OGH 10Ob57/16d

OGH10Ob57/16d25.4.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Schramm, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie den Hofrat Dr. Steger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W*****, Brasilien, vertreten durch Salburg Rechtsanwalts GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. M***** AG, *****, vertreten durch Kunz Schima Wallentin Rechtsanwälte OG in Wien, und 2. A*****, Kanalinseln, vertreten durch Dorda Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 34.117,91 EUR sA, infolge der Revisionen der erst‑ und zweitbeklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 31. Mai 2016, GZ 2 R 195/15h‑43, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 8. September 2015, GZ 66 Cg 31/15y‑38 bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0100OB00057.16D.0425.000

 

Spruch:

Den Revisionen wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird aufgehoben. Dem Berufungsgericht wird die neuerliche Entscheidung über die Berufungen aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Die Zweitbeklagte ist eine Gesellschaft mit Sitz in Jersey, die früher unter der Firma M***** Ltd (kurz: M*****) firmierte. Seit Dezember 2002 notierten an der Wiener Börse von der österreichischen Kontrollbank ausgestellte Zertifikate, die von dieser gehaltene Namensaktien der M***** vertreten (in der Folge kurz: M*****‑Zertifikate). Die Erstbeklagte war als konzessioniertes Kreditinstitut für die Platzierung der Zertifikate an der Wiener Börse zuständig und fungierte als Depotbank.

Der Kläger kaufte am 5. 6. 2007 3.165 M*****‑Zertifikate und bezahlte hiefür inklusive Spesen 67.783,38 EUR. Am 8. 6. 2007 erwarb er weitere 36 Zertifikate um insgesamt 777,29 EUR. Die Erstbeklagte erfüllte die Kaufverträge durch Selbsteintritt. Am 6. 9. 2007 verkaufte der Kläger die Zertifikate um insgesamt 34.442,76 EUR.

In seiner Klage vom 2. 3. 2012 macht der Kläger gegen beide Beklagten den Schaden aus der Differenz von eingesetzten Kapital und Verkaufserlös (34.442,76 EUR) geltend. Er wirft den Beklagten in bewusstem Zusammenwirken vorsätzlich bewirkte Schädigung durch irreführende Werbung sowie Verstöße gegen die Publikationspflicht (Ad‑hoc‑Meldepflicht) gemäß § 48d Abs 1 BörseG über Insiderinformationen nach § 48a Abs 1 Z 1 BörseG und Marktmanipulationen nach § 48 Abs 1 Z 2 lit c BörseG vor. Zu dem zuletzt genannten – ausschließlich Gegenstand des Revisionsverfahrens bildenden – Anspruchsgrund brachte er vor, anlässlich der Kapitalerhöhung im Februar 2007 sei es nicht gelungen, alle Zertifikate am Markt zu platzieren. Die Erstbeklagte habe daher über eine Tochtergesellschaft der J***** AG 42 % aller neu ausgegebenen Zertifikate zurückgekauft, um den Kurs stabil zu halten, was die Beklagten bewusst geheim gehalten hätten. Die Zweitbeklagte hafte (ua) wegen der irreführenden und unrichtigen Ad‑hoc‑Meldung vom 9. 2. 2007. Die Haftung der Erstbeklagten beruhe darauf, dass deren Mitarbeiterin diese Ad‑hoc‑Meldung verfasst habe. Da die tatsächlichen Umstände in Bezug auf die Kapitalerhöhung im Februar 2007 dem Kläger weniger als drei Jahre vor Klagsführung bekannt geworden seien, sei sein Anspruch nicht verjährt. Er habe sich im Übrigen dem Strafverfahren zu AZ 334 HR 436/08g des Landesgerichts für Strafsachen Wien mit Schriftsatz vom 21. 7. 2010 angeschlossen.

Die Beklagten wendeten Verjährung sämtlicher Ansprüche ein, weil der Kurssturz aufgrund der angeblichen Malversationen der Erstbeklagten seit Mitte 2007 Gegenstand medialer Berichterstattung gewesen sei. Der Privatbeteiligtenanschluss unterbreche die Verjährungsfrist nicht, weil der Kläger seinen Anspruch nicht ausreichend individualisiert und beziffert habe. Haftungsbegründendes Verhalten im Zusammenhang mit irreführender Werbung liege nicht vor. Die Ad‑hoc‑Meldung vom 9. 2. 2007 sei weder irrtumsrelevant noch schadenskausal gewesen. Da die Kapitalerhöhung vollständig platziert worden sei, sei sie inhaltlich nicht falsch.

