OGH 2Ob172/15f

OGH2Ob172/15f5.8.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé sowie den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Verlassenschaftssache nach dem am 11. Dezember 2011 verstorbenen M***** S*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der erblasserischen Nichte mj A***** Z*****, geboren am ***** 2000, *****, vertreten durch die Kollisionskuratorin Mag. Caroline Weiskopf, Rechtsanwältin in Innsbruck, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 24. April 2015, GZ 53 R 157/14y‑141, womit infolge Rekurses der erblasserischen Nichte der Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 18. Juni 2014, GZ 3 A 49/14w‑113, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0020OB00172.15F.0805.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung an das Rekursgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Begründung

Der 1958 geborene, am 11. 12. 2011 verstorbene Erblasser war ledig und kinderlos. Seine gesetzlichen Erben wären sein Halbbruder zu einem Viertel und seine Schwester zu drei Viertel gewesen. Er hinterließ jedoch ein eigenhändiges Testament vom 30. 3. 2004, in welchem er seine Lebensgefährtin zur Alleinerbin eingesetzt und überdies angeordnet hatte, dass „in keinem Fall“ seine Schwester etwas erben soll. Am 10. 1. 2012 gab die frühere Lebensgefährtin des Erblassers aufgrund dieses Testaments die unbedingte Erbantrittserklärung ab.

Mit Schreiben vom 23. 1. 2012 übersandte ein Rechtsanwalt ein von einer unbekannten Person in seiner Kanzlei abgegebenes weiteres eigenhändiges Testament an den Gerichtskommissär. Dieses Testament ist mit 22. 10. 2010 datiert. Darin wurde die Nichte des Erblassers, die Tochter seiner Schwester, zur Universalerbin eingesetzt und dem SOS‑Kinderdorf ein Betrag von 150.000 EUR vermacht. Die Verwaltung des vererbten Vermögens soll bis zum 30. Lebensjahr der Erbin ihren Eltern obliegen. In der Tagsatzung vom 6. 2. 2012 gaben die Eltern der eingesetzten Erbin in deren Namen aufgrund des Testaments vom 22. 10. 2010 die bedingte Erbantrittserklärung ab.

Mit Beschluss vom 5. 3. 2012 bestellte das Erstgericht eine Kollisionskuratorin zur Vertretung der Minderjährigen im gegenständlichen Verlassenschafts-verfahren. Außerdem wurde ein Verlassenschaftskurator bestellt.

Im Verfahren über das Erbrecht bestritt die frühere Lebensgefährtin des Erblassers die Echtheit des Testaments vom 22. 10. 2010. Die Nichte bestritt und behauptete ihrerseits, dass das Testament vom 30. 3. 2004 nicht vom Erblasser stamme. Das Erstgericht bestellte eine Schriftsachverständige, die es mit der Erstellung von Befund und Gutachten über die Echtheit des Testaments beauftragte. Die Sachverständige gelangte zu dem Ergebnis, dass die Textschrift des Testaments vom 22. 10. 2010 „wahrscheinlich gefälscht“ und die Unterschrift unter dem Testament „mit hoher Wahrscheinlichkeit gefälscht“ sei. Die Nichte lehnte die Sachverständige ab.

Das Erstgericht wies mit Beschluss vom 18. 6. 2014 den Ablehnungsantrag ab. Es stellte das Erbrecht der Lebensgefährtin fest und wies die aufgrund des Testaments vom 22. 10. 2010 abgegebene Erbantrittserklärung der Nichte ab.

Das Erstgericht folgte in seinen Feststellungen dem Gutachten der Sachverständigen, stützte sich aber auch auf die als „fragwürdig“ bezeichneten Begleitumstände beim Auftauchen des Testaments sowie einen Rechtsstreit zwischen dem Erblasser und seiner Schwester, der zum Zeitpunkt der angeblichen Testamentserrichtung noch nicht endgültig bereinigt war.

