OGH 2Ds2/19w

OGH2Ds2/19w4.7.2019

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Richter und Staatsanwälte hat am 4. Juli 2019 durch die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende, die Senatspräsidenten Prof. Dr. Danek, Dr. Schwab und Dr. Jensik und den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Rathgeb als Schriftführerin in der Disziplinarsache gegen den Richter des Landesgerichts ***** ***** über dessen Berufung wegen des Ausspruchs über Schuld, Strafe und den Kostenersatz sowie des Disziplinaranwalts wegen des Ausspruchs über die Strafe gegen das Erkenntnis des Oberlandesgerichts Graz vom 30. Oktober 2018, GZ 112 Ds 7/18m‑20, nach mündlicher Berufungsverhandlung in Anwesenheit der Vertreterin des Generalprokurators, Erste Generalanwältin Prof. Dr. Aicher, des Beschuldigten und dessen Verteidigers Dr. Subarsky, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0020DS00002.19W.0704.000

 

Spruch:

 

1. Der Berufung des Beschuldigten wegen Schuld und Strafe wird nicht Folge gegeben.

2. Der Berufung des Disziplinaranwalts wird dahin Folge gegeben, dass eine Geldstrafe von einem Monatsbezug verhängt wird.

3. Der Berufung des Beschuldigten wegen Ausspruchs des Kostenersatzes wird durch Festsetzung eines erstinstanzlichen Kostenersatzes von 600 Euro Folge gegeben.

4. Der Beschuldigte hat die mit 300 Euro bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens zu ersetzen.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde der Beschuldigte eines Dienstvergehens (§ 101 Abs 1 RStDG) schuldig erkannt. Danach hat er als Richter des Landesgerichts ***** im Zeitraum vom 1. Jänner 2015 bis 1. April 2018

1. nach Schluss der Verhandlung unter grober Missachtung der in § 415 ZPO vorgesehenen Frist das Urteil

a) in 17 Verfahren nach mehr als sechs und

b) in 35 Verfahren nach vier bis sechs Monaten ausfertigte, sowie

2. in acht näher bezeichneten streitigen Rechtssachen unvertretbare Verfahrensstillstände bewirkt, und zwar zwei Mal neun Monate, fünf Mal sieben Monate und ein Mal sechs Monate;

und hiedurch die in § 57 Abs 1 RStDG normierte Pflicht, sich mit voller Kraft und allem Eifer dem Dienst zu widmen, die Pflichten seines Amts gewissenhaft zu erfüllen und die ihm übertragenen Amtsgeschäfte so rasch wie möglich zu erledigen, verletzt.

Gemäß § 104 Abs 1 lit b RStDG wurde über ihn eine Geldstrafe in Höhe von 3.600 Euro verhängt und er gemäß § 137 Abs 2 RStDG zum Ersatz der mit 750 Euro bestimmten Verfahrenskosten verpflichtet.

Dagegen richtet sich die Berufung des Beschuldigten wegen des Ausspruchs über die Schuld, die Strafe und den Kostenersatz, während der Disziplinaranwalt Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe zum Nachteil des Beschuldigten erhebt.

Zur Berufung des Beschuldigten wegen des Ausspruchs über die Schuld:

Rechtliche Beurteilung

Der Verzicht des RStDG auf die in der StPO vorgesehene Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe bedeutet, dass der von den Kategorien der (die Schuldfrage betreffenden) Nichtigkeitsgründe erfasste Fehlerbereich von der Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld erfasst wird (§ 139 Abs 1 erster Fall RStDG). Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld meint demnach im RStDG die Berufungspunkte des § 464 Z 1 und 2 erster Fall StPO (RIS‑Justiz RS0128656).

Da für Berufungen nach der StPO (mit Ausnahme jener wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe [§ 464 Z 1 StPO]) keine Begründungsobliegenheit, vielmehr nur eine Obliegenheit gilt, den Berufungspunkt zu bezeichnen, für die Berufung gegen Disziplinarerkenntnisse aber neben dieser (§ 139 Abs 1 RStDG) auch die Obliegenheit gilt, „die Umstände, durch die 'der Berufungspunkt' begründet werden soll, bestimmt anzugeben“ (§ 139 Abs 2 RStDG), besteht Bindung an das Berufungsvorbringen. Das RStDG verzichtet auf eine dem § 89 Abs 2b StPO vergleichbare Vorschrift, wonach eine Bindung an die „Beschwerdepunkte“ nicht bestehe (RIS‑Justiz RS0128657).