Das Erstgericht gab der Klage – abgesehen von der unbekämpft gebliebenen Abweisung eines Zinsenmehrbegehrens – gegen beide Beklagten statt.

Es konnte nicht feststellen, dass sich der Kurs bei den Tatsachen entsprechend (vollständig) veröffentlichten Ad‑hoc‑Mitteilungen anders entwickelt hätte als er sich tatsächlich entwickelte, und auch nicht, dass F*****– der Berater des Klägers – Ad‑hoc‑Mitteilungen, Geschäftsberichte, Rechenschaftsberichte oder den Kapitalmarktprospekt vollständig gelesen oder Medienberichte zu M***** verfolgt und gelesen hätte. Davon ausgehend verneinte es eine Haftung der Beklagten wegen unrichtiger oder irreführend unvollständiger Ad‑hoc‑Mitteilungen mangels Kausalität für den Anlageentschluss des Klägers. Es stehe nicht fest, dass den Kläger eine den Tatsachen entsprechende Ad‑hoc‑Mitteilung erreicht hätte. Die Klagsstattgebung stützte das Erstgericht auf Prospekthaftung der Erstbeklagten aufgrund ihrer über das Risiko irreführenden Werbebroschüre. Der Erstbeklagten sei überdies das Fehlverhalten des Beraters zuzurechnen und auch Vertragsrücktritt wegen arglistiger Irreführung nach § 870 ABGB komme zum Tragen. Die Zweitbeklagte hafte aus Schadenersatz im Zusammenhang mit irreführenden Werbebroschüren und der arglistigen Verleitung zum Vertragsabschluss nach § 874 ABGB. Den Verjährungseinwand verwarf das Erstgericht unter Hinweis auf den Privatbeteiligtenanschluss im Strafverfahren.

Das Berufungsgericht gab der von beiden Beklagten dagegen erhobenen Berufung im Ergebnis nicht Folge. Die Mängelrüge behandelte es inhaltlich lediglich zur angeblich unzulässigen Verwertung eines Parallelakts, die Beweisrügen nur in Bezug auf die festgestellte Alternativanlage „Sparbuch“ und die Vorgangsweise des Beraters F***** für den Fall, dass er gewusst hätte, dass Teile der Kapitalerhöhung mit Geldern der M***** platziert wurden oder Maßnahmen zur Kurspflege der M*****‑Zertifikate erfolgten. Die Haftung der Beklagten bejahte es im Hinblick auf einen als notorisch angenommenen Sachverhalt zu Ad‑hoc‑Meldepflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Meldung vom 9. 2. 2007, die Gegenstand zahlreicher gleichartiger Anlegerparallelverfahren gewesen sei. Das Berufungsgericht ging davon aus, die Ad‑hoc‑Mitteilung vom 9. 2. 2007 habe den veranlagungsrelevanten Umstand verschwiegen, dass ein Großteil der Zertifikate mit Geldern der Zweitbeklagten erworben werden habe müssen, um eine vollständige Platzierung erreichen zu können. Diese Information hätte dem verständigen Anleger signalisiert, dass auf dem Kapitalmarkt keine ausreichende Nachfrage an Zertifikaten der Beklagten bestanden habe, eine Kapitalerhöhung somit nicht erfolgreich – im Sinn einer Vollplatzierung – beendet habe werden können, weiters dass eine solche Nachricht sich rasch am Markt verbreitet hätte, weil ihr von Analysten und Anlegern fraglos hohe Aufmerksamkeit gewidmet worden wäre und letztlich, dass die Ad‑hoc‑Meldungen der Zweitbeklagten von der Erstbeklagten (nämlich deren Angestellten N*****) erstellt und dann dem Vorstandsvorsitzenden der Erstbeklagten zur Genehmigung vorgelegt worden seien. Auf dieser Basis ging das Berufungsgericht kraft Notorietät auch davon aus, dass der Kläger bzw sein Berater von einer korrekten Ad‑hoc‑Meldung zeitnah Kenntnis erlangt hätten. Da feststehe, dass der Berater den Kauf der M*****‑Zertifikate nicht empfohlen hätte, hätte er gewusst, dass Teile der Kapitalerhöhungen mit Geldern der M***** platziert worden seien, bestehe der Anspruch des Klägers schon wegen der unrichtigen Ad‑hoc‑Meldung vom 9. 2. 2007 grundsätzlich zu Recht. Den Verjährungseinwand hielt das Berufungsgericht in Bezug auf die allein entscheidungswesentliche Ad‑hoc‑Meldepflichtverletzung für nicht berechtigt, weil der Kurssturz im Jahr 2007 zwar zeitnah Zweifel an der beworbenen Sicherheit der Veranlagung begründen und Nachforschungspflichten über die Richtigkeit von Werbe‑ und Beratungsinhalten herbeiführen habe können, nichts aber mit der Frage zu tun habe, inwiefern eine als erfolgreich dargestellte Kapitalerhöhung fehlgeschlagen sei. Wann dem Kläger welche Umstände bekannt geworden seien, dass er deshalb – also wegen Schutzgesetzverletzung infolge Verstoßes gegen die Ad‑hoc‑Meldepflichten – bereits länger als drei Jahre vor Klagseinbringung im März 2012 erfolgreich Klage hätte führen können, sei nicht ausreichend substanziiert vorgebracht, sodass es auf die Unterbrechungswirkung des Privatbeteiligtenanschlusses nicht ankomme.

