OGH 7Ob80/19v

OGH7Ob80/19v12.6.2019

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des mj Bewohners J* B*, geboren am * 2009, p.A. *, vertreten durch die Mutter J* B*, sowie den Verein VertretungsNetz – Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, 1050 Wien, Ziegelofengasse 33/1/3 (Bewohnervertreter DSA M* H*), dieser vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, Pflege und Erziehung Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, MA 11), 1120 Wien, Simone-de-Beauvoir-Platz 6, Einrichtungsleiterin R* S* als Leiterin des Schulzentrums *, wegen § 3 HeimAufG über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 25. Februar 2019, GZ 43 R 80/19m‑31, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 19. Dezember 2018, GZ 70 Ha 3/18y‑13, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E125452

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.

Der Beschluss des Rekursgerichts – der im Umfang der Bestätigung des erstgerichtlichen Beschlusses in Pkt 1., Pkt. 2. im Umfang der Unzulässigerklärung der freiheitsbeschränkenden Maßnahme „körperlicher Zugriff/Festhalten“ vom 18. 9. 2018 bis 6. 11. 2018 und in Pkt. 3. betreffend die Verabreichung der Einzelmedikation von Riperdal 1 mg Tbl am 19. 9. 2018, der Anordnung der Tür/Raumgestaltung, Barriere – TIME OUT Raum vom 18. 9. 2018 bis 26. 10. 2018 und der Maßnahme „versperrter Bereich“ vom 17. 9. 2018 bis aktuell in Rechtskraft erwachsen ist – wird hinsichtlich der Bestätigung der Abweisung des Unzulässigerklärungsantrags der Dauermedikation in Pkt. 3. des erstgerichtlichen Beschlusses in Bezug auf Risperidon 1 mg Tbl zu Mittag von 29. 9. bis 2. 10. 2018, von Risperidon 1 mg Tbl zu Mittag und Nozinan 25 mg Tbl zu Mittag von 2. 10. bis 15. 10. 2018 sowie von Nozinan 25 mg Tbl um 12:00 Uhr und um 15:30 Uhr seit 16. 10. 2018, bestätigt.

Hinsichtlich der Zulässigerklärung der freiheitsbeschränkenden Maßnahmen „körperlicher Zugriff/Festhalten“ vom 7. 11. 2018 bis 19. 6. 2019 in Pkt. 2. des erstinstanzlichen Beschlusses hingegen werden die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und die Sache wird insoweit an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.

 

Begründung:

Beim Minderjährigen liegen ein intellektuelles Defizit und eine Entwicklungsstörung mit höhergradigen schulischen Teilleistungsstörungen, schwersten Verhaltensstörungen und emotionaler Störung (ADHS) vor. Dies äußert sich vielschichtig durch erhebliche Selbstgefährdung und durch häufige Phasen von erhöhter Fremdgefährdung. Für den Minderjährigen ist ein komplexer kombinierter Behandlungsmodus pharmakologisch, sozialpädagogisch und förderungsorientiert erforderlich. Vor allem in den Phasen der Affektdurchbrüche und der Impulshaftigkeit ist seine Kritik- und Einsichtsfähigkeit aufgehoben. Er ist sehr impulsiv, unruhig, laut und braucht sehr viel Aufmerksamkeit; es gelingt ihm selten länger als 10 Minuten ruhig zu sitzen und seine Aufmerksamkeit zu fokussieren. Außerdem hat er eine niedrige Frustrationstoleranz und ist schnell aufgebracht.

Der Minderjährige lebte zunächst bei seiner allein obsorgeberechtigten Mutter. Er besucht seit 7. 9. 2015 die Schule und den Hort im Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik, derzeit in der 4. Klasse, und wird nach einem sonderpädagogischem Lehrplan unterrichtet. Anfang des Sommers 2018 steigerte sich das fremdaggressive Verhalten des Minderjährigen so stark, dass die Mutter um Unterstützung durch den Kinder- und Jugendhilfeträger (KJHT) ersuchte. Der Minderjährige war vorerst teilstationär und danach stationär auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie im AKH Wien aufgenommen. Am 13. 9. 2018 wurde er entlassen und lebt seither mit Zustimmung seiner Mutter in voller Erziehung des KJHT in einem Krisenzentrum. Seit 17. 9. 2018 besucht er wieder die Schule. Dort verhielt er sich vor allem im September und Oktober 2018 sehr aggressiv. Er warf Tische um, biss, kratzte und zwickte andere Kinder.