Zunächst bekämpft die Berufung die Feststellung, wonach dem Beschuldigten nicht bloß seine Bearbeitungsrückstände sowie seine Arbeitsstörung bewusst waren, sondern er es auch als naheliegend annahm, dass er aus eigener Kraft die Rückstände nicht mehr abarbeiten und keinen rückstandsfreien Erledigungsstand mehr erreichen kann und er sich mit seinen chronischen Verfahrensverzögerungen abfand, als mangelhaft und als Ergebnis einer unrichtigen oder unvollständigen Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung. Er vermag allerdings keinen Begründungsmangel im Sinn des § 281 Abs 1 Z 5 StPO aufzuzeigen. Der Beschuldigte behauptet gar nicht, dass er an der Stellung eines Antrags auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens gehindert war (vgl 2 Ds 1/18x; vgl RIS‑Justiz RS0115823). Die in § 467 Abs 1 StPO vorgesehene Möglichkeit zum Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel zur Schuldfrage noch im Rechtsmittelverfahren findet sich im RStDG – angesichts kollegialer Besetzung des Erstgerichts systemgerecht – nicht (RIS‑Justiz RS0129296).

Der Vorwurf, das Erstgericht habe sich in seiner Beweiswürdigung nicht mit der im Rahmen der Aussage des Beschuldigten vorgelegten Bestätigung seines Psychotherapeuten und der sich daraus ergebenden positiven Zukunftsprognose auseinandergesetzt, geht ins Leere, hat sich das Erstgericht doch in seiner ausführlichen und nachvollziehbaren Beweiswürdigung auch mit der vom Beschuldigten seit 2014 in Anspruch genommenen psychotherapeutischen Betreuung und Behandlung befasst. Darüber hinaus ist nicht erkennbar, warum der vom Beschuldigten behauptete Glaube, „auf einem guten Weg zu sein“ sowie die auf den Angaben des Beschuldigten beruhende Einschätzung seines Therapeuten den vom Erstgericht aus dem auch vom Beschuldigten in objektiver Hinsicht nicht bestrittenen Verfahrens‑ und Urteilsausfertigungsverzögerungen gezogenen Schlussfolgerungen zwingend entgegenstehen sollten.

Die vom Beschuldigten anstelle der getroffenen Feststellung über seine Kenntnis der problematischen Arbeitssituation an deren Stelle oder in Ergänzung gewünschten Feststellungen über die Verringerung der Urteilsausfertigungsrückstände sind ohne Relevanz, weil dieser Verringerung die zahlenmäßige Erhöhung der Verfahrensverzögerungen gegenübersteht, sodass von einer wesentlichen Verbesserung der Gesamtsituation nicht ausgegangen werden kann. Es ist daher auch der von der Berufung gewünschte Schluss auf eine vom Beschuldigten behauptetermaßen erkannte Besserungstendenz nicht möglich.

Auf mit der Berufung vorgelegte Urkunden ist im Hinblick auf das Neuerungsverbot nicht weiter einzugehen (RIS‑Justiz RS0129296, RS0099117, RS0099618).

Ausgehend von den erstgerichtlich getroffenen Feststellungen versagt auch die Rechtsrüge. Die gesetzmäßige Ausführung eines materiell‑rechtlichen Nichtigkeitsgrundes hat das Festhalten am gesamten im Urteil festgestellten Sachverhalt, dessen Vergleich mit dem darauf anzuwendenden Gesetz und die Behauptung, dass das Erstgericht bei Beurteilung dieses Sachverhalts einem Rechtsirrtum unterlegen ist, zur Voraussetzung (RIS‑Justiz RS0099810). Um Verfahrensverzögerungen das Gewicht eines Dienstvergehens zu verleihen, ist Vorsatz oder auffallende Sorglosigkeit erforderlich (RIS‑Justiz RS0117052 [T2]). Wer als Richter vorsätzlich Verfahren verzögert, handelt auch dann seiner aus § 57 Abs 1 zweiter Satz RStDG abzuleitenden Verpflichtung zu (objektiv) raschest möglicher Erledigung zuwider, wenn er in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist, es aber unterlässt, geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung seiner vollen Leistungsfähigkeit (sei es organisatorischer, sei es medizinisch‑therapeutischer Art) zu ergreifen oder bei Unfähigkeit zur Pflichterfüllung als Richter die gebotenen Schritte zu setzen (vgl §§ 83 Abs 2, 91 Abs 1 RStDG; Ds 5/07 = RIS‑Justiz RS0117052 [T3]). Die in der Berufung mehrfach wiederholte Behauptung, Aktenrückstände seien auf psychische Belastung und azyklische Arbeitsweise zurückzuführen, was nicht als grobe Sorglosigkeit zu beurteilen sei, weil für den Beschuldigten nicht zu erkennen gewesen sei, dass die in Anspruch genommene Psychotherapie nicht zweckentsprechend wäre, lässt die erstgerichtlichen Feststellungen über die anwachsenden Rückstände sowie weiters außer Acht, dass sich der Beschuldigte damit abfand.

Der Vorwurf, das im Spruch vorgeworfene Verhalten sei nicht ausreichend konkretisiert, geht angesichts der umfassenden Aufzählung der näher bezeichneten Verfahren und der konkreten Angabe der Dauer der jeweils angelasteten Verzögerung ins Leere.