Die Revision sei zulässig, weil es noch an höchstgerichtlichen Leitlinien dahin fehle, ab wann in Massenverfahren vielfach getroffenen, bekämpften und berufungsgerichtlich übernommenen Feststellungen Notorietät zukomme und wie vom erkennenden Gericht getroffene Negativfeststellungen im Verhältnis zu als notorisch anzusehenden Umständen zu bewerten seien.

Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen beider Beklagten. Die Erstbeklagte beantragt primär die Aufhebung wegen Nichtigkeit, hilfsweise Abänderung im Sinn einer Klagsabweisung oder eine Aufhebung samt Rückverweisung an das Berufungsgericht. Die Zweitbeklagte will primär auf eine Aufhebung und Zurückverweisung an das Berufungsgericht, hilfsweise an das Erstgericht hinaus.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, den Revisionen nicht Folge zu geben.

Die Revisionen sind aus dem vom Berufungsgericht zweitgenannten Grund zulässig, zumal dem Berufungsgericht diesbezüglich ein Verfahrensfehler unterlief, der zur Wahrung der Rechtssicherheit wahrzunehmen ist (vgl RIS‑Justiz RS0042151 [T5]).

Rechtliche Beurteilung

Die Revisionen sind im Sinn einer Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils berechtigt.

1.1. Vorauszuschicken ist, dass die Beklagten in ihren Revisionen ihre grundsätzliche Haftung wegen Ad‑hoc‑Meldepflichtverletzungen – abgesehen vom Verjährungseinwand der Zweitbeklagten und ihren Ausführungen zur Beweislast, auf die im Folgenden noch einzugehen ist – auf Basis der vom Berufungsgericht als notorisch angenommenen Tatsachen nicht in Zweifel ziehen. Die Lösung des Berufungsgerichts auf Basis dieser Feststellungen entspricht auch der mittlerweile gefestigten ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung in Bezug auf die Ad‑hoc‑Mitteilung der Zweitbeklagten vom 9. 2. 2007 (siehe unter RIS‑Justiz RS0127724 ua indizierte Entscheidungen). Zur Beweislastverteilung im Zusammenhang mit der Kausalitätsprüfung bei einer unterlassenen Ad‑hoc‑Meldung stellten die Entscheidung 9 Ob 26/14k und ihr folgend 10 Ob 85/14v folgenden Grundsatz auf: Zunächst ist zu fragen, ob der Kläger bei Einhaltung der gebotenen Ad‑hoc‑Meldepflicht vom Inhalt der Mitteilung erfahren hätte und, wenn dies der Fall ist, ob er dann eine andere (oder keine) Veranlagungsentscheidung getroffen hätte. Während sich der Anleger zur zweitgenannten Frage in keinem ein herabgesetztes Beweismaß rechtfertigenden Beweisnotstand befindet, sodass die Feststellung der entsprechenden Willensentscheidung des Anlegers nach dem Regelbeweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit zu treffen ist, ist die Anforderung an den Beweis des hypothetischen Kausalverlaufs zur ersten Frage geringer. Hier ist nur nach dem Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu beurteilen, ob dem Kläger der Inhalt der unterlassenen Ad‑hoc‑Meldung bei Publikation zur Kenntnis gelangt wäre (9 Ob 26/14k; 10 Ob 85/14v).

