OGH 2Ob112/15g

OGH2Ob112/15g17.3.2016

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé und den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L***** A*****, vertreten durch Dr. Anton Tschann, Rechtsanwalt in Bludenz, gegen die beklagte Partei Fachverband der Versicherungsunternehmungen Österreichs, Schwarzenberg-platz 7, 1030 Wien, vertreten durch Tramposch & Partner Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen 57.721,98 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 18. März 2015, GZ 2 R 35/15m‑42, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 22. Jänner 2015, GZ 7 Cg 60/13p‑36, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 5. Februar 2015, GZ 7 Cg 60/13p-38, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0020OB00112.15G.0317.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

Am 10. 1. 2013 ereignete sich auf dem eingezäunten Betriebsareal der L***** GmbH (im Folgenden: Firma L*****) ein Unfall, an dem der (vormalige Erstbeklagte) R***** B***** als Lenker eines Gabelstaplers und die Klägerin als Radfahrerin beteiligt waren und die Klägerin verletzt wurde. Beide Unfallbeteiligten waren Mitarbeiter der Firma L*****. Die Klägerin war damals als Einkäuferin in einem Büro tätig, musste aber für verschiedene Beschäftigungen ihr Arbeitsgebäude verlassen und ein anderes Gebäude auf dem Betriebsgelände aufsuchen, wozu sie das Fahrrad verwendete. R***** B***** war als Leiharbeiter bei der Firma L***** tätig und als Staplerfahrer im Bereich des Warenausgangs eingesetzt, um Güter innerhalb des Betriebsgeländes zu transportieren. Der Gabelstapler, der nur im Betriebsgelände verwendet wurde, wies eine Bauartgeschwindigkeit von 24 km/h auf.

Die Klägerin begehrt Schadenersatz. Der Gabelstaplerfahrer habe sie übersehen, es treffe ihn das Alleinverschulden am Unfall. Für den Hubstapler habe kein Versicherungsvertrag bestanden. Selbst ohne konkrete Versicherungspflicht bestünde aber eine Entschädigungspflicht der beklagten Partei nach § 6 Abs 1 VOEG. Die Ausnahmebestimmung des § 6 Abs 3 VOEG komme nicht zum Tragen, weil es sich beim Firmengelände um keinen geschlossenen Bereich gehandelt habe, weiters die Ausnahmebestimmung nur Unfälle, an denen mehrere Fahrzeuge beteiligt sind, umfasse und letztlich die Unfallbeteiligten in völlig unterschiedlichen Betriebsbereichen eingegliedert gewesen seien.

Der beklagte Verband bestritt und wendete ein, die Klägerin und der Gabelstaplerfahrer seien beide in den Betrieb desselben Unternehmens eingebunden gewesen. Eine Haftung nach § 6 VOEG sei darüber hinaus deshalb nicht anzunehmen, weil der Gabelstapler ein nicht versicherungspflichtiger Transportkarren im Sinne des § 1 Abs 2 lit b KFG sei, und der Unfall sich auf einem Firmengelände ereignet habe.