Die Entscheidung des Erstgerichts wurde den Parteien des Erbrechtsstreits am 8. 8. 2014 zugestellt. Mit Schreiben vom 11. 8. 2014 verständigte der Gerichtskommissär das Erstgericht vom Schreiben einer Person namens H***** K***** unter einer Adresse in Deutschland, das am 6. 8. 2014 bei ihm eingelangt sei. Das beigefügte Schreiben ist undatiert und unleserlich paraphiert. Darin behauptet der Verfasser, er habe „gehört“, dass es „ein Problem“ mit dem Testament des Erblassers gebe, der ein sehr guter Bekannter von ihm gewesen sei. Er und seine namentlich nicht genannte Lebensgefährtin könnten unter Eid bezeugen, dass der Erblasser Ende Oktober 2010 eigenhändig ein Testament erstellt habe. Der Inhalt habe seine Nichte und eine größere Barsumme für das SOS‑Kinderdorf betroffen.

In ihrem Rekurs gegen den erstinstanzlichen Beschluss legte die Nichte eine Kopie dieses Schreibens samt der Übermittlungsnote des Gerichtskommissärs vom 11. 8. 2014 sowie eines weiteren an die Kollisionskuratorin adressierten und mit „Aussage zur Sache Testament M***** S*****“ überschriebenen Schreibens des H***** K***** vor. In diesem weiteren, undatierten und nicht unterfertigten Schreiben wird einleitend ausgeführt, dass der Verfasser vom Verlassenschaftsgericht den Namen der Kollisionskuratorin „bekommen“ habe. Den folgenden Brief habe er jeweils an den Gerichtskommissär und den Richter geschickt. Nachdem er keine Reaktion erhalten habe, sei er beim Verlassenschaftsgericht ein zweites Mal „vorstellig“ geworden und so auf die Adresse der Kollisionskuratorin „gestoßen“. Danach folgt die wörtliche Wiedergabe des ersten Briefs.

Im letzten Punkt ihres Rekursvorbringens ging die Nichte des Erblassers ausführlich auf das „neue Beweisaufkommen“ ein. H***** K***** habe die Kollisionskuratorin am 19. 8. 2014 aus Deutschland telefonisch kontaktiert und erklärt, dass er und seine Lebensgefährtin bei der Testamentserrichtung persönlich anwesend gewesen seien und dies erforderlichenfalls auch unter Eid aussagen würden. Die Kollisionskuratorin habe ihn ersucht, seine telefonische Aussage schriftlich mitzuteilen. Am selben Tag sei dann die beiliegende schriftliche Erklärung per E‑Mail in der Kanzlei der Kollisionskuratorin eingelangt. Bis zu diesem Tag hätten weder die Nichte noch deren Vertreterin Kenntnis von den Zeugen gehabt. Sie sei daher ohne ihr Verschulden außerstande gewesen, vor der Entscheidung des Erstgerichts die neuen Beweismittel geltend zu machen. Diese hätten eine günstigere Entscheidung für sie herbeigeführt. Am 21. 8. 2014 habe das Verlassenschaftsgericht das an den Gerichtskommissär gerichtete Schreiben samt dessen Übermittlungsnote an die Kollisionskuratorin zur Kenntnis übersandt. Zum Beweis der Richtigkeit dieses Vorbringens stützte sich die Nichte (nur) auf die vorgelegten Urkunden. „Allein aufgrund dieses neuen Beweisergebnisses“ sei der erstinstanzliche Beschluss aufzuheben und dem Erstgericht nach Verfahrensergänzung eine neuerliche Entscheidung aufzutragen.

Die Lebensgefährtin bestritt in ihrer Rekursbeantwortung die Echtheit und Richtigkeit des vorgelegten Schreibens und beantragte, es zurückzuweisen. Es sei formal und inhaltlich „zu nebulös“, um im Rechtsmittelverfahren Berücksichtigung zu finden. Keinesfalls könne es die Richtigkeit des graphologischen Gutachtens erschüttern. Mangels Datierung sei auch nicht erkennbar, ob es der Antragsgegnerin nicht schon längst zur Verfügung gestanden sei.

Erst mit weiterer Eingabe vom 8. 9. 2014 beantragte die Nichte die Einvernahme der nun namentlich genannten Lebensgefährtin des H***** K*****.