1.2. Während das Erstgericht hier nicht feststellen konnte, dass der Berater F***** die Ad‑hoc‑Mitteilungen, Geschäftsberichte oder Medienberichte zu M***** gelesen hätte und darauf gestützt einen kausalen Pflichtverstoß wegen Verletzung der Ad-hoc-Mitteilungspflicht verneinte, hielt es das Berufungsgericht für notorisch, dass der Anleger von einer tatsachenkonformen Ad‑hoc‑Mitteilung erfahren hätte. Diese als notorisch bezeichnete Tatsache ist daher wesentliche Begründung für die Bestätigung des Ersturteils durch das Berufungsgericht; allenfalls in dem Zusammenhang unterlaufene Mängel des Berufungsverfahrens sind schon aus diesem Grund relevant, weil geeignet, die gründliche Beurteilung der Streitsache zu verhindern (RIS‑Justiz RS0043027; Zechner in Fasching/Konecny 2 § 503 ZPO Rz 123 mwN).

2. Beide Beklagten rügen als Nichtigkeit, hilfsweise als Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, dass das Berufungsgericht sein Vorgehen im Zusammenhang mit den als notorisch festgestellten Tatsachen nicht mit den Parteien erörtert habe. Dadurch habe es ihr rechtliches Gehör und den Unmittelbarkeitsgrundsatz verletzt, außerdem liege eine Überraschungsentscheidung vor. Im Gegensatz zur Meinung des Berufungsgerichts seien diese Tatsachen nicht gerichtskundig im Sinne des § 269 ZPO.

Diesen Ausführungen kommt – jedenfalls teilweise – Berechtigung zu.

2.1. Das rechtliche Gehör wird in einem Zivilverfahren nicht nur dann verletzt (§ 477 Abs 1 Z 4 ZPO), wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wurde, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (RIS‑Justiz RS0005915). In der – dieselben Beklagten betreffenden – Entscheidung 1 Ob 39/15i vertrat der erste Senat die Auffassung, die Verwertung eines UVS‑Aktes in einem Anlegerverfahren sei kein der Nichtigkeit in seiner Schwere gleichkommender Verstoß, da der Zweitbeklagten angesichts ihrer Darlegungen der Inhalt dieses Aktes offenbar bekannt gewesen sei. Vergleichbares gilt auch hier: Die Beklagten hatten Gelegenheit sich im Verfahren erster Instanz zu den behaupteten Ad‑hoc‑Meldepflichtverletzungen und deren Kausalität für die Anlageentscheidung des Klägers zu äußern, sie haben dies auch ausführlich getan. Der von den Beklagten monierte Umstand, zu dem sie sich nicht äußern konnten, war lediglich die Annahme der Notorietät von Tatsachen, wobei die Tatsachen selbst sehr wohl Gegenstand des Verfahrens erster Instanz gewesen waren. Eine Gehörverletzung im Sinn des § 477 Abs 1 Z 4 ZPO und eine daraus abzuleitende Nichtigkeit ist darin (noch) nicht zu erkennen.

Sehr wohl liegt aber ein wesentlicher Mangel des Berufungsverfahrens vor.