Das Erstgericht erließ gegen den vormaligen Erstbeklagten und Lenker des Gabelstaplers ein rechtskräftiges Versäumungsurteil und wies das Klagebegehren gegen den (zweit-)beklagten Verband ab. Gemäß dem mit 1. 1. 2013 in novellierter Fassung in Kraft getretenen § 6 Abs 3 VOEG sei der Geschädigte auch dann nicht zu entschädigen, „wenn der Schaden durch einen Unfall von in § 1 Abs 2 lit a und b KFG angeführten Fahrzeugen im geschlossenen Bereich zwischen in den Arbeitsbetrieb eingebundenen Personen herbeigeführt“ werde. Dass im vorliegenden Fall nur ein Fahrzeug beteiligt gewesen sei, hindere die Anwendung der Ausnahmebestimmung nicht. Es liege ein Unfall im geschlossenen Bereich zwischen in den Arbeitsbetrieb eingebundenen Personen vor. Nicht Voraussetzung der Ausnahmebestimmung sei es, dass beide Personen gerade mit der Ausführung von Arbeiten beschäftigt seien, und auch nicht, dass sie in denselben Arbeitsvorgang eingebunden wären; es genüge vielmehr, dass sie für den gleichen Arbeitgeber (im gleichen Arbeitsbetrieb) tätig seien.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Der Zweck der Ausnahmebestimmung liege darin, Arbeitsunfälle von der Entschädigungspflicht auszunehmen. Die von der Klägerin unter Berücksichtigung der 5. Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherungs‑Richtlinie, 2005/14/EG , verlangte restriktive Interpretation dahingehend, dass „in den Arbeitsbetrieb eingebundenen Personen“ bedeute, dass die Unfallbeteiligten in denselben Arbeitsvorgang eingebunden sein müssten, könne nicht geteilt werden, weil sie dem aus den Gesetzesmaterialien zu entnehmenden Regelungszweck, Arbeitsunfälle aus der Entschädigungspflicht der Beklagten auszunehmen, widerspreche. Auch wäre eine solche Interpretation sachlich nicht gerechtfertigt und ergebe sich aus der in den Materialien enthaltenen Aufzählung jener Personen, die unter die Ausnahmeregelung fallen, nämlich Arbeitnehmer/innen, Leiharbeitskräfte sowie Personen in ähnlichen Rechtsverhältnissen, Gegenteiliges. Es falle daher jeglicher Arbeitsunfall unter die Ausnahmeregelung des § 6 Abs 3 Z 2 VOEG. Aus der Verwendung des Plurals („Fahrzeugen“) in der genannten Bestimmung sei nicht abzuleiten, dass sich die Ausnahmebestimmung nur auf solche Unfälle beziehe, bei denen zwei oder mehrere der in § 1 Abs 2 lit a oder b KFG 1967 angeführten Fahrzeuge beteiligt seien. Dass Gabelstapler ‑ ungeachtet der Bauartgeschwindigkeit von 24 km/h ‑ unter den Begriff „Transportkarren“ im Sinne des § 2 Abs 1 Z 19 KFG fielen, habe der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 7 Ob 199/10f ausgesprochen.

Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil oberstgerichtliche Rechtsprechung zu der am 1. 1. 2013 in Kraft getretenen Bestimmung des § 6 Abs 3 Z 2 VOEG nicht bestehe.

Dagegen richtet sich die ordentliche Revision der Klägerin , die die Stattgebung ihres Begehrens, in eventu die Aufhebung der Rechtssache und Zurückverweisung an das Erstgericht anstrebt. Die Zulässigkeit ihres Rechtsmittels stützt sie darauf, dass die Ausnahmebestimmung des § 6 Abs 3 Z 2 VOEG den Regelungszweck der Richtlinie 2005/14/EG (5. Kraftfahrzeug-Haftpflicht-versicherungs‑Richtlinie) unterlaufe. Nach dieser hätten die Mitgliedstaaten die Gleichbehandlung gewisser von der Versicherung ausgenommener Fahrzeuge mit den trotz Versicherungspflicht nicht versicherten Fahrzeugen zu gewährleisten. Der Gesetzgeber habe diese Richtlinie seinerzeit mit § 6 VOEG aF umgesetzt und mit der Novellierung der Bestimmung durch Einführung des § 6 Abs 3 Z 2 VOEG die Umsetzung ‑ gemeinschaftswidrig ‑ wieder aufgehoben. Die Ausnahmebestimmung müsse daher richtlinienkonform restriktiv ausgelegt werden, was damit zu erreichen sei, dass man den Gesetzesbegriff „Unfall zwischen in den Arbeitsbetrieb eingebundenen Personen“ dahin einschränkend auslege, dass die Beteiligten in denselben Arbeitsvorgang eingebunden sein müssen, und dadurch, dass man eine wörtliche Interpretation der gesetzlichen Regelung „Unfall von in ... KFG angeführten Fahrzeugen ...“ vornehme und die Bestimmung nur auf Fälle anwende, in denen zwei oder mehrere derartige Fahrzeuge involviert seien, was hier nicht der Fall gewesen sei. Im Übrigen bestehe keine höchstgerichtliche Judikatur zu § 6 Abs 3 Z 2 VOEG.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision der klagenden Partei als unzulässig zurückzuweisen; in eventu, ihr nicht Folge zu geben.