Der Minderjährige steht in dauernder und regelmäßiger Behandlung der Ärzte der Kinder- und Jugendpsychiatrie AKH Wien. Diese Ärzte verschreiben ihm Medikamente und halten in Patientenbriefen fest, wann er welche Medikamente in welcher Dosierung einnehmen soll. Diese Ärzte sind weder im Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik beschäftigt noch stehen sie zu diesem in einem sonstigen Vertragsverhältnis. Die Lehrer und Hortpädagoginnen erinnern den Minderjährigen lediglich daran, zu den von den Ärzten bestimmten Zeitpunkten die zum Schutz der anderen Kindern versperrt aufbewahrten Medikamente, einzunehmen. Er entnimmt diese selbständig und nimmt sie auch ein. Dies erfolgt mit Zustimmung des KJHT und der Mutter.

Die Ärzte des AKH Wien verordneten im zur Überprüfung beantragten Zeitraum folgende Basistherapie: im Zeitraum vom 29. 9. 2018 bis 2. 10. 2018 die Dauermedikation Risperidon 1 mg Tbl zu Mittag, vom 2. 10. bis 15. 10. 2018 zu Mittag Risperidon 1 mg Tbl und Nozinan 25 mg Tbl, nach stufenweiser Reduzierung und Absetzung von Risperidon ab 16. 10. 2018 Nozinan 25 mg Tbl zu Mittag und um 15:30 Uhr. Diese Medikation ist im Verhältnis zur Gefahr angemessen und es kann die Gefährdung nicht durch andere pflegerische Maßnahmen abgewendet werden.

Am 2. 10. 2018 weigerte sich der Minderjährige am Ende der Hortzeit, den Hort zu verlassen und sich anzuziehen. Da die Kinder die Fahrtendienstbusse rechtzeitig erreichen müssen (diese warten nicht), trugen die Hortpädagogin und ein Zivildiener den Minderjährigen zu den Garderoben im Untergeschoss. Der Minderjährige war damit nicht einverstanden und wehrte sich so heftig, dass die Hortpädagogin mehrere blaue Flecken erlitt. Sie erachtete es nicht als pädagogisch sinnvoll, den Minderjährigen im Hortraum zu lassen. Außerdem hätten ohne diese Maßnahme alle Kinder von den Eltern bzw von ihren Betreuern abgeholt werden müssen. „Im November 2018 war es für den Lehrer erforderlich den Minderjährigen viermal festzuhalten.“

Der Verein beantragte – soweit im Revisionsrekursverfahren noch relevant – die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen durch Verabreichen der Dauermedikation von Risperidon 1 mg Tbl zu Mittag vom 29. 9. bis 2. 10. 2018, die Dauermedikation von Risperidon 1 mg Tbl zu Mittag und Nozinan 25 mg Tbl zu Mittag vom 2. 10. bis 15. 10. 2018, sowie Dauermedikation von Nozinan 25 mg Tbl um 12:00 Uhr und um 15:30 Uhr seit 16. 10. 2018 und die am Bewohner vorgenommene freiheitsbeschränkende Maßnahme „körperlicher Zugriff/Festhalten“ ab 7. 11. 2018 bis aktuell für unzulässig zu erklären.