Ausgehend von den erstinstanzlichen Feststellungen trifft – der Berufung zuwider – die rechtliche Beurteilung des Disziplinargerichts zu, dass der Beschuldigte in einer Vielzahl von Verfahren durch die festgestellten Ausfertigungs‑ und Verfahrensverzögerungen über mehr als vier Monate und in einer Reihe von Verfahren auch über mehr als sechs Monate nach Art und Schwere ein Dienstvergehen nach § 101 Abs 1 erster Fall RStDG begangen hat.

Zu den Berufungen des Beschuldigten und des Disziplinaranwalts wegen des Ausspruchs über die Strafe:

Für die Strafbemessung ist die Art und Schwere der Pflichtverletzung maßgebend, wobei auch auf Erwägungen der Spezial‑ und Generalprävention Rücksicht zu nehmen ist (2 Ds 1/18x; 2 Ds 6/17f, je mwN). Das Disziplinargericht erster Instanz hat die Strafzumessungsgründe im Wesentlichen zutreffend dargestellt.

Von einer unzulässigen Doppelverwertung im Hinblick auf den angelasteten langen Zeitraum einerseits und die lange Dauer der Verfahrensverzögerungen andererseits kann keine Rede sein. Dem Beschuldigten ist vorzuwerfen, dass die einzelnen von ihm zu verantwortenden Verfahrensverzögerungen besonders lang andauerten und es darüber hinaus in einem langen Zeitraum (mehrere Jahre) immer wieder zu diesen beträchtlichen Verzögerungen kam. Ungeachtet der rechtlichen Zusammenfassung der Tathandlungen zu einem Dienstvergehen nach § 101 Abs 1 RStDG durfte das Disziplinargericht deren Wiederholung vorliegend als erschwerend werten (vgl Ds 26/13 mwN), weil diese hier – auch aus der Sicht des Obersten Gerichtshofs – das für eine Qualifikation zum Dienstvergehen erforderliche Ausmaß deutlich übersteigt (vgl Ds 26/13 mwN).

Das vom Beschuldigten ins Treffen geführte „zum objektiven Tatbild abgegebene umunwundene Geständnis“ kann im Hinblick auf die von der Justizverwaltung geschaffene Sachverhaltsgrundlage nicht als wesentlicher Beitrag zur Wahrheitsfindung gewertet werden. Zwar ist die nunmehr gezeigte Bereitschaft, sich zusätzlich zur bisher in Anspruch genommenen – objektiv aber weitgehend unwirksamen – Therapie nunmehr auch einer Rehabilitationsmaßnahme zu unterziehen, zu Gunsten des Beschuldigten zu werten, das von der Berufung begehrte Absehen vom Ausspruch über die Verhängung einer Disziplinarstrafe (§ 101 Abs 3 RStDG) sowie der bloße Ausspruch der Disziplinarstrafe des Verweises (§ 104 Abs 1 lit a RStDG) kommt aber im Hinblick auf das Gewicht der Taten und deren mehrfache Wiederholung nicht in Betracht.

Die verhängte Geldstrafe von 3.600 Euro ist– auch unter Berücksichtigung aktueller finanzieller Belastungen des Beschuldigten – einer Reduktion nicht zugänglich. Vielmehr erachtet der Oberste Gerichtshof – der die Vielzahl an Urteilsrückständen und unvertretbaren Verfahrensstillständen, die zum Teil sehr lange Dauer der Verfahrensverzögerungen, die lange Vorgeschichte und Wirkungslosigkeit langjähriger Maßnahmen intensiver Dienstaufsicht sowie anknüpfende Erwägungen der Spezial- und Generalprävention betonenden Berufung des Disziplinaranwalts folgend – eine Erhöhung der Sanktion auf einen Monatsbezug für geboten, damit sie Tatunrecht und Täterschuld, die als gravierend einzustufen sind, sowie auch Belangen der Spezial‑ und Generalprävention hinreichend gerecht wird.

Zur Berufung des Beschuldigten wegen des Ausspruchs über den Kostenersatz:

Wird über den Beschuldigten eine Disziplinarstrafe verhängt, so ist gemäß § 137 Abs 2 RStDG im Erkenntnis auszusprechen, ob und inwieweit er mit Rücksicht auf die Verfahrensergebnisse und seine Vermögensverhältnisse die Kosten des Verfahrens zu ersetzen hat. Anders als im Strafverfahren (§ 389 StPO) ist also nicht nur eine grundsätzliche Verpflichtung oder Nichtverpflichtung zum Kostenersatz auszusprechen, sondern (im Fall der Verpflichtung) auch gleichzeitig die Höhe der Kosten festzusetzen. Der Verfahrensaufwand in erster Instanz war hier so gering, dass die Kostenentscheidung des Oberlandesgerichts entsprechend zu korrigieren war.

Die Entscheidung nach § 137 Abs 2 iVm § 140 Abs 3 letzter Satz RStDG ist im Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof und den Vermögensverhältnissen des Beschuldigten begründet.

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