Eine erhebliche Rechtsfrage liege nicht vor, weil das Gesetz selbst eine klare, eindeutige Regelung treffe. Sinn und Zweck der per 1. 1. 2013 eingeführten Bestimmung sei es gewesen, Arbeitsunfälle vom Anwendungsbereich des VOEG auszunehmen. Daran vermöge auch die Argumentation der Klägerin in Richtung einer richtlinienkonformen Auslegung nichts zu ändern. Eine solche dürfe nur soweit erfolgen, als das nationale Recht dem Rechtsanwender einen Spielraum einräume. Sie dürfe einer nach dem Wortlaut und im Sinn eindeutigen nationalen Regelung keinen durch die nationalen Auslegungsregeln nicht erzielbaren, abweichenden oder gar entgegengesetzten Sinn geben (RIS‑Justiz RS0114158). Sowohl der Wortlaut der Bestimmung als auch der Wille des historischen Gesetzgebers lasse aber keinerlei Zweifel daran zu, dass der vorliegende Arbeitsunfall nicht vom Anwendungsbereich des VOEG umfasst sei.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig im Sinne der Ausführungen des Berufungsgerichts. Sie ist auch berechtigt im Sinne des Eventualantrags der Revision.

I. Zur Richtlinienwidrigkeit des § 6 Abs 3 Z 2 VOEG:

I.1. Mit Art 1 Z 3 lit b der Richtlinie 2005/14/EG (5. Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherungs‑Richtlinie) vom 11. 5. 2005 wurde Art 4 lit b der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. 4. 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht durch Neufassung von Unterabs 2 in dem Sinne abgeändert, dass die Mitgliedstaaten die Gleichbehandlung gewisser von der Versicherungspflicht ausgenommener Fahrzeuge mit den trotz Versicherungspflicht nicht versicherten Fahrzeugen zu gewährleisten haben (2 Ob 89/12w, ZVR 2014/7; Kathrein, Verkehrsopferschutz neu ‑ Das Verkehrsopfer‑Entschädigungsgesetz, ZVR 2007/144, 243 [247]). Den Mitgliedstaaten wurde dadurch die Wahlmöglichkeit gewährt, diese Fahrzeuge künftig der Versicherungspflicht zu unterwerfen, oder dafür zu sorgen, dass durch solche Fahrzeuge Geschädigte von einem nationalen Garantiefonds entschädigt werden (Haupfleisch/Hirtler, Die 5. Kraftfahrzeug-Haftpflicht-versicherungs‑Richtlinie [KH‑RL], ZVR 2005/115, 388; Pronebner, Die europaweite Umsetzung der 5. Kraft-fahrzeug‑Haftpflichtversicherungs‑Richtlinie, ZVR 2010/132, 293 [294]).

I.2. In Österreich geschah die notwendige Umsetzung dadurch, dass Fahrzeuge, die gemäß § 1 Abs 2 lit a, b und d sowie Abs 2a KFG von der Anwendbarkeit dieses Bundesgesetzes ausgenommen waren, in § 6 des neuen Verkehrsopfer‑Entschädigungsgesetzes (VOEG) dem Regime des Garantiefonds unterstellt wurden (2 Ob 89/12w; Baran, Umsetzung der 5. Kfz‑Haftpflichtversicherungs‑RL im Versicherungs‑ und Kraftfahrrecht, ZVR 2007/145, 250 [254]; Grubmann, KHVG4 § 6 VOEG Anm 1).