Das Erstgericht wies – soweit für das Revisionsrekursverfahren relevant – den Antrag, die am minderjährigen Bewohner vorgenommenen freiheits-beschränkenden Maßnahmen der Verabreichung der Dauermedikation für die dargestellten Zeiträume für unzulässig zu erklären, ab. Die Medikamentengabe erfolge über Anordnung der Ärzte des AKH Wien, die in der Einrichtung weder beschäftigt seien noch mit dieser in einem sonstigen Vertragsverhältnis stünden. Die Sonderpädagoginnen und der Lehrer ordneten die Medikamente nicht an und gäben sie dem Minderjährigen auch nicht, sondern erinnerten ihn lediglich zeitgerecht an die Einnahme, welche er dann selbständig vornehme. Die Verordnung der Medikamente erfolge daher nicht durch die Einrichtung. Die am minderjährigen Bewohner vorgenommene freiheitsbeschränkende Maßnahme des „körperlichen Zugriffs/Festhalten“ erklärte das Erstgericht ab 7. 11. 2018 mit Wirksamkeit bis 19. 6. 2019 für zulässig. Beim „körperlichen Zugriff/Festhalten“ handle es sich um eine freiheitsbeschränkende Maßnahme, die erst am 6. 11. 2018 gemeldet worden sei, sodass diese für den Zeitraum davor unzulässig gewesen sei. Seit dem 7. 11. 2018 sei es viermal zu einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme durch Festhalten des Minderjährigen durch den Lehrer gekommen. Dies sei zur Gefahrenabwehr notwendig gewesen, weshalb diese Maßnahme für den Zeitraum ab 7. 11. 2018 mit Wirksamkeit in die Zukunft bis 19. 6. 2019 für zulässig erklärt werde.

Das Rekursgericht gab sowohl dem Rekurs der Einrichtung als auch jenem des Vereins nicht Folge und bestätigte die Entscheidung. Die Sonderschule sei eine Einrichtung iSd § 2 HeimAufG. Die Dauermedikation sei grundsätzlich keine freiheitsbeschränkende Maßnahme, weil es sich dabei um eine Basistherapie in Bezug auf das psychische Krankheitsbild des Minderjährigen handle, die angemessen sei und nicht durch andere Maßnahmen ersetzt werden könne. Das Unterlassen der Verständigung von der freiheitsbeschränkenden Maßnahme bewirke bis zur Meldung deren Unzulässigkeit. Beim Festhalten des Minderjährigen durch den Lehrer nach der Meldung habe es sich um vier kurzfristige Maßnahmen gehandelt, die in ihrem Ablauf keiner Konkretisierung bedurft hätten und „im Interesse des Minderjährigen“ notwendig gewesen seien.

Der Revisionsrekurs sei mangels Rechtsprechung zu minderjährigen Bewohnern und den Voraussetzungen der §§ 2 Abs 2 und 3 Abs 1a HeimAufG zulässig.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Vereins mit dem Abänderungsantrag, die Dauermedikation und den körperlichen Zugriff/das Festhalten auch ab 7. 11. 2018 für unzulässig zu erklären. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Eine Revisionsrekursbeantwortung im Hinblick auf die nachträglich zu überprüfenden Maßnahmen nach § 19a HeimAufG wurde nicht erstattet (RS0131392).

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist im Sinne des Aufhebungsantrags teilweise auch berechtigt.

1. Vorbemerkungen:

1.1. Der Begriff der Einrichtung ist im HeimAufG nicht definiert. Es müssen daher die jeweiligen Organisationsvorschriften dieser Einrichtungen herangezogen werden (Bürger/Halmich, HeimAufG, 27; Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 2 HeimAufG Rz 11; Strickmann, Heimaufenthaltsrecht², 96; zu kollegialer Leitung sh Wall, Die Rolle des Leiters einer Einrichtung nach dem Heimaufenthaltsgesetz, ÖZPR 2013/80). Nach § 17 Abs 7 B‑KJHG ist für sozialpädagogische Einrichtungen nach Abs 6 leg cit ein „Betreiber“ vorzusehen. Im WrSchG ist für die verschiedenen Schultypen geregelt, dass eine Leiterin oder ein Leiter zu bestellen ist (vgl §§ 9, 21, 25, 80a WrSchG). Dass im vorliegenden Fall die Leiterin des Schulzentrums als Einrichtungsleiterin im Sinn des HeimAufG anzusehen ist, ist zu Recht nicht strittig. Eine vergleichbare Leitungsfunktion für die Bildungsdirektion ist hingegen dem Gesetz nicht zu entnehmen.