Das Rekursgericht stellte den Akt zunächst an das Erstgericht zurück, weil die bedingte Erbantrittserklärung der Nichte unter den gegebenen Umständen (Kostenrisiko im Verfahren über das Erbrecht) einer pflegschaftsbehördlichen Genehmigung bedürfe. Mit Beschluss des Pflegschaftsgerichts vom 12. 3. 2015 wurde diese Genehmigung trotz der für die Minderjährige negativen Entscheidung des Erstgerichts mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die zwischenzeitlich aufgetauchten neuen Beweismittel rechtskräftig erteilt.

Mit dem angefochtenen Beschluss bestätigte das Rekursgericht die Entscheidung des Erstgerichts. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteigt, der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig und der Revisionsrekurs hinsichtlich der Entscheidung über die Ablehnung der Sachverständigen jedenfalls unzulässig sei.

In seiner umfangreichen Entscheidungs-begründung ging das Rekursgericht auf alle Argumente der Nichte ausführlich ein, nur nicht auf die mit dem Rekurs geltend gemachte Neuerung. Zu dieser findet sich in der Rekursentscheidung kein Wort.

Einziges Thema des gegen den zweitinstanzlichen Beschluss gerichteten außerordentlichen Revisionsrekurses der Nichte ist das Übergehen der ihrer Auffassung nach zulässigen Neuerung, das sie unter den Rechtsmittelgründen der Nichtigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und Aktenwidrigkeit rügt.

Die frühere Lebensgefährtin des Erblassers beantragt in der ihr freigestellten Revisionsrekurs-beantwortung, das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht bei seiner Entscheidung eine zulässige und entscheidungsrelevante Neuerung unberücksichtigt ließ. Das Rechtsmittel ist auch im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

Die Rechtsmittelwerberin macht geltend, sie habe sich in ihrem Rekurs gegen die erstinstanzliche Entscheidung auf neue Beweismittel berufen, zu deren Geltendmachung sie vor Schluss der mündlichen Verhandlung ohne ihr Verschulden nicht in der Lage gewesen sei. Zum Beweis der Richtigkeit des neuen Vorbringens, aber auch zum Beweis dafür, dass die neuen Beweise erst nach Schluss der Verhandlung erster Instanz hervorgekommen seien, habe sie die besagten Schreiben vorgelegt. Die Beweise wären jedenfalls entscheidungsrelevant gewesen, werde darin doch bestätigt, dass der Erblasser das Testament zugunsten seiner Nichte sehr wohl eigenhändig unterschrieben habe. Sie belegten auch, dass das Gutachten der Schriftsachverständigen nicht ordnungsgemäß und korrekt erstellt worden sei.

Hierzu wurde erwogen:

1. § 49 AußStrG unterscheidet bei der Zulässigkeit von Neuerungen im Rekursverfahren danach, ob es sich um Tatsachen und Beweismittel handelt, die zur Zeit der Entscheidung erster Instanz bereits eingetreten oder vorhanden waren (nova reperta), und solchen, die erst nach Beschlussfassung entstanden sind (nova producta; vgl 5 Ob 237/12g = iFamZ 2013/93 [Fucik]). Tatsachen und Beweismittel, die zur Zeit des Beschlusses erster Instanz schon vorhanden waren, sind im Rekursverfahren nicht zu berücksichtigen, wenn sie von der Partei schon vor Fassung des Beschlusses erster Instanz vorgebracht werden hätten können, es sei denn, die Partei kann dartun, dass es sich bei der Verspätung (Unterlassung) des Vorbringens um eine entschuldbare Fehlleistung handelt (§ 49 Abs 2 AußStrG).

Sofern die betreffenden Umstände nicht ohnehin schon eindeutig und zweifelsfrei dem Akteninhalt zu entnehmen sind, hat der Rechtsmittelwerber die Zulässigkeit der Neuerungen im Rechtsmittel zu behaupten und schlüssig darzulegen. Gegebenenfalls hat er zu bescheinigen, dass die Verspätung (Unterlassung) des Vorbringens auf einer entschuldbaren Fehlleistung beruht (8 Ob 62/13w; RIS‑Justiz RS0120290, RS0006810 [T17, T21]; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 49 Rz 32). Die Missachtung zulässiger Neuerungen in zweiter Instanz begründet weder Nichtigkeit noch Aktenwidrigkeit, sondern einen Verfahrensmangel (8 Ob 62/13w; 6 Ob 187/15s; vgl RIS‑Justiz RS0006820). Im Revisionsrekurs ist daher die Nichtberücksichtigung der im Rekurs enthaltenen Neuerungen als Mangel des Rekursverfahrens zu rügen (8 Ob 62/13w) und die Relevanz des Mangels darzutun (RIS‑Justiz RS0122252 [T3]).