Das neu kodifizierte VOEG trat am 1. 7. 2007 in Kraft. Nach § 6 Abs 1 Z 1 VOEG hat der Fachverband Entschädigung für Personen‑ und Sachschäden zu leisten, die im Inland durch ein Fahrzeug im Sinn des § 1 Abs 2 lit a, b und d sowie Abs 2a KFG 1967 verursacht wurden. Zu den Fahrzeugen nach § 1 Abs 2 lit b KFG gehören auch Transportkarren, als welche auch Elektrohubstapler qualifiziert wurden (7 Ob 199/10f; 2 Ob 89/12w; RIS‑Justiz RS0126375). Eine in den Materialien des Ministerialentwurfs bei § 6 VOEG noch enthaltene „Beschränkung der Leistungspflicht auf Schäden, die auf Straßen mit öffentlichem Verkehr eintreten“ schien in den Materialien zur Regierungsvorlage nicht mehr auf. Grund dafür dürfte eine auf die Richtlinienwidrigkeit dieser Einschränkung hinweisende Stellungnahme des ÖAMTC gewesen sein (Kathrein, ZVR 2007, 248). In diesem Sinne sprach der erkennende Senat in 2 Ob 89/12w (ZVR 2014/7 [Kathrein]) aus, dass die Entschädigungspflicht des Fachverbands für nicht versicherungspflichtige Fahrzeuge gemäß § 6 VOEG nicht an deren Verwendung auf öffentlichen Straßen gebunden ist.

I.3. Mit BGBl I 2013/12 (VersRÄG 2013) wurde die in § 6 Abs 3 VOEG geregelte Ausnahme von der Entschädigungspflicht nach Abs 1 leg cit dahin erweitert, dass nunmehr auch Schäden durch einen Unfall mit in § 1 Abs 2 lit a und b KFG 1967 abgeführten Fahrzeugen im geschlossenen Bereich zwischen in den Arbeitsbetrieb eingebundenen Personen von der Haftung des beklagten Verbands ausgenommen sind.

In der Regierungsvorlage zu dieser Gesetzesänderung (2005 BlgNr 24. GP , 1, 4 und 9) heißt es, dass Entschädigungsansprüche aus Arbeitsunfällen vermehrt auf das VOEG gestützt würden, welches für deren Geltendmachung aber nicht die geeignete Anspruchsgrundlage sei. Unter „Ziele der Gesetzesnovelle“ wird daher angeführt, dass Arbeitsunfälle von den Entschädigungsfällen des VOEG ausgenommen werden sollten. Der Arbeitsbetrieb und seine haftpflichtversicherungsrechtlichen Besonderheiten machten eine Regelung erforderlich, die sicherstelle, dass Unfälle mit Arbeitsmaschinen in abgesperrtem Fabriksgelände zwischen in den Arbeitsbetrieb des Arbeitgebers eingebundenen Personen nicht eine Ersatzpflicht des Fachverbands, die letztlich auf eine Schadensteilung unter und nach dem Verschulden der beteiligten Arbeitnehmer/innen hinauslaufe, begründeten. Zu § 6 Abs 3 Z 2 VOEG merken die Materialien erneut an, dass vor dem Hintergrund, dass das VOEG für die Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen aus Arbeitsunfällen nicht die geeignete Anspruchsgrundlage darstelle, die vorgeschlagene Regelung sicherstellen solle, dass durch Unfälle mit Arbeitsmaschinen in abgesperrtem Fabriksgelände (zB in einer Fabriks‑ oder Lagerhalle) zwischen in den Arbeitsbetrieb des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin eingebundenen Personen (Arbeitnehmer/innen, Leiharbeitskräften sowie Personen in ähnlichen Rechtsverhältnissen) nicht eine Ersatzpflicht des Fachverbands, gefolgt von einer Regresspflicht der Schuld tragenden Person, begründet werde; in diesen Fällen wäre wohl primär die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin, allenfalls gekoppelt mit Leistungen aus einer Betriebshaftpflichtversicherung sowie der allgemeinen Unfallversicherung, angesprochen, und nicht ein Ausgleich über das VOEG, das letztlich auf eine Schadensteilung unter und nach dem Verschulden der beteiligten Arbeitnehmer/innen hinauslaufe (RV aaO 9).

Diese Bestimmung trat am 1. 1. 2013 in Kraft (§ 19 Abs 4 VOEG idF BGBl I 2013/12). Der hierzu beurteilende Unfall ereignete sich am 10. 1. 2013.