1.2. Der seit 1. 1. 2019 gemäß Art 113 B‑VG eingerichteten Bildungsdirektion obliegt – sofern ihr nicht weitere in sachlichem Zusammenhang stehende Aufgaben übertragen wurden – als gemeinsame Behörde des Bundes und des jeweiligen Landes die Vollziehung des Schulrechts gemäß Art 14 B‑VG für öffentliche Schulen mit Ausnahme der Kindergärten und Horte einschließlich Qualitätssicherung, Schulaufsicht und Bildungscontrolling, Dienstrechts und Personalvertretungsrechts der Lehrer und der sonstigen Bediensteten für öffentliche Schulen (vgl § 1 Bildungsdirektion-Einrichtungsgesetz, BD‑EG). Die Bildungsdirektion ist nach §§ 18 und 19 BD‑EG in einen Präsidialbereich und einen Bereich pädagogischer Dienst gegliedert. Eine Leitungsbefugnis einzelner Schulen, die sie als Einrichtungsleiter im Sinn des HeimAufG qualifizieren ließe, kann diesen Errichtungs- bzw Organisationsvorschriften nicht entnommen werden.

Daraus folgt, dass ihr – im Gegensatz zur Rechtsmeinung des Rekursgerichts – keine eigene Parteistellung nach dem HeimAufG zukommt. Ob sie für die Einrichtungsleitung vertretungsbefugt wäre, muss hier infolge allseitiger Zustellung der Rekursentscheidung und mangels Rechtsmittelschrift nicht geprüft werden.

1.3. Die Zustimmung zur freiheitsbeschränkenden Maßnahme kann – wie nunmehr ausdrücklich in § 3 Abs 2 HeimAufG geregelt – nur vom Bewohner selbst erteilt werden. Sie ist also höchstpersönlich und damit vertretungsfeindlich (Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 3 HeimAufG Rz 39; so bereits bisher Zierl/Wall/Zeinhofer Heimrecht³ I 106; Bürger/Halmich HeimAufG § 3 Anm 33), sodass eine allfällige Zustimmung der Mutter bzw des KJHT nicht relevant ist.

2. Anwendbarkeit des HeimAufG auf Sonderschulen:

Mit § 2 Abs 2 HeimAufG idF des 2. Erwachsenenschutz-Gesetz, BGBl I 2017/59 (2. ErwSchG), ist die Ausnahme des Anwendungsbereichs des Heimaufenthaltsgesetzes in Bezug auf Heime und andere Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger weggefallen. Dadurch sind nunmehr alle Einrichtungen, auch jene, die unter der Aufsicht des Kinder- und Jugendhilfeträgers stehen, vom HeimAufG umfasst, wenn sie die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 HeimAufG erfüllen. Nach den Materialien (222/ME 25. GP , 78) fallen darunter sowohl Einrichtungen der Länder als auch private Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, etwa Landesjugendheime, Heime privater Träger, sonder-, heil- und sozialpädagogische Wohngemeinschaften, SOS-Kinderdörfer oder Sonderschulen. Das HeimAufG kommt wie bisher nicht zur Anwendung, wenn der behinderte Minderjährige in der Familie gepflegt wird (vgl auch Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 2 HeimAufG Rz 32; Ganner, Die neue Kontrolle von Freiheitsbeschränkungen in Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger, iFamZ 2017, 194 [196]); Jaquemar/Breininger/Ursprung, Verbesserter Rechtsschutz im HeimAufG, iFamZ 2018, 237).

Abgesehen davon macht es nach der einrichtungsbezogenen (RS0122132 [T2]) Abgrenzung grundsätzlich keinen Unterschied, ob die Bewohner dort übernachten oder nur ambulant betreut werden (7 Ob 102/17a und 7 Ob 103/17y, jeweils unter Verweis auf den JAB 1512 BlgNR 22. GP  1, 7 Ob 135/14z zu einer Tagesstätte).

Die mit einem Hort verbundene, in den Materialien ausdrücklich genannte Sonderschule fällt daher nunmehr in den Anwendungsbereich des HeimAufG idF des 2. ErwSchG. Dass die sonstigen Voraussetzungen des § 2 HeimAufG hier erfüllt sind, ist nicht strittig.

