OGH 2Ob185/12p

OGH2Ob185/12p21.2.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M***** W*****, vertreten durch Dr. Manfred Nessmann, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagten Parteien 1. D***** E*****, vertreten durch Dr. Johann Essl, Rechtsanwalt in Werfenweng, und 2. Fachverband der Versicherungsunternehmungen, Schwarzenbergplatz 7, 1030 Wien, vertreten durch Dr. Ivo Burianek, Rechtsanwalt in Mödling, wegen 16.573,72 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die Revision und den Rekurs der zweitbeklagten Partei gegen das Zwischenurteil und den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 23. Juli 2012, GZ 6 R 108/12p‑31, womit das Zwischen- und Teilurteil des Landesgerichts Salzburg vom 25. April 2012, GZ 10 Cg 62/11t-27, teils abgeändert, teils aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt und beschlossen:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0020OB00185.12P.0221.000

 

Spruch:

Der Revision und dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Endentscheidung vorbehalten; die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 11. 9. 2010 ereignete sich in Mattsee auf einem Parkplatz ein Unfall, an dem der Kläger als Fußgänger und der Erstbeklagte als Lenker eines Pkw beteiligt waren. Der Erstbeklagte wollte mit drei weiteren Jugendlichen von einer Discothek nach Hause fahren. Bereits im Lokal und auch auf dem Parkplatz wurden sie von einem anderen Jugendlichen, der sich in Begleitung von zwei Burschen, darunter der Kläger, befand, angestänkert. Beim Losfahren fuhr der Erstbeklagte den Kläger an und verletzte ihn dadurch schwer. Der Pkw war vom Vater des Erstbeklagten behördlich angemeldet worden und dieser hatte auch die Haftpflichtversicherung abgeschlossen. Der zum Unfallszeitpunkt siebzehnjährige Erstbeklagte, der noch keinen Führerschein besaß, war als weiterer Zulassungsbesitzer eingetragen. Es war nämlich daran gedacht, dass ihm das Fahrzeug nach dem Erwerb der Lenkerberechtigung gehören solle. Die Haftpflichtversicherung des Pkw lehnte gegenüber dem Kläger eine Haftung für den Unfall mit der Begründung ab, dass der Vorfall vorsätzlich herbeigeführt worden sei.

Der Kläger begehrt vom Erstbeklagten und vom zweitbeklagten Fachverband die Zahlung von Schadenersatz in Höhe von 16.573,72 EUR sA sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für sämtliche zukünftige Folgen und Nachteile aus dem Verkehrsunfall, in Ansehung des Zweitbeklagten begrenzt mit der Haftpflichtversicherungssumme. Der Erstbeklagte habe sich beim Losfahren damit abgefunden, dass es zur Kollision mit dem Kläger kommen und er diesen verletzen könne. Wegen dieses Vorsatzes habe der Haftpflichtversicherer des Pkw die Leistungspflicht abgelehnt. Die Passivlegitimation des zweitbeklagten Fachverbands ergebe sich daher aus § 4 Abs 1 Z 4 Verkehrsopfer-Entschädigungsgesetz (VOEG).

Der Erstbeklagte wendete sein mangelndes Verschulden ein. Der Kläger habe ohne Notwendigkeit und unerwartet seine Fahrlinie gekreuzt, obwohl er das ordnungsgemäß beleuchtete und in Schrittgeschwindigkeit fahrende Fahrzeug hätte wahrnehmen können.

Der Zweitbeklagte wendete ein, er sei dann nicht leistungspflichtig, wenn die Deckungsverpflichtung des Haftpflichtversicherers ‑ wie hier ‑ gegeben sei. Versicherungsnehmer sei nicht der Erstbeklagte, sondern dessen Vater gewesen. Das Verhalten des Fahrzeuglenkers befreie den Versicherer nicht von der Deckungspflicht gegenüber seinem Versicherungsnehmer. Selbst wenn daher der Erstbeklagte den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt haben sollte, wäre der Haftpflichtversicherer nicht berechtigt, die Deckung abzulehnen. Die bloße Ablehnung der Deckung reiche nicht aus, um den zweitbeklagten Fachverband zur Leistung nach dem VOEG zu verpflichten. Die Leistungspflicht des Zweitbeklagten hänge aber davon ab, ob der Haftpflichtversicherer leistungspflichtig sei. Im Übrigen habe der Erstbeklagte weder beabsichtigt, mit dem Kläger zu kollidieren noch diesen zu verletzen.