2.2. Grundsätzlich gilt, dass das Berufungsgericht von erstinstanzlichen Feststellungen in Wahrnehmung der Beweisrüge nur dann abgehen darf, wenn es alle zur Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen erforderlichen Beweise, die das Erstgericht unmittelbar aufgenommen hat, selbst wiederholt oder das Protokoll über die Beweisaufnahme erster Instanz unter den Voraussetzungen des § 281a ZPO verliest (RIS‑Justiz RS0042151). Auch wenn das Berufungsgericht über den erstinstanzlichen Sachverhalt hinaus weitere Feststellungen treffen will, ist es selbst zur Beweisergänzung verpflichtet, andernfalls verletzt es die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (RIS‑Justiz RS0043057; RS0043176 [T1]; RS0043461). Offenkundige Tatsachen kann das Berufungsgericht zwar auch ohne Beweisaufnahme ergänzend seiner Entscheidung zugrunde legen (RIS‑Justiz RS0040219); ein solches Vorgehen muss aber mit den Parteien erörtert werden, wenn der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der offenkundigen Tatsachen nicht geradezu aussichtslos erscheint (RIS‑Justiz RS0040219 [T2, T3]). Dem Berufungsgericht steht es daher nicht zu, allein mit dem Hinweis auf Offenkundigkeit von Feststellungen abzugehen, die das Erstgericht aufgrund unmittelbarer Beweisaufnahme getroffen hat. Da die Offenkundigkeit einer Tatsache bezweifelt werden kann und der Beweis der Unrichtigkeit offenkundiger Tatsachen zulässig ist, muss das Berufungsgericht das von ihm beabsichtigte Abweichen von erstinstanzlichen Feststellungen mit den Parteien erörtern und ihnen Gelegenheit geben, den Beweis der Unrichtigkeit einer vom Gericht als offenkundig beurteilten Tatsache anzutreten (RIS‑Justiz RS0040219 [T6 und T7], jeweils zur Frage der Anzahl von Arbeitsplätzen in möglichen Verweisungsberufen).

2.3. Diese Grundsätze gelten sowohl für allgemeinkundige wie auch gerichtskundige Tatsachen im Sinn des § 269 ZPO. Allgemeinkundige Tatsachen sind einer beliebig großen Anzahl von Menschen bekannt oder doch ohne Schwierigkeiten jederzeit zuverlässig wahrnehmbar ( Rechberger in Rechberger 4 § 269 ZPO Rz 2); demgegenüber sind gerichtskundige Tatsachen dem Gericht aus eigener amtlicher Wahrnehmung bekannt, ohne dass erst in bestimmte Unterlagen Einsicht genommen werden müsste ( Rechberger § 269 ZPO Rz 3; Rechberger in Fasching/Konecny ² § 269 ZPO Rz 7; RIS-Justiz RS0111112). Die Sachverhaltsfeststellungen früherer Entscheidungen aus anderen Verfahren haben zwar grundsätzlich keine Bindungswirkung auf spätere Verfahren. Dies schließt aber naturgemäß nicht aus, dass das Gericht aufgrund eigener Sachkenntnis aus früheren Verfahren gewonnene Erkenntnisse auch in späteren Verfahren verwertet. § 269 ZPO sieht somit auch in streitigen Zivilverfahren die Berücksichtigung gerichtsbekannter Tatsachen vor, ohne dass es besonderer Parteibehauptungen oder eines eigenen Beweisverfahrens bedürfte (RIS‑Justiz RS0123760). Damit kann aufgrund des Ergebnisses einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen eine ursprünglich beweisbedürftige Tatsache tatsächlich gerichtsbekannt im Sinn des § 269 ZPO werden, sodass sie in der Folge keiner neuerlichen Beweisaufnahme bedarf (6 Ob 229/15t mwN). Ob diese Voraussetzungen zutreffen, obliegt allerdings ebenso der Beurteilung der Tatsacheninstanzen wie die Beurteilung der Stichhaltigkeit allenfalls angebotener Gegenbeweise (RIS‑Justiz RS0040158 [T2]; Rechberger in Fasching/Konecny 2 § 269 ZPO Rz 13 ff; Rechberger in Rechberger ZPO 4 § 269 Rz 4). An diesen– keineswegs erst jüngst ausschließlich vom 6. Senat des Obersten Gerichtshofs geprägten – Judikaturgrundsätzen ist festzuhalten. Die in der Zulassungsbegründung vermisste höchstgerichtliche Leitlinie, ab wann in Massenverfahren vielfach getroffenen Feststellungen Notorietät zukommt, vermag der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, allerdings nicht aufzustellen, weil es sich dabei nicht um eine Rechtsfrage handelt.