3. Zur Medikation:

3.1. Nach § 5 Abs 1 Z 1 HeimAufG darf eine medikamentöse Freiheitsbeschränkung nur aufgrund der Anordnung eines Arztes vorgenommen werden. Anordnungsbefugter Arzt kann ein diensthabender, in der Einrichtung beschäftigter Arzt, aber auch ein beigezogener Arzt sein, der insoweit mit der Einrichtung in Vertragsbeziehung steht (Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 5 HeimAufG Rz 13; Barth, iFamZ‑Spezial 2010, 29 [30]; Zierl/Wall/Zeinhofer Heimrecht³ I 134; Bürger/Halmich HeimAufG § 5 Anm 4; Strickmann, Heimaufenthaltsrecht², 155 f).

Das HeimAufG soll verhindern, dass Bewohner durch der Einrichtung zurechenbare Anordnungen in ihrer Freiheit beschränkt werden, also der Vermeidung einrichtungstypischer Gefahren. Diese verwirklichen sich im Rahmen eines Behandlungsvertrags mit einem insoweit nicht mit der Einrichtung in Rechtsbeziehung stehenden Arzt nicht. Die Ärzte wurden vielmehr von seiner mit der Obsorge betrauten Mutter und dem KJHT im Rahmen der ihnen obliegenden Obsorge und Erziehung beigezogen. Die bekämpfte Dauermedikation wurde daher nicht der Einrichtung zurechenbar angeordnet und unterliegt daher nicht einer Überprüfung nach dem HeimAufG.

3.2 Allerdings können die Verantwortung für die Anordnung und die Vornahme einer Freiheitsbeschränkung auseinanderfallen. In einem solchen Fall kommt der ausführenden Person die Durchführungsverantwortung zu (7 Ob 139/14p; Zierl/Wall/Zeinhofer Heimrecht³ I 143; Strickmann, Heimaufenthaltsrecht² 150). Dass hier trotz der externen, nicht der Einrichtung zuzurechnenden Anordnung der Medikamenteneinnahme allein durch die Art der Durchführung eine zu überprüfende freiheitsbeschränkende Maßnahme iSd § 5 Abs 3 HeimAufG vorläge, ergibt sich aus dem Sachverhalt nicht, nahm doch der Minderjährige die Medikamente nach Erinnerung selbständig ein.

3.3 Zu prüfen ist daher weiter, ob allein durch das Erinnern an die Einnahme, wie vom Revisionsrekurs behauptet, eine Freiheitsbeschränkung vorliegt:

3.3.1 Dem Arzt vorbehalten ist ua die Verordnung von Heilmitteln (§§ 2, 3 ÄrzteG), das sind Arzneien und sonstige Mittel zur Beseitigung oder Linderung einer Krankheit oder zur Sicherung des Heilerfolgs (§ 136 ASVG). Der Arzt hat seinen Beruf grundsätzlich persönlich auszuüben (§ 49 Abs 2 ÄrzteG; vgl auch Wallner in Resch/Wallner Handbuch Medizin2, XXI. Berufsrecht der Ärzte Rz 158 ff). Eine Übertragung ärztlicher Tätigkeiten ist neben hier nicht relevanten Regelungen in § 49 Abs 2 Satz 2 ÄrzteG (betreffend Laien in Anwesenheit des Arztes – insb unausgebildete Sprechstundenhilfen, vgl Wallner in Neumayr/Resch/Wallner, GmundKomm § 49 ÄrzteG Rz 31) und § 50b ÄrzteG (an Betreuungskräfte im Rahmen des HausbetreuungsG bzw gewerblicher Personenbetreuung) im Einzelfall nach § 49 Abs 3 ÄrzteG an Angehörige anderer Gesundheitsberufe in deren Tätigkeitsbereich und nach § 50a ÄrztG an Laien zulässig.

