafrechtliche Verurteilung bedeute nicht, dass das Zivilgericht keinen für den Schädiger ungünstigeren Tatbestand und keine strengere strafrechtliche Handlung annehmen könne als das Strafgericht in seinem Strafurteil. Die Klägerin habe nicht nur vorgebracht, der Verletzungserfolg des bei ihr unfall- und krankenversicherten Polizeibeamten sei vom Beklagten durch die widerrechtliche Anwendung von Gewalt gegen diesen herbeigeführt worden, wodurch der Beklagte den Tatbestand des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt gemäß §§ 15, 269 Abs 1 dritter Fall StGB, sohin eine gerichtlich strafbare Handlung, die nur vorsätzlich begangen werden könne und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht sei, verwirklicht habe. Die Klägerin habe auch vorgebracht, der Beklagte habe bei seiner Gewaltanwendung gegen den Polizeibeamten mit Misshandlungsvorsatz gehandelt. Das Erstgericht habe dazu keine Beweise aufgenommen und auch keine Feststellungen zur subjektiven Tatseite des Beklagten getroffen. Diese wären aber insofern relevant, als bei Misshandlungsvorsatz der Tatbestand des § 84 Abs 1 und 2 StGB verwirklicht hätte sein können, der als Vorsatztat iSd § 1489 ABGB zu qualifizieren sei und eine Strafdrohung bis zu drei Jahren vorsehe.

[9] Demgegenüber sei dem Erstgericht darin zu folgen, dass der hier geltend gemachte Schaden nicht unmittelbar aus dem Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt iSd § 269 StGB, sondern aus der nach dem Strafurteil fahrlässig ohne Misshandlungsvorsatz begangenen Körperverletzung herrühre. § 269 StGB könne in echte Konkurrenz mit einer Körperverletzung treten, nicht jede Begehung des § 269 StGB führe dazu, dass im Zug der ausgeübten Gewalt schon zwangsläufig der Tatbestand nach §§ 83, 84 Abs 2 StGB vorliege. Der Vorsatz, die Amtshandlung mit Gewalt zu verhindern, schließe keineswegs Verletzungsvorsatz oder auch nur Misshandlungsvorsatz in sich. Es komme vielmehr auch ein Zusammentreffen mit § 88 StGB in Betracht. Das Delikt des § 269 StGB liege auch nicht in qualifizierter Form vor, wenn eine Körperverletzung eingetreten sei. Den Schutz des § 269 StGB genieße außerdem nur die als Amtshandlung bezeichnete Tätigkeit der Behörde und des Beamten. Zur Frage, ob der Schaden, der aus einer Körperverletzung resultiert, die fahrlässig bei Erfüllung des Tatbestands des § 269 Abs 1 dritter Fall StGB begangen wurde, iSd § 1489 ABGB auch aus der strafbaren Handlung des Widerstands gegen die Staatsgewalt entstanden ist und damit zur 30-jährigen Verjährungsfrist führt, fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Daher sei der Rekurs nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO zuzulassen.

[10] Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich der Rekurs des Beklagten mit dem Antrag, die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

[11] Der Kläger beantragt in seiner Rekursbeantwortung, den Rekurs als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweisediesem nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[12] Der Rekurs ist – entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts (§ 526 Abs 2 Satz 2 ZPO) – nicht zulässig. Der Beklagte macht keine Rechtsmittelgründe geltend, deren Erledigung von der Lösung erheblicher Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO abhängt.

[13] 1. Die Klägerin stützt ihren Schadenersatzanspruch auf die Legalzession nach § 125 B‑KUVG. Eine solche Legalzession ändert die Rechtsnatur des Anspruchs und die für ihn geltende Verjährungsfrist nicht (RIS-Justiz RS0034514; RS0080594; M. Bydlinski in Rummel, ABGB3 § 1489 ABGB Rz 2b).

[14] 2. Die 30-jährige Verjährungsfrist des § 1489 Satz 2 zweiter Fall ABGB gilt dann, wenn der Ersatzanspruch aus einer gerichtlich strafbaren Handlung stammt, die nur vorsätzlich begangen werden kann und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen kommt es auf die konkrete vom Täter – gerade dem Geschädigten gegenüber (RS0034432 [T2]) – verwirklichte Straftat an (RS0120829).

[15] 3. Eine strafgerichtliche Verurteilung ist für die Anwendung der 30-jährigen Verjährungsfrist des § 1489 Satz 2 zweiter Fall ABGB nicht erforderlich (RS0034432). Die materielle Rechtskraft einer allfälligen strafgerichtlichen Verurteilung bewirkt aber, dass für den Rechtskreis des Verurteilten mit absoluter Wirkung, somit gegenüber jedermann, bindend festgestellt ist, dass der Verurteilte die strafbare Handlung entsprechend den konkreten Tatsachenfeststellungen des Strafurteils rechtswidrig und schuldhaft begangen hat. Er kann sich im nachfolgenden Rechtsstreit einer anderen Partei gegenüber daher nicht darauf berufen, dass er eine Tat, derentwegen er strafgerichtlich verurteilt wurde, nicht begangen habe, gleichviel ob der andere am Strafverfahren beteiligt war oder in welcher verfahrensrechtlichen Stellung er dort aufgetreten ist (RS0074219; RS0112232; vgl RS0130452).

