European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00149.20I.1215.000
Spruch:
1. Der außerordentliche Revisionsrekurs wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
2. Der Antrag auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens wird zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Der sich selbst als „Antragsteller“ bezeichnende, Kläger begehrte – gestützt auf die Verordnung (EG) 883/2004 sowie deren Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 – von der beklagten Rechtsanwaltskammer Vorarlberg ab 1. 11. 2014 vorläufige monatliche (Vorschuss‑)Leistungen. Die Beklagte habe über seinen im Jahr 2012 gestellten Antrag auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension entschieden. Zur Entscheidung in Sozialrechtssachen seien die ordentlichen Gerichte berufen. Vorgelegt wurde unter anderem ein Beschluss der Vorarlberger Rechtsanwaltskammer vom 30. 7. 2013, mit dem dem Kläger über dessen Vorstellung gegen den Bescheid vom 8. 5. 2013 eine Berufsunfähigkeitspension befristet vom 1. 6. bis 30. 11. 2013 zuerkannt worden war.
[2] Die Vorinstanzen verneinten die Zulässigkeit des Rechtswegs. Sämtliche Begehren des Klägers wurden zurückgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
[3] 1. Der Kläger hat sich ausdrücklich auf die Zuständigkeit des Arbeits‑ und Sozialgerichts berufen. Rechtsmittelzulässigkeit sowie sonstige prozessuale Fragen richten sich nach der von ihm gewählten Verfahrensart, somit nach der ZPO in Verbindung mit dem ASGG. Der Revisionsrekurs gegen die Bestätigung der Klagszurückweisung ist nach § 528 Abs 2 Z 2 ZPO nicht jedenfalls unzulässig. Seine Zulässigkeit hängt nach § 528 Abs 1 ZPO vom Vorliegen einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung ab, die hier jedoch nicht aufgezeigt wird.
[4] 2.1 Nach dem für die Beurteilung der Zulässigkeit des ordentlichen Rechtswegs maßgeblichen (RIS‑Justiz RS0045644; RS0045584; RS0005896 ua) Klagsvorbringen begehrte der Kläger aufgrund seiner Berufsunfähigkeit (vorläufige) Leistungen aus einer Versorgungseinrichtung der örtlich zuständigen Rechtsanwaltskammer. Ob eine Rechtssache vor ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde gehört, richtet sich in erster Linie nach den positiven Anordnungen des Gesetzgebers, die eine Sache ausdrücklich den Verwaltungsbehörden oder den Gerichten zuweisen (vgl RS0045438).
[5] 2.2 Rechtsanwaltskammern sind nach § 22 Abs 2 RAO Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie haben nach § 49 Abs 1 RAO Einrichtungen zur Versorgung der Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter unter anderem für den Fall des Alters und der Berufsunfähigkeit mit einer zu beschließenden Satzung zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Über einen Antrag auf Gewährung von Leistungen aus der Versorgungseinrichtung hat der Ausschuss der Rechtsanwaltskammer gemäß § 54 RAO mit Bescheid zu entscheiden (10 ObS 76/10i EvBl 2010/140, 959 [Hackl] = SSV‑NF 24/45). Dagegen steht die Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Landes offen (§ 23 Abs 9 RAO). Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts des Landes besteht schließlich die Möglichkeit der Revision an den Verwaltungsgerichtshof (Art 133 B‑VG) oder der Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (Art 144 B‑VG).
[6] 2.3. Nach der (zum Teil) auf Basis der Rechtslage vor der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl I 2012/51, ergangenen Rechtsprechung sowohl der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts als auch des Obersten Gerichtshofs ist über Leistungsansprüche aus Versorgungseinrichtungen der Kammern der freien Berufe (hier Rechtsanwaltskammer) im Verwaltungsweg zu entscheiden, eine Zuständigkeit der Arbeits- und Sozialgerichte im Weg der sukzessiven Kompetenz nach § 65 Abs 1 ASGG ist nicht gegeben (VfGH: B 1136/91 VfSlg 13054 [Rechtsanwaltskammer – Versorgungsrente], B 798/94, VfSlg 14682 [Ärztekammerpension], B 1989/06, VfSlg 18625 [Rechtsanwaltskammer – Ruhen einer Altersrente]; VwGH: 25. 5. 2016, Ro 2015/11/0017 [Ärztekammer – Gewährung der Krankenunterstützung], 21. 9. 2017, Ra 2017/11/0146; 8. 3. 2018, Ra 2018/11/0038, 13. 3. 2019, Ra 2019/11/0021 [jeweils Ärztekammer – Hinterbliebenenversorgung], 20. 3. 2018, Ra 2018/03/0001 [Rechtsanwaltskammer – Ruhen einer Altersrente]; OGH: 10 Ob S 76/10i EvBl 2010/140, 959 [Hackl) = SSV-NF 24/45, RS0125924, mit ausdrücklicher Ablehnung einer Analogie zu § 65 ASGG [Rechtsanwaltskammer – Versorgungsleistungen]).
[7] 2.4 Die gegenteilige, vereinzelt gebliebene, Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 24. 10. 2019, 4 Ob 163/19b, RS0132866, die analog § 65 Abs 1 Z 2 ASGG die Klage einer Arztwitwe gegen die zuständige Ärztekammer auf Zahlung angeblich unberechtigter Abzüge der sukzessiven Zuständigkeit der Arbeits‑ und Sozialgerichte unterwarf, lehnt der 10. Senat ausdrücklich ab (siehe dazu ausführlich Julcher/Neumayr, Ein spätes Aufflammen der sukzessiven Zuständigkeit – Überlegungen aus Anlass von OGH 24. 10. 2019, 4 Ob 163/19b, JAS 2020, 274 ff).
[8] 2.5 Der Kläger begehrt in seinem verfahrenseinleitenden Schriftsatz die Zuerkennung vorläufiger Leistungen auf die im Verwaltungsverfahren von der Rechtsanwaltskammer bisher nur befristet von 1. 6. bis 30. 11. 2013 zuerkannten Berufsunfähigkeitspension ab 1. 11. 2014. Er erklärte ausdrücklich, keinen Bescheid zu bekämpfen, sondern nach Unionsrecht eine Leistung zu begehren. Wie schon das Rekursgericht zutreffend ausgeführt hat, schafft das Sozialrecht der Europäischen Union gerade kein einheitliches, harmonisiertes europäisches System der sozialen Sicherheit. Es lässt unterschiedliche nationale Systeme bestehen und soll diese nur koordinieren, um die wirksame Ausübung der Freizügigkeit (Art 45 f AEUV) sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten sind daher nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Union weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig (10 ObS 21/20s mwN). Weder die Verordnung (EG) 883/2004 noch die Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 verpflichten die Mitgliedstaaten zur Schaffung eines prozessualen Systems, in dem ausschließlich „ordentliche Gerichte“ über ein erstmals erhobenes Begehren auf Pensionsleistungen aufgrund verminderter Arbeitsfähigkeit zu entscheiden haben. Ob der Anwendungsbereich der genannten Verordnungen überhaupt eröffnet ist, kann dahingestellt bleiben.
[9] 2.6 Der erkennende Senat sieht sich daher nicht zu der beantragten Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens veranlasst. Mangels subjektiven Rechts einer Partei auf Einleitung eines derartigen Verfahrens ist der darauf gerichtete Antrag des Revisionsrekurswerbers zurückzuweisen (RS0056514 [T14]; RS0058452 [T21]).
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