I.4.  Nach Erwägungsgrund 8 der 5. Kraft-fahrzeug‑Haftpflichtversicherungs‑Richtlinie, 2005/14/EG , vom 11. 5. 2005 sollte dafür gesorgt werden, dass nicht nur Opfer von Unfällen, die durch ein Fahrzeug im Ausland verursacht werden, sondern auch Opfer von Unfällen, die in dem Mitgliedstaat verursacht werden, in dem das Fahrzeug seinen gewöhnlichen Standort hat, angemessenen Schadenersatz erhalten. Zu diesem Zweck sollten die Mitgliedstaaten die Opfer von durch diese Fahrzeuge verursachten Unfällen ebenso behandeln wie Opfer von durch nicht versicherte Fahrzeuge verursachten Unfällen.

Gleiche Überlegungen finden sich in den Erwägungsgründen 10 und 11 der 6. Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungs‑Richtlinie, 2009/103/EG vom 16. 9. 2009, mit der „aus Gründen der Klarheit und der Übersichtlichkeit“ alle früheren Richtlinien über die Kfz-Haftpflichtversicherung kodifiziert und zusammengefasst werden sollten (vgl ErwGr 1; 2 Ob 40/15v; W. Reisinger in Fucik/Hartl/Schlosser, Verkehrsunfall² III Rz 94b; Haag in Geigel, Der Haftpflichtprozess27 Kap 43 Rn 75). Nach Art 5 Abs 2 dieser Richtlinie kann jeder Mitgliedstaat bei gewissen Arten von Fahrzeugen oder Fahrzeugen mit besonderem Kennzeichen, die dieser Staat bestimmt und deren Kennzeichnung er den anderen Mitgliedstaaten sowie der Kommission meldet, von Art 3 (das ist die Kfz‑Haftpflichtversicherungspflicht) abweichen. In diesem Fall haben die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass die in Unterabs 1 genannten Fahrzeuge ebenso behandelt werden wie Fahrzeuge, bei denen der Versicherungspflicht nach Art 3 nicht entsprochen worden ist.

Weder die 5. noch die 6. Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungs‑Richtlinie gehen auf die Frage der Entschädigungspflicht für nicht versicherungspflichtige Fahrzeuge bei Verwendung in geschlossenen Betriebsarealen zwischen in den Arbeitsbetrieb eingebundenen Personen ausdrücklich ein, sondern sprechen vielmehr ganz allgemein von nicht versicherten bzw nicht versicherungspflichtigen Fahrzeugen.

I.5. Es stellt sich daher die Frage, ob der im österreichischen VOEG mit der Novelle des § 6 Abs 3 per 1. 1. 2013 eingefügte Ausnahmefall von der Entschädigungspflicht den Richtlinien entspricht oder nicht:

I.5.1. In der österreichischen Literatur wurde dies mehrfach in Zweifel gezogen (vgl Kathrein, Anmerkung zu 2 Ob 89/12w in ZVR 2014/7, 24 sowie Haupfleisch, Lücken im europäischen Verkehrsopferschutz, ZVR 2015/18, 45 [50], der ausführt, dass die Ausnahme in der Kraftfahrzeughaftpflicht‑Richtlinie mangels ausdrücklicher Erwähnung keine Deckung finde und dem Schutzzweck der Richtlinie widerspreche).

I.5.2. Ein Vorabentscheidungsersuchen zu dieser Frage erübrigt sich aber, weil der Europäische Gerichtshof die hier relevante Rechtsfrage implizit bereits in seiner Entscheidung vom 4. 9. 2014, C‑162/13 Vnuk beantwortet hat. Dort wollte das anfragende Gericht wissen, ob sich der Begriff der „Benutzung eines Fahrzeuges“ im Sinne Art 3 Abs 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. 4. 1972 (vgl oben Pkt I.1. und I.4.) ‑ auf einen Fall erstreckt, in dem sich der Unfall mit einem Traktor samt Anhänger im Hof eines Bauernhofs während des Einbringens von Heuballen auf den Dachboden einer Scheune ereignete, als Traktor und Anhänger rückwärts in die Scheune gelenkt wurden, und dabei gegen eine Leiter stießen und die darauf stehende Person verletzten. Der Gerichtshof legte dar, dass der Begriff des Benutzens eines Fahrzeugs nach der Richtlinie auch ein Manöver, wie das im Ausgangsfall beschriebene, umfassen kann, da der Begriff „jede Benützung eines Fahrzeugs umfasst, die dessen gewöhnlicher Funktion entspricht“.