3.3.2 Die Delegierung an Angehörige anderer Gesundheitsberufe ist jeweils im Rahmen von deren Berufsgesetzen zulässig. Dies ist in Bezug auf Angehörige des gehobenen Dienstes der Gesundheits- und Krankenpflege nach § 15 GuKG und hinsichtlich Angehörigen der Pflegeassistenz und Pflegefachassistenz gemäß §§ 83 bzw 83a GuKG zulässig. Darüber hinaus sind nach § 3a Abs 3 GuKG Personen, die im Rahmen eines Dienstverhältnisses zu Trägern von näher bezeichneten Einrichtungen der Behindertenbetreuung stehen, nach Maßgabe weiterer Voraussetzungen, insbesondere der Absolvierung eines bestimmten Ausbildungsmoduls zur Durchführung unterstützender Tätigkeiten bei der Basisversorgung an den von ihnen betreuten Personen berechtigt.

3.3.3 Nach § 50a ÄrzteG kann der Arzt im Einzelfall einzelne ärztliche Tätigkeiten an Angehörige und Personen, in deren Obhut der Patient steht, oder an Personen, die zum Patienten in einem örtlichen oder persönlichen Naheverhältnis stehen, übertragen, sofern sich der Patient nicht in einer Einrichtung der medizinischen oder psychosozialen Behandlung, ausgenommen die bereits genannten Einrichtungen der Behindertenbetreuung nach § 3a Abs 3 GuKG befindet. Obhutspersonen im Sinn des Gesetzes sind auch Lehrer und Kindergärtner (Wallner in Neumayr/Resch/Wallner, GmundKomm § 50a ÄrzteG Rz 2; Emberger in Emberger/Wallner, Ärztegesetz mit Kommentar [2008] 237). Schulen sind – ungeachtet möglicher Ausnahmen bei Sonderschulen – im Regelfall nicht als Einrichtungen zu qualifizieren, die der medizinischen oder psychosozialen Behandlung, Pflege und Betreuung dienen, daher kann § 50a hier grundsätzlich zur Anwendung kommen (Aigner/Kierein/Kopetzki, Ärztegesetz 1988 [2007] § 50a Anm 9).

3.3.4 Auch im Bereich des § 50a ÄrzteG ist im Einzelfall abzugrenzen, was von der Delegierung unberührt bleibt. Es ist darauf abzustellen, ob eine besondere Ausbildung verlangt ist.

3.3.5 Nicht in den Anwendungsbereich des GuKG und damit nicht in den Vorbehaltsbereich der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe fallen aber (neben Hilfeleistungen in der Nachbarschafts-, Familien- und Haushaltshilfe nach § 3 Abs 2 GuKG) ganz allgemein Tätigkeiten der Betreuung und Pflege, die kein gesundheitliches oder krankenpflegerisches Fachwissen erfordern und auf Grund der Erfahrungen des täglichen Lebens üblicherweise von Laien durchgeführt werden (Laientätigkeit). Die Grenze der Laientätigkeit liegt dort, wo medizinisches bzw pflegerisches Fachwissen Voraussetzung für eine fachgerechte Durchführung der Tätigkeit ist bzw auf Grund dieses Fachwissens Selbst- und Fremdgefährdung vermieden werden kann. Sofern keine speziellen Umstände vorliegen, zählt danach die Unterstützung bei der oralen Arzneimittelaufnahme jedenfalls zu den Laientätigkeiten (vgl die „Information betreffend die Abgrenzung von Laientätigkeiten und Vorbehaltstätigkeiten der Pflege und Medizin“ des BMG vom 2. 3. 2011, 9/2251/0013‑II/A/2/2011; Müller in Neumayr/Resch/Wallner, GmundKomm § 3 GuKG Rz 5; Weiss/Lust GuKG [2017], § 3 Anm 1, S 41). So sind zB Fiebermessen, das orale Verabreichen von Medikamenten nach ärztlicher Anordnung oder die einfache Wundversorgung usw nicht übertragungspflichtig (Emberger in Emberger/Wallner, Ärztegesetz mit Kommentar [2008] 238 f; Wallner in Neumayr/Resch/Wallner, GmundKomm § 50a ÄrzteG Rz 7).