2. Im Verfahren über das Erbrecht hat das Gericht nur „im Rahmen des Vorbringens der Parteien und ihrer Beweisanbote“ zu entscheiden (§ 161 Abs 1 AußStrG). Das neue Beweisanbot im Rekurs der Nichte betraf Tatumstände, die bereits vor der Entscheidung erster Instanz vorhanden waren (nova reperta). Die Neuerung bestand in neuen Beweismitteln, welche die vorwiegend auf dem Gutachten der Schriftsachverständigen beruhenden entscheidungsrelevanten Feststellungen zur Echtheit des Testaments vom 22. 10. 2010 erschüttern sollen. Bei diesen Beweismitteln handelte es sich (nur) um die vorgelegten Urkunden, nämlich die beiden Schreiben des H***** K***** und die Übermittlungsnote des Gerichtskommissärs, die gleichzeitig auch der Bescheinigung der Zulässigkeit der Neuerung dienen sollten.

Den Zeugenbeweis hat die Nichte in ihrem Rekurs hingegen nicht angeboten. Sie hat weder die Einvernahme des Verfassers der Urkunden, noch jene seiner Lebensgefährtin oder der Kollisionskuratorin beantragt, obwohl mehrfach von „den Zeugen“ die Rede war. Der in einem gesonderten Schriftsatz erst nachträglich geführte Zeugenbeweis ist unbeachtlich, weil er gegen den auch im Außerstreitverfahren geltenden Grundsatz der Einmaligkeit des Rechtsmittels verstößt (RIS‑Justiz RS0007007; vgl G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 49 Rz 12). Dass die Nennung der Zeugin nicht schon im Rekurs möglich war, wurde nicht behauptet. Dies wäre auch kaum anzunehmen, hatte doch die Kuratorin mit dem Verfasser des Schreibens den Rekursbehauptungen zufolge noch vor der Rekurserhebung telefonischen Kontakt.

3. Die Nichte hat die Nichtbeachtung der Neuerung im Revisionsrekurs zutreffend (auch) als Verfahrensmangel gerügt. Die Relevanz des Mangels ist unter zwei Gesichtspunkten zu prüfen:

‑ Sie setzt zunächst voraus, dass die Neuerung zulässig war, die Zulässigkeit im Rekurs also ausreichend behauptet und bescheinigt wurde. Dazu hat die Nichte im Revisionsrekurs ausreichendes Vorbringen erstattet. Danach sei ihr die Vorlage besagter Urkunden in erster Instanz nicht möglich gewesen, was auch mit der oben wiedergegebenen Chronologie des Geschehens im Einklang steht.

‑ Allein nach dem Inhalt der – in ihrer Echtheit und Richtigkeit bestrittenen – Urkunden wäre die entscheidungswesentliche Frage der Echtheit des Testaments vom 22. 10. 2010 zu bejahen. Auch insoweit wird im Revisionsrekurs die Relevanz des Mangels ausreichend behauptet. Ob und inwieweit aber die neuen Beweismittel zur Erschütterung der bisherigen Tatsachengrundlage geeignet sind, ist eine Frage der Beweiswürdigung, die den Tatsacheninstanzen vorbehalten bleibt.

4. Vor diesem Hintergrund hätte das Rekursgericht die Neuerung berücksichtigen und – allenfalls nach Durchführung einer mündlichen Rekursverhandlung (vgl Fucik/Kloiber, AußStrG § 52 Rz 2; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 52 Rz 7) – in seine Entscheidung einbeziehen müssen. Das Übergehen der Neuerung begründet daher einen Mangel des Rekursverfahrens, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zwingt (vgl 5 Ob 237/12g).

Das Rekursgericht wird im fortgesetzten Rekursverfahren nach allfälliger Verfahrensergänzung, jedenfalls aber unter Berücksichtigung der mit dem Rekurs vorgelegten Urkunden, neuerlich über den Rekurs der Nichte zu entscheiden haben.

5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 78 Abs 1 iVm § 185 AußStrG.

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