Ist aber das beschriebene Manöver im Hof eines Bauernhofs beim Heueinbringen nicht von den genannten Richtlinien ausgeschlossen, muss dies auch für Unfälle ‑ wie § 6 Abs 3 Z 2 VOEG formuliert ‑ „im geschlossenen Bereich zwischen in den Arbeitsbetrieb eingebundenen Personen“ ‑ gelten.

I.6.  Die vom österreichischen Gesetzgeber vorgenommene Einschränkung ist daher im Hinblick auf die umfassende Formulierung der Richtlinie 72/166/EWG , die nunmehr in der 6. Kraftfahrzeug-Haftpflicht-versicherungs‑Richtlinie konsolidiert ist, nicht als ordnungsgemäße Umsetzung bzw als nachträgliche Änderung der ursprünglich richtlinienkonformen Umsetzung trotz Sperrwirkung anzusehen (vgl Vcelouch in Mayer , Kommentar zu EUV und AEUV, Art 288 AEUV Rz 48 mwN; Nettesheim in Grabitz/Hilf/Nettesheim , Das Recht der Europäischen Union, III, Art 288 AEUV, Rn 130 und 134; Biervert in Schwarze , EU‑Kommentar 3 , Art 288 AEUV Rn 27).

I.7.  Da im vorliegenden Fall die Bestimmungen der Richtlinien grundsätzlich ausreichend bestimmt für eine unmittelbare Anwendung sind, stellt sich weiters die Frage:

II. Ist die Richtlinie im vorliegenden Fall unmittelbar anwendbar?

II.1.  Eine Richtlinie kann nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH nicht gegenüber Einzelpersonen, wohl aber gegenüber einem Staat geltend gemacht werden (EuGH 19. 4. 2007, C‑356/05 Farrell ; 2 Ob 40/15v; Vcelouch in Mayer , Kommentar zum EUV und AEUV, Art 288 AEUV Rz 71 ff, Nettesheim in Grabitz/Hilf/Nettesheim , Das Recht der Europäischen Union, III, Art 288 AEUV, Rn 149 ff, 157 ff; Perner , EU‑Richtlinien und Privatrecht, 31 und 34).

Die unmittelbar anwendbare Bestimmung einer Richtlinie kann darüber hinaus auch einer Einrichtung entgegengehalten werden, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hiezu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über die für die Beziehung zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften hinausgehen (EuGH 12. 7. 1990, C‑188/89 Foster ; 24. 1. 2012, C‑282/10 Maribel Dominguez sowie 19. 4. 2007, C‑356/05 Farrell ; Ruffert in Calliess/Ruffert , EUV/AEUV Art 288 Rn 59).

II.2.  Ob eine solche Einrichtung vorliegt, hat der EuGH in der bereits genannten Entscheidung vom 19. 4. 2007 C‑356/05 Farrell , die offenbar das irische Pendant zur hier Beklagten, das Motor Insurers Bureau of Ireland (MIBI) betraf, mangels näherer Angaben zu dessen Befugnissen offen gelassen. Auch C‑282/10 Maribel Dominguez enthält zur dortigen Arbeitgeberin der Klägerin, einer Einrichtung auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, keine eindeutige Aussage. In C‑425/12 Portgás wurde ausgesprochen, dass Konzessionen über besondere und ausschließliche Rechte nicht notwendigerweise bedeuten, dass eine „Einrichtung“ im obigen Sinne vorliegt (Rn 25). Alleine die Möglichkeit, für das Betreiben und die Errichtung der Infrastruktur notwendige Enteignungen zu beantragen, ohne diese aber selbst durchführen zu können, reiche für sich nicht aus (Rn 30).