3.3.6 Deshalb dürfen zB auch nach § 66b Abs 2 SchUG Lehrpersonen im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeiten Schülerinnen und Schülern gegenüber dann medizinische Tätigkeiten erbringen, wenn es sich – abgesehen vom Notfall – um solche handelt, die jeder Laie erbringen darf, wozu ua auch das Erinnern an eine Medikamenteneinnahme, das Überwachen der selbständigen Medikamenteneinnahme durch den Schüler oder das orale Verabreichen von Medikamenten nach ärztlicher Verschreibung gehört (Götz/Münster, Schulgesetze, § 66b SchUG Anm 4; Andergassen, Schulrecht³ 2018/19 301 f).

3.3.7 Ausgehend davon ist das bloße Erinnern an die orale Einnahme eines von einem Arzt verschriebenen Medikaments als Laientätigkeit zu beurteilen. Diese ist daher keine eigenständige, der Einrichtung zuzurechnende Maßnahme iSd § 5 HeimAufG.

3.4. Die Abweisung des Antrags auf Überprüfung der Dauermedikation war daher zu bestätigen.

4. Zum Festhalten:

4.1. Über den einzigen konkret festgestellten Vorfall vom 2. 10. 2018 wurde bereits rechtskräftig entschieden. Darauf ist nicht weiter einzugehen.

4.2. Zu den anderen als zulässig erachteten Freiheitsbeschränkungen durch „körperlichen Zugriff/Festhalten“ fehlen aber jegliche Feststellungen. Insbesondere zu den vier nach der Meldung im November 2018 durchgeführten Maßnahmen muss daher im fortgesetzten Verfahren festgestellt werden, wie lange sie dauerten, in welchen Situationen sie in welcher konkreten Form und zu welchem Zweck bei welchen Alternativen durchgeführt wurden. Ob diese Maßnahmen iSd § 4 HeimAufG unerlässlich, geeignet und angemessen waren und die Gefahr nicht durch schonendere Mittel abgewendet werden konnte, kann derzeit mangels Feststellungsgrundlage nicht beurteilt werden. Die Einrichtung hat die Beurteilung der Vorinstanzen als freiheitsbeschränkende Maßnahmen nicht bekämpft. Daraus ist eine Rechtskraftwirkung für das fortgesetzte Verfahren mangels Sachverhaltsgrundlage nicht abzuleiten. Die reine rechtliche Qualifikation bindet nicht (Klicka in Fasching/Konecny³ III/2 § 411 ZPO Rz 63). Auf Basis der zu schaffenden Tatsachengrundlage wird daher im fortgesetzten Verfahren auch zu prüfen sein, ob allenfalls eine alterstypische Freiheitsbeschränkung iSd § 3 Abs 1a HeimAufG und damit keine Freiheitsbeschränkung im Sinn des HeimAufG vorlag, bzw verneinendenfalls, ob die Maßnahmen nach den sonstigen Kriterien des HeimAufG als zulässig anzusehen sind oder nicht.

4.3. Auch wird zu beachten sein, dass das Gericht, wenn es eine Freiheitsbeschränkung für zulässig erklärt, nach § 15 Abs 2 HeimAufG hiefür eine bestimmte, sechs Monate nicht überschreitende Frist zu setzen und die näheren Umstände sowie das zulässige Ausmaß der Freiheitsbeschränkung genau zu bestimmen hat. Die zulässige Freiheitsbeschränkung ist daher materiell, etwa nach der Art des Eingriffs, seiner Intensität, der täglichen Dauer etc möglichst exakt festzulegen (Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 15 HeimAufG Rz 13).

4.4. Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht, wie der Revisionswerber zu Recht moniert, keine näheren Umstände der Zulässigkeit der Maßnahmen „körperlicher Zugriff/Festhalten“ bestimmt, sodass unklar ist, in welchen Situationen diese Maßnahmen in welcher konkreten Form zu welchem Zweck und in welcher jeweiligen Dauer zulässig sein sollen.

5. Erst nach Schaffen einer Sachverhaltsgrundlage kann über die Rechtssache abschließend entschieden werden.

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