OGH 9ObA119/16i

OGH9ObA119/16i28.10.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Dehn, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter KR Mag. Paul Kunsky und Mag. Matthias Schachner in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Dr. ***** H*****, vertreten durch Dr. Roland Gerlach, Mag. Branco Jungwirth ua, Rechtsanwälte in Wien, und des Nebenintervenienten auf Seiten der klagenden Partei ***** Dr. ***** S*****, gegen die beklagte Partei A*****, vertreten durch Teicht Jöchl Rechtsanwälte Kommandit-Partnerschaft in Wien, wegen zuletzt 136.245,02 EUR brutto sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 26. Juli 2016, GZ 10 Ra 5/16b‑94, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:009OBA00119.16I.1028.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO).

 

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1.  Das Vorliegen der Voraussetzungen für eine gerechtfertigte vorzeitige Auflösung des Dienstverhältnisses kann immer nur aufgrund der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (RIS-Justiz RS0106298).

Der Kläger, der von 1991 bis 2006 geschäftsführender Generalsekretär des beklagten Vereins war, bestreitet nicht, dass seine mehrfachen Bargeldentnahmen in den Jahren 1995/1996 in Höhe von 100.000 ATS bis 300.000 ATS ohne Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit erfolgten, keinen Eingang in die Buchhaltung fanden und geeignet waren, den Tatbestand der Vertrauensunwürdigkeit iSd § 27 Abs 1 AngG zu erfüllen. In seiner Zulassungsbeschwerde meint er aber im Kern, dass die Barentnahmen im Zuge des Prüfungsgeschehens dem Prüfer der Kontrollkommission bekannt gewesen seien, dieser, da die entnommenen Beträge vom Kläger stets zurückgeführt wurden, nichts weiteres veranlasst habe und sich die Beklagte dessen Wissen zurechnen lassen müsse. Der Kläger habe darauf vertrauen können, dass aus den Kassenentnahmen keine weiteren arbeitsrechtlichen Sanktionen resultieren würden. Die mehr als zehn Jahre zurückliegende Entleihung von Bargeldbeträgen könne auch keine Unzumutbarkeit seiner Weiterbeschäftigung begründen.

2. Bei einem zweifelhaften Sachverhalt ist der Dienstgeber verpflichtet, die zur Feststellung des Sachverhalts erforderlichen und zumutbaren Erhebungen ohne Verzögerung durchzuführen. Die Verpflichtung zur

Nachforschung nach einem Entlassungsgrund besteht aber nur dann, wenn dem Dienstgeber konkrete Umstände zur Kenntnis gelangt sind, die die Annahme rechtfertigen, dass das Verhalten des Dienstnehmers eine Entlassung rechtfertigt. Bloße Verdachtsmomente reichen zur Begründung der Nachforschungsverpflichtung nicht aus (RIS-Justiz RS0029345; RS0029348). Das Entlassungsrecht des Arbeitgebers kann unter bestimmten Umständen aber auch unabhängig vom Willen des Arbeitgebers und von dessen Kenntnis vom Entlassungsgrund untergehen. Eine solche Verwirkung tritt ein, wenn der Arbeitgeber, weil er vom Entlassungsgrund keine Kenntnis hat, eine gewisse Zeit hindurch eine Entlassung nicht ausgesprochen hat, der Entlassungsgrund aber inzwischen soviel an Bedeutung verloren hat, dass die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers für den Arbeitgeber nicht mehr unzumutbar ist, und der Arbeitnehmer nach Treu und Glauben mit dem Ausspruch der Entlassung auch nicht mehr zu rechnen braucht (RIS-Justiz RS0029014). Beim Entlassungsgrund der Vertrauensunwürdigkeit muss das Gesamtbild des Verhaltens des Dienstnehmers berücksichtigt werden (s RIS-Justiz RS0029790).

3. Die Entscheidungen der Vorinstanzen weichen von dieser Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht ab:

Nach dem festgestellten Sachverhalt wurde erst in einem vom neuen Präsidenten des Beklagten in Auftrag gegebenen Sonderprüfungsbericht im Jahr 2006 festgestellt, dass sich „im Jahresschnitt 1995 und 1996 500.000 ATS nicht in der Kassa“ befunden hätten, wobei die Leiterin des Finanzwesens die Kassenbestände erst dann mit Barentnahmen des Klägers begründete. Dass es bereits davor für das Präsidium oder den Präsidenten Anhaltspunkte für jene Privatentnahmen gegeben hatte, lässt sich den Feststellungen nicht entnehmen. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass dem Beklagten das Wissen des Prüfers um den Jahresabschluss und das Rechnungswesen 1996 nicht zur Last zu legen ist, ist in diesem Zusammenhang vertretbar, weil dieser nach dem Sachverhalt keinen Grund zur Annahme für Privatentnahmen des Klägers haben musste und die Bargeldkassenbestände infolge der Rückführungen letztlich auch wieder auf dem üblichen Stand waren. Hatte es unter dem Blickwinkel des Controlling für den Prüfer damit sein Bewenden und erfolgte kein Bericht ans Präsidium, konnte der Kläger aber auch nicht darauf vertrauen, dass seine Handhabung der Kassenbestände von diesem zustimmend zur Kenntnis genommen und nicht mehr zum Anlass von Sanktionen genommen würde.