3.1. Ob das Berufungsgericht hier bei den von ihm als notorisch festgestellten Tatsachen tatsächlich von erstgerichtlichen Feststellungen abgegangen ist oder diese nur ergänzt hat (was davon abhängt, ob man den im Rahmen der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts getroffenen Schluss, es stehe nicht fest, dass den Kläger eine den Tatsachen entsprechende Ad‑hoc‑Mitteilung erreicht hätte, als Tatsachenfeststellung wertet), kann letztlich dahingestellt bleiben. Wäre in den als notorisch festgestellten Tatsachen ein Abweichen von erstgerichtlichen Feststellungen zu erkennen, müsste dies nach der unter Punkt 2.2 zitierten Rechtsprechung jedenfalls mit den Parteien erörtert und ihnen Gelegenheit gegeben werden, den Gegenbeweis anzutreten. Nichts anderes gilt, wenn man von einer bloßen Ergänzung des Sachverhalts um die vom Berufungsgericht als notorisch erachteten Umstände ausgehen wollte; eine unzweifelhaft offenkundige Tatsache im Sinn der zitierten Rechtsprechung liegt insoweit nicht vor. Die Erörterungspflicht mit den Parteien besteht daher auch in diesem Fall. Der vom Berufungsgericht als Grundlage für seine Vorgangsweise herangezogene Vergleich mit dem Geständnis überzeugt nicht.

3.2. Das Berufungsgericht meinte, im Verhältnis zwischen einer Negativfeststellung und einer notorischen Tatsache sei die Negativfeststellung – wie bei Vorliegen eines Geständnisses – unbeachtlich. Tatsächlich bindet das gerichtliche Geständnis im Sinn des § 266 ZPO das Gericht an eine zugestandene Tatsache und schafft bezüglich dieser Tatsache ein Beweisthemenverbot. Das Geständnis hat aufgrund der Dispositionsmaxime jedenfalls Vorrang vor einer Negativfeststellung (RIS‑Justiz RS0039949 [T6]). Demgegenüber sind offenkundige Tatsachen im Sinn des § 269 ZPO zwar grundsätzlich nicht beweisbedürftig; der Gegenbeweis der Unrichtigkeit offenkundiger Tatsachen ist aber – wie unter Punkt 2.2 bereits erörtert wurde – grundsätzlich zulässig. Das Argument des Vorrangs der Dispositionsmaxime kann im Fall notorischer Tatsachen daher jedenfalls dann nicht tragen, wenn der Inhalt dieser Tatsachen nicht mit den Parteien zuvor erörtert und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme geboten wurde.

4. Die Beklagten haben ausreichend dargetan, weshalb die unterbliebene Gelegenheit zur Stellungnahme zu der vom Berufungsgericht angenommenen Notorietät von Relevanz für das Verfahrensergebnis ist (RIS‑Justiz RS0043027). Dass die vom Berufungsgericht als notorisch angenommenen Tatsachen wesentliche Grundlage für dessen Entscheidung sind, wurde bereits unter Punkt 1. erörtert. Im Rahmen der Relevanzprüfung ist allerdings noch auf die von der Zweitbeklagten im Rahmen der Rechtsrüge ins Treffen geführten Argumente zur unrichtigen Lösung der Beweislastfrage und der Verjährung einzugehen.

5.1. Dass das Berufungsgericht die Negativfeststellung des Erstgerichts zur Kausalität der Ad‑hoc‑Mitteilung für den Anlageentschluss des Klägers übernehmen hätte wollen, ist aus seiner Entscheidung nicht ableitbar; diese Feststellung war von den – dadurch nicht beschwerten – Beklagten nicht bekämpft worden. Der Kläger nahm hiezu in seiner Berufungsbeantwortung zwar Stellung und vertrat die Auffassung, schon aus dem Grund der festgestellten Publizitätsverletzung wäre der Klage stattzugeben gewesen. Er argumentierte mit der Entscheidung 9 Ob 26/14k und dem daraus abzuleitenden, unter dem Regelbeweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit liegenden Beweismaß für den hypothetischen Kausalverlauf bei Schädigung durch Unterlassung korrekter Ad‑hoc‑Mitteilungen. Aus der erstgerichtlichen Negativfeststellung ist zwar nicht gesichert ableitbar, ob das Erstgericht dabei vom Regelbeweismaß oder dem herabgesetzten Beweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ausging (vgl die Beweiswürdigungsüberlegungen auf Seite 37 des Ersturteils aE). Allerdings begründete das Berufungsgericht seine Klagsstattgebung nicht mit der erstgerichtlichen Negativfeststellung und/oder einem herabgeminderten Beweismaß, sondern mit den von ihm als notorisch festgestellten Tatsachen, dass der Kläger und sein Berater zeitnah Kenntnis von einer richtigen Ad‑hoc‑Mitteilung erlangt hätten. In der rechtlichen Beurteilung dieses Umstands ist das Berufungsgericht nicht von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen.