Dagegen hat der Gerichtshof aber auch entschieden, dass die Bestimmungen einer Richtlinie Finanzbehörden, Gebietskörperschaften sowie einem staatlich intensiv dominierten Gasversorgungssystem, das die Befugnis hatte, Gesetzesvorschläge im Parlament einzubringen (vgl C‑188/89 A. Foster ) und mit der Verwaltung des öffentlichen Gesundheitsdienstes beauftragten Behörden (C‑152/84 Marshall ) entgegengehalten werden können. Auch Wasserversorgungsgesellschaften mit dem Recht, Enteignungen durchzuführen und Verwaltungsvorschriften (zB Gießverbote) zu erlassen, wurden tendenziell als solche Einrichtungen eingeordnet (C‑279/12 Fish Legal ), und dies ausdrücklich in C‑157/02 Rieser für die österreichische Asfinag bejaht, die ua samt allen Tochtergesellschaften der jederzeitigen Überprüfung durch den Staat unterlag und auch ihre Mautentgelte nicht selbst festsetzen durfte, sondern per Gesetz vorgeschrieben erhielt.

II.3.  Der hier zu beurteilende Fachverband der Versicherungsunternehmungen wurde mit Bundesgesetz vom 2. 6. 1977, BGBl 1977/322, über den erweiterten Schutz der Verkehrsopfer zur Erbringung von Leistungen nach diesem Bundesgesetz verpflichtet (§ 1 Abs 1).

Die Gesetzesmaterialien dazu (506 BlgNR 14. GP  3) führen aus, dass seit 1958 eine Auslobung der in Österreich zugelassenen Versicherungsunternehmungen für den erweiterten Schutz der Verkehrsopfer bestehe. Diese von den Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungen geschaffene Einrichtung bestehe aber auf rein freiwilliger Basis. Die vorgesehene bundesgesetzliche Regelung stelle die zweckmäßigste Grundlage für die dauernde innerstaatliche Erfüllung der staatsvertraglichen Verpflichtungen Österreichs aus dem Europäischen Übereinkommen über die obligatorische Haftpflichtversicherung für Kraftfahrzeuge dar.

Auch nach der Neukodifizierung des Verkehrsopferschutzes durch das mit 1. 1. 2007 in Kraft getretene Bundesgesetz über die Entschädigung von Verkehrsopfern (VOEG), BGBl I 2007/37, wurde in § 2 der Fachverband als zuständige Entschädigungsstelle beibehalten. Er ist eine Körperschaft öffentlichen Rechts am Sitz des vereinsrechtlich konstituierten Verbands der Versicherungsunternehmen Österreichs (VVU), der den Fachverband ständig gerichtlich und außergerichtlich vertritt (2 Ob 40/15v; Fucik , Verkehrsopferentschädigung, ZVR 2015/239, 463 [464]; Fucik/Hartl/Schlosser , Handbuch des Verkehrsunfalls VI 2 Rz 978).

II.4.  Zu seinen Aufgaben gehört die Herausgabe von Musterversicherungsbedingungen im Sinne von § 18 KHVG; die Zuweisung von Fahrzeugbesitzern, die bereits von drei Kraftfahrzeughaftpflichtversicherern abgewiesen wurden, zu einem Versicherungsunternehmen (§ 25 KHVG), sowie die Führung eines Registers über die Haftpflichtversicherung für im Inland zugelassene Fahrzeuge und Auskunftserteilung hieraus, wofür die Zulassungsbehörde und Zulassungsstellen sowie die Haftpflichtversicherungsunternehmen dem Fachverband einschlägige Mitteilungen zu erstatten haben (§ 31a und b KHVG). Darüber hinaus hat die österreichische Finanzmarktaufsicht (FMA) nach § 118h VAG 1978, BGBl 1978/569, bzw § 259 VAG 2016, BGBl I 2015/34, von Behörden anderer Vertragsstaaten übermittelte Angaben über den Betrieb von Zweigniederlassungen oder den Dienstleistungsverkehr inländischer Versicherungs-unternehmen mitzuteilen, soweit dies zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben des Fachverbands erforderlich ist. Letztlich steht ihm noch ein Entsendungsrecht eines Vertreters in einen beratenden Ausschuss nach § 32 KHVG zu.