Die Revision übergeht aber vor allem, dass die Vorgänge um die Barentnahmen im Hinblick auf eine Vertrauensunwürdigkeit des Klägers auch nicht isoliert zu betrachten sind, sondern – im Sinne der genannten Rechtsprechung zum „Gesamtbild des Verhaltens“ – zu berücksichtigen ist, dass es in der Folge über Jahre „Gegenverrechnungen“ des Klägers zu Provisionsansprüchen aus seiner Inseratenvermittlungstätigkeit für die Beklagte gegeben hatte, die weder ausreichend dokumentiert noch ausreichend offengelegt waren (zB kein Aussteller, kein Empfänger der „Agenturprovision“, kein Ausstellungsdatum). In diesem Zusammenhang kann sich der Kläger auch nicht auf eine Billigung durch den Präsidenten des Beklagten berufen, weil ihm dieser vertraute und mit den Auszahlungsmodalitäten im Detail nichts zu tun haben wollte. Eine „Genehmigung der Buchführung“ des Klägers geht daraus gerade nicht hervor. Seiner Argumentation, dass der Beklagte auf sein Entlassungsrecht verzichtet oder es verwirkt hätte, ist daher insgesamt nicht zu folgen.

4. Hinsichtlich der vom Kläger bestrittenen Rechtzeitigkeit des Entlassungsausspruchs ist es ständige Rechtsprechung, dass die Gründe für die vorzeitige Lösung eines Dienstverhältnisses bei sonstiger Verwirkung des Entlassungsrechts

unverzüglich, dass heißt ohne schuldhaftes Zögern, geltend zu machen sind. Der Dienstgeber darf mit der Ausübung seines Entlassungsrechts nicht wider Treu und Glauben so lange warten, dass der Angestellte aus diesem Zögern auf einen Verzicht des Dienstgebers auf die Geltendmachung der Entlassungsgründe schließen muss; der Dienstnehmer, dem ein pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen wird, soll darüber hinaus nicht ungebührlich lange über sein weiteres dienstrechtliches Schicksal im Unklaren gelassen werden (RIS-Justiz RS0031799).

Bei Beurteilung der Rechtzeitigkeit einer Entlassung ist bei juristischen Personen darauf Bedacht zu nehmen, dass die Willensbildung umständlicher ist als bei physischen Personen; es müssen solche Verzögerungen anerkannt werden, die in der Natur des Dienstverhältnisses oder sonst in den besonderen Umständen des Falls sachlich begründet sind (RIS-Justiz RS0029328). Auch dafür sind die Umstände des Einzelfalls maßgeblich (RIS-Justiz RS0031799 [T28]).

Hier lag der Prüfbericht am 24. 2. 2006 vor. Am 25. 2. 2006 trat der Präsident des Beklagten zurück. Wenn der neue Präsident zunächst eine gütliche Einigung mit dem Kläger anstrebte, aufgrund der komplexen, auch medial verfolgten Situation Rechtsberatung einholte und schriftlich am 8. 3. 2006 die Entlassung aussprach, so haben die Vorinstanzen die Rechtzeitigkeit der Entlassung hier in vertretbarer Weise bejaht, zumal der Kläger bereits vom Dienst suspendiert war und für ihn kein Grund zur Annahme bestand, dass der Beklagte auf die Geltendmachung von Entlassungsgründen verzichten wollte.

5.  Die näher ausgeführte Aktenwidrigkeit wurde geprüft, liegt jedoch nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Dass der Präsident des Beklagten die für die Fachbuch-Inseratenwerbung verrechneten Honorare „nur oberflächlich“ geprüft hatte, wurde von den Vorinstanzen aus der Gesamtheit seiner Aussage („kein Erbsenzähler“) geschlossen. Dass er über diese Honorarforderungen informiert war, lässt im Übrigen noch nicht darauf schließen, dass er auch ihm unbekannte Gegenverrechnungsmodalitäten akzeptiert hatte.

6.  Weitere Rechtsfragen von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO bringt der Kläger in der Zulassungsbeschwerde nicht vor. Seine außerordentliche Revision ist daher zurückzuweisen.

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