5.2.1. Die Zweitbeklagte hält Schadenersatz‑ ansprüche aus der Ad‑hoc‑Mitteilung vom 9. 2. 2007 im Wesentlichen deshalb für verjährt, weil das Berufungsgericht von einem Bekanntwerden der Rückkäufe und daraus folgenden hohen Kursverlusten für den Fall einer richtigen und vollständigen Ad‑hoc‑Mitteilung ausgegangen sei. Die Notorietät der Rückkäufe und ihre rasche Verbreitung müsse– egal ob im Rahmen einer fiktiven korrekten Ad‑hoc‑Meldung im Februar 2007 oder durch tatsächliche Verbreitung im Sommer 2007 – der gesamten rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden. Die Verjährungsfrist habe spätestens am Tag des Verkaufs der Zertifikate am 6. 9. 2007 zu laufen begonnen. Ob der Privatbeteiligtenanspruch die Verjährungsfrist unterbrochen habe, sei noch nicht abschließend beantwortbar, weil das Berufungsgericht die diesbezüglichen Beweisrügen nicht erledigt habe.

5.2.2. Für den Beginn der Verjährungsfrist des § 1489 ABGB ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem dem Geschädigten der Schaden, die Person des Schädigers und die Schadensursache bekannt geworden sind (RIS‑Justiz RS0034951). Dem Geschädigten muss der anspruchsbegründende Sachverhalt zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch so weit bekannt sein, dass er mit Aussicht auf Erfolg klagen kann. Die Kenntnis muss den ganzen anspruchsbegründenden Sachverhalt umfassen, insbesondere auch die Kenntnis des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Schaden und einem bestimmten, dem Schädiger anzulastenden Verhalten (RIS‑Justiz RS0034524 [T49]), in Fällen der Verschuldenshaftung daher auch die Kenntnis jener Umstände, aus denen sich die Sorgfaltswidrigkeit des Schädigers ergibt (vgl RIS‑Justiz RS0034524 [T14, T29, T53]). Die bloße Möglichkeit der Kenntnis genügt ebensowenig wie die bloße Möglichkeit der Ermittlung einschlägiger Tatsachen. Kennenmüssen reicht daher grundsätzlich nicht aus (RIS‑Justiz RS0034366 [T3, T6]). In gewissem Umfang wird eine Erkundigungsobliegenheit des Geschädigten angenommen (RIS‑Justiz RS0034686 [T12]), wenn er die für die erfolgsversprechende Anspruchsverfolgung notwendigen Voraussetzungen ohne nennenswerte Mühe in Erfahrung bringen kann (RIS‑Justiz RS0034524 [T21]; RS0034366 [T20]). Die Erkundigungsobliegenheit darf aber nicht überspannt werden (RIS‑Justiz RS0034327 [T6, T27]). Sie setzt deutliche Anhaltspunkte für einen Schadenseintritt im Sinn konkreter Verdachtsmomente, aus denen der Anspruchsberechtigte schließen kann, dass Verhaltenspflichten nicht eingehalten wurden, voraus (RIS‑Justiz RS0034327 [T21]). Muss der Geschädigte jedoch bestimmte Umstände nicht als wahrscheinlich betrachten, beginnt für die dadurch verursachten Schäden die Verjährungsfrist erst mit deren positiver Kenntnis zu laufen (RIS‑Justiz RS0034378).

5.2.3. Da sich die Verjährung auf den jeweils geltend gemachten Anspruch bezieht, der – wie der Streitgegenstand (RIS‑Justiz RS0039255) – durch die zu seiner Begründung vorgebrachten Tatsachen konkretisiert wird, liegen im Fall, dass der Kläger sein Begehren alternativ auf verschiedene Sachverhaltsvarianten stützt, mehrere Ansprüche vor, die auch verjährungsrechtlich getrennt zu beurteilen sind (3 Ob 112/15i mwN; RIS‑Justiz RS0039255 [T8]).