[16] Der Zivilrichter kann daher keine von einem Strafurteil abweichenden Feststellungen über den Nachweis der strafbaren Handlung, ihre Zurechnung und den Kausalzusammenhang zwischen der strafbaren Handlung und ihren Folgen treffen. Es besteht jedenfalls insoweit Bindung an das strafgerichtliche Erkenntnis, als davon auszugehen ist, dass die im Strafurteil festgestellte Tat tatsächlich vom Verurteilten begangen wurde und dass dessen tatsächliche Handlungen für den Schadenserfolg kausal waren (RS0113561; RS0040190 [T3]).

[17] Nach der – auch nach Aufhebung des § 268 ZPO weiter anzuwendenden – Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann der Zivilrichter allerdings zu einer für den Schädiger ungünstigeren Beurteilung als der Strafrichter kommen (Garber in Schwimann/Neumayr, ABGB Taschenkommentar5 § 1489 ABGB Rz 11; R. Madl in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.06 § 1489 Rz 22; Vollmaier in Klang³ § 1489 Rz 46). Der Zivilrichter kann dem Verurteilten also über die im verurteilenden Straferkenntnis festgestellten, tatbestandserheblichen Tatsachen hinaus weitergehende Handlungen oder ein schwerwiegenderes Verschulden anlasten (vgl zur Rechtslage vor Aufhebung des § 268 ZPO: RS0040314; RS0040323; RS0022755; RS0034390; RS0040226). Er ist an das Strafurteil etwa insoweit nicht gebunden, als dieses einen bestimmten Umstand zugunsten des Verurteilten nicht als erwiesen angenommen hat und deshalb – so wie hier – den Verurteilten nur wegen eines fahrlässigen und nicht wegen eines vorsätzlichen Delikts verurteilt hat (vgl 8 Ob 29/65 mwN). Einem Geschädigten steht es daher offen, im nachfolgenden Zivilverfahren das Vorliegen einer in diesem Sinn über die strafgerichtliche Verurteilung hinausgehenden qualifizierten strafbaren Handlung iSd § 1489 Satz 2 zweiter Fall ABGB zu behaupten und zu beweisen.

[18] 4.  Das Berufungsgericht hat diese Grundsätze zutreffend dargestellt und auf den vorliegenden Einzelfall angewandt. Der Rekurswerber macht geltend, die dem Erstgericht als Folge dessen aufgetragene Prüfung, ob der Beklagte nicht doch eine gerichtlich strafbare Handlung begangen habe, die nur vorsätzlich begangen werden könne und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht sei, verstoße gegen das Doppelverfolgungsverbot nach Art 4 7. ZPMRK und Art 50 Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

[19] Das – an den Staat gerichtete – Doppelverfolgungsverbot bezieht sich nur auf Verfahren mit einem strafrechtlichen Charakter (vgl EGMR 8. 7. 2019, 54012/10 [Mihalache gg Rumänien]) und gilt schon nach seinem klaren Wortlaut nicht im Verhältnis zu Zivilverfahren. Zu dieser Frage mag zwar noch keine ausdrückliche Stellungnahme des Obersten Gerichtshofs vorliegen. Diese ist aber aufgrund der Klarheit der gesetzlichen Regelungen und den bereits bestehenden Grundsätzen höchstgerichtlicher Rechtsprechung zu den Beschränkungen der Bindungswirkung so eindeutig zu beantworten, dass keine ernstlichen Zweifel bestehen können. Eine erhebliche Rechtsfrage stellt sich damit nicht (RS0042656).

[20] 5. Das Berufungsgericht begründete die Zulässigkeit des Rekurses mit dem Fehlen höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage, ob eine Körperverletzung, die fahrlässig bei Erfüllung des Tatbestands des § 269 Abs 1 dritter Fall StGB begangen wurde, als ein aus der strafbaren Handlung des Widerstands gegen die Staatsgewalt entstandener Schaden zu qualifizieren ist, der zur Anwendung des § 1489 Satz 2 zweiter Fall ABGB führt.

[21] Ein Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof ist nur dann zulässig, wenn der Rechtsmittelwerber eine erhebliche Rechtsfrage aufwirft, bei deren Beurteilung er von der Rechtsansicht der zweiten Instanz abweicht (RS0102059 [T13]; RS0043817). In Bezug auf die vom Rekursgericht als erheblich bezeichnete Rechtsfrage teilt der Rekurswerber die für seinen Rechtsstandpunkt günstige Rechtsansicht der Vorinstanzen. Da der Oberste Gerichtshof nicht dazu berufen ist, theoretisch zu einer Rechtsfrage, deren Lösung durch die zweite Instanz vom Rechtsmittelwerber gar nicht bestritten wird, Stellung zu nehmen, ist auf diese Frage daher nicht weiter einzugehen (RS0102059 [T18]; RS0048272).

[22] 6. Ein Rekurs gegen einen Beschluss nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO ist zurückzuweisen, wenn der Rechtsmittelwerber – wie hier – nur Gründe geltend macht, deren Erledigung nicht von der Lösung erheblicher Rechtsfragen abhängt (RS0102059; RS0048272 [T8, T11]; RS0080388 [T1]).

[23] 7. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Im Zwischenstreit über die mangels erheblicher Rechtsfrage verneinte Zulässigkeit eines Rechtsmittels gegen einen Aufhebungsbeschluss iSd § 519 Abs 1 Z 2 ZPO findet kein Kostenvorbehalt statt (RS0123222). Die Klägerin hat in ihrer Rekursbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rekurses des Beklagten hingewiesen (RS0123222 [T8]).

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