II.5.  Es stellt sich daher die Frage, ob eine derartige, ursprünglich freiwillige Einrichtung, die der Gesetzgeber aufgrund staatsvertraglicher und später unionsrechtlicher Verpflichtungen per Gesetz als innerstaatliche Entschädigungsstelle installierte und der er die oben dargestellten Aufgaben und Befugnisse auferlegte, als Einrichtung im Sinne der Ausführungen zu Pkt II.1. und II.2. anzusehen ist, was der Senat in 2 Ob 40/15v andeutete, aber offen lassen konnte.

Angesichts der Tatsache, dass die Beklagte damit per Gesetz, also kraft staatlichen Rechtsakts, Aufgaben im öffentlichen Interesse übernimmt, zu deren Erfüllung europarechtlich der Staat verpflichtet ist, und sie hiezu mit besonderen Rechten, insbesondere Informationsrechten, aber auch dem Recht der Zwangszuteilung zur Haftpflichtversicherung ausgestattet ist, die über die für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften hinausgehen, ist diese Frage nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs nunmehr letztlich zu bejahen und davon auszugehen, dass die Richtlinie im vorliegenden Fall unmittelbar anwendbar ist.

III. Schlussfolgerungen:

III.1. Rechtsfolge der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie ist, dass sich der Einzelne unmittelbar zu seinen Gunsten auf die Richtlinienbestimmung berufen und die darin gewährten Rechte einfordern kann (Geismann in von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht7 Art 288 AEUV Rn 49). Die unmittelbar wirksame Richtlinienbestimmung ist für ihren Adressaten rechtsverbindlich (Nettesheim in Grabitz/Hilf/Nettesheim , Das Recht der Europäischen Union, III, Art 288 AEUV Rn 165). Zur Beachtung der unmittelbaren Wirksamkeit von Richtlinienbestimmungen sind mitgliedstaatliche Organe, darunter auch die Judikative, verpflichtet; entgegenstehendes nationales Recht haben diese Organe außer Acht zu lassen (Nettesheim in Grabitz/Hilf/Nettesheim , aaO Rn 166; vgl auch Vcelouch in Mayer , Kommentar zum EUV und AEUV, Art 288 AEUV Rz 75).

III.2.  Im konkreten Fall ist daher Art 5 Abs 2 RL 2009/103/EG unmittelbar anwendbar. Danach sind Fahrzeuge, die von der Versicherungspflicht nach Art 3 dieser Richtlinie ausgenommen sind, ebenso zu behandeln wie Fahrzeuge, bei denen der Versicherungspflicht nicht entsprochen wurde. Dies führt zur Verpflichtung des beklagten Fachverbands, der Klägerin Ersatz nach den Art 10 RL 2009/103/EG umsetzenden Bestimmungen des VOEG zu leisten. Die dieser Rechtsfolge entgegenstehende und daher richtlinienwidrige Ausnahmebestimmung des § 6 Abs 3 Z 2 VOEG ist aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts nicht anzuwenden.

III.3. Für das VOEG in dieser Fassung gilt aber die ständige Rechtsprechung zur Vorläuferregelung im VerkOG, wonach ein auf dieses Gesetz gegründeter Anspruch grundsätzlich inhaltlich jenem gleicht, der gegen einen versicherungspflichtigen bzw haftpflichtversicherten Schädiger bestehen würde (2 Ob 216/13y = ZVR 2014/135; 2 Ob 89/12w = ZVR 2014/7 [Kathrein] unter Verweis auf 2 Ob 283/06s = ZVR 2008/7 [Danzl]; RIS‑Justiz RS0029484; 7 Ob 48/11a = ZVR 2012/105 [W. Reisinger] sowie Kathrein ZVR 2007, 246). Es ist daher weiterhin zu fingieren, dass der schadenersatzrechtliche Leistungsanspruch des Opfers durch eine Kfz‑Haftpflichtversicherung (im Rahmen der gesetzlichen Versicherungspflicht) gedeckt ist (2 Ob 185/12p = ZVR 2014/6; Grubmann , KHVG 4 § 4 VOEG Anm 1).

Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren die Ansprüche der Klägerin so zu prüfen haben, als bestünde eine Haftpflichtversicherung für den den Unfall verursachenden Gabelstapler.

IV.  Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Stichworte