5.2.4. Unter Anwendung dieser Rechtsprechungs‑ grundsätze ist das Berufungsgericht hier zutreffend davon ausgegangen, der Kurssturz im Jahr 2007 sei zwar allenfalls geeignet gewesen, zeitnah Zweifel an der beworbenen Sicherheit der Veranlagung zu begründen und Nachforschungen über die Richtigkeit von Werbe‑ und Beratungsinhalten nahezulegen; aus dem Kurssturz sei für den Kläger aber nicht abzuleiten gewesen, inwieweit eine als erfolgreich dargestellte Kapitalerhöhung fehlgeschlagen war, weil erhebliche Teile des Volumens in Wahrheit indirekt mit eigenen Mitteln aufgekauft hatten werden müssen. Soweit die Zweitbeklagte diesen Schluss des Berufungsgerichts mit dem fiktiven Inhalt einer richtigen Ad‑hoc‑Mitteilung zu widerlegen versucht, ist dies zum Scheitern verurteilt. Eine richtige bzw vollständige Ad‑hoc‑Mitteilung gab es im Februar 2007 eben gerade nicht, und Umstände, aus denen der Kläger zeitnah auf eine Unrichtigkeit dieser Ad‑hoc‑Mitteilung schließen hätte müssen (was Erkundigungspflichten ausgelöst hätte), sind weder den erstgerichtlichen Feststellungen noch denen des Berufungsgerichts zu entnehmen. Der Kurssturz im Sommer 2007, der zum Verkauf der Zertifikate durch den Kläger im September 2007 führte, war für den als „zögerlichen Sparbuchsparer“ qualifizierten und somit als mit Anlageprodukten völlig unerfahren zu bezeichnenden Kläger noch kein ausreichender Anlass, von einer Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Ad‑hoc‑Mitteilungen auszugehen. Soweit die Revision mit Kursverlusten im Sommer 2007 aus dem Grund des Bekanntwerdens der Rückkäufe argumentiert, widerspricht sie dem festgestellten Sachverhalt. Nach den Feststellungen des Erstgerichts wurde über Aktienrückkäufe bei der M***** in österreichischen Tageszeitungen erst ab November 2010 berichtet.

5.2.5. Aus der Feststellung, der Berater F***** habe den Kläger zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt einige Monate nach dem Verkauf angerufen und ihn über die „Möglichkeit der Beteiligung an einer Sammelklage“ informiert, ist für die Zweitbeklagte nichts zu gewinnen. Dass sich aus diesen Unterlagen eine Verletzung der Ad‑hoc‑Pflichten der Beklagten ableiten hätte lassen, die eine erfolgreiche Klagsführung ermöglicht hätten, lässt sich aus dieser Feststellung nicht entnehmen. Dass es dazu im Übrigen an ausreichendem Vorbringen im Verfahren erster Instanz gefehlt hatte, gesteht die Zweitbeklagte in ihrer Revision letztlich sogar zu, in der sie damit argumentiert, das konkrete Vorbringen zur Verjährung sei ihr aufgrund der überraschenden Rechtsansicht des Berufungsgerichts erst in der Revision möglich. Dass das Berufungsgericht zu Unrecht davon ausgegangen wäre, es fehle an ausreichend substanziiertem Prozessvorbringen der Beklagten zum Beginn der Verjährungsfrist wegen Verletzung der Ad‑hoc‑Pflicht behauptet die Zweitbeklagte in ihrer Revision gar nicht.

5.2.6. Der Schadenersatzanspruch auf Basis der Ad‑hoc‑Pflichtverletzungen – so er tatsächlich besteht – ist daher jedenfalls nicht verjährt.

6. Damit war die Entscheidung des Berufungsgerichts aufzuheben, damit das Berufungsgericht die von ihm als notorisch angesehenen Tatsachen mit den Beklagten erörtern und ihnen Gelegenheit zu einem allfälligen Gegenbeweis einräumen kann. Die Beurteilung, ob eine bestimmte Tatsache wegen einer Vielzahl gleichartiger Entscheidungen für das Berufungsgericht als gerichtsnotorisch anzusehen ist und ob ein allenfalls angetretener Gegenbeweis erbracht wird, obliegt dabei ausschließlich der Beurteilung der Tatsacheninstanzen. Sollte das Berufungsgericht nach den erforderlichen Erörterungen neuerlich zu den nunmehr in Zweifel gezogenen Feststellungen gelangen, wird die Klagsstattgebung zu bestätigen sein. Sollte dies nicht der Fall sein, wird sich das Berufungsgericht mit den Verfahrens‑ und Beweisrügen zu den vom Erstgericht herangezogenen Anspruchsgründen zu befassen und dazu Stellung zu nehmen haben.

7. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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