Das Erstgericht erkannte mit Zwischenurteil und Teilurteil das gegen den Erstbeklagten erhobene Zahlungsbegehren als dem Grunde nach zur Gänze zu Recht bestehend und wies das gegen den Zweitbeklagten erhobene Zahlungs- und Feststellungsbegehren ab. Dem Erstbeklagten sei ein Verstoß gegen die §§ 17, 20 StVO anzulasten. Es wäre ihm oblegen, in einem größeren Abstand am Kläger vorbeizufahren oder rechtzeitig zu bremsen. Der Erstbeklagte habe sich zumindest fahrlässig verhalten. Ein Mitverschulden des Klägers sei nicht anzunehmen, da dieser an seiner Position stehen geblieben sei und darauf habe vertrauen können, dass der Erstbeklagte in der Lage sei, eine stehende Person unverletzt zu umfahren. In Ansehung des Feststellungsbegehrens sei die Fällung eines Zwischenurteils über den Anspruchsgrund jedoch unzulässig. Der Zweitbeklagte sei zwar im Hinblick auf § 4 Abs 1 Z 4 VOEG passiv legitimiert. Der subjektive Risikoausschluss einer vorsätzlichen Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den mitversicherten Lenker erstrecke sich aber nicht auch auf den Versicherungsnehmer (Halter). Bei Inanspruchnahme des Halters habe der Haftpflichtversicherer im Fall der vorsätzlichen Schadenszufügung durch den mitversicherten Lenker dem geschädigten Dritten zu haften. Der Vater des Erstbeklagten sei Fahrzeughalter gewesen, er habe das Fahrzeug gekauft, den Haftpflichtversicherungsvertrag abgeschlossen, die Prämien bezahlt und sämtliche Kosten getragen. Dem Vater des Erstbeklagten sei auch die Verfügungsgewalt über das Fahrzeug zuzusprechen, da der Erstbeklagte im Unfallszeitpunkt über keine Lenkerberechtigung verfügt habe. Der Erstbeklagte sei daher nicht Halter, sondern mitversicherter Lenker iSd § 2 Abs 2 KHVG. Da somit der Haftpflichtversicherer für den vom Erstbeklagten als mitversicherter Lenker verursachten Schaden einzustehen habe, möge die Schadensherbeiführung auch vorsätzlich erfolgt sein, lägen die Voraussetzungen des § 4 Abs 1 Z 4 VOEG nicht vor. Die Klage gegen den Fachverband sei daher abzuweisen.

Das erstinstanzliche Zwischen- und Teilurteil erwuchs hinsichtlich des Erstbeklagten in Rechtskraft.

Das Berufungsgericht fällte über Berufung des Klägers ein stattgebendes Zwischenurteil auch gegen den zweitbeklagten Fachverband und verwies die Rechtssache hinsichtlich des Feststellungsbegehrens gegen den Zweitbeklagten an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurück. Der Wert des Entscheidungsgegenstands übersteige insgesamt 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR. Die Revision und der Rekurs seien zulässig.

§ 4 VOEG fasse die bislang in § 1 Abs 2 und § 2 VerkehrsopferschutzG geregelten Tatbestände zusammen. In Anlehnung an die zu diesem ergangene höchstgerichtliche Rechtsprechung vertrat das Berufungsgericht die Auffassung, dass auch das VOEG die vom Erstgericht vorgenommene Prüfung, ob der Haftpflichtversicherer seine Deckungspflicht allenfalls zu Unrecht abgelehnt und für den Schaden einzustehen habe, nicht zulasse. Dies widerspreche dem auch mit dem VOEG primär verfolgten Ziel, Verkehrsopfern in besonderen Härtefällen einen angemessenen Entschädigungsanspruch zu verschaffen. § 4 Abs 2 Satz 2 VOEG schließe es aus, dass der Fachverband gegen einen Entschädigungsanspruch einwende, ein Haftpflichtversicherer habe einzutreten. Im Prozess gegen den Fachverband könne somit nicht geprüft werden, ob ein Haftpflichtversicherer einzutreten habe. Die Befriedigung des Geschädigten solle durch den Streit über die Deckungspflicht eines Haftpflichtversicherers nicht verzögert werden. Es müsse daher für die Passivlegitimation des Zweitbeklagten nach wie vor ausreichen, dass der Haftpflichtversicherer mit der Behauptung vorsätzlicher Schadenszufügung die Versicherungsdeckung abgelehnt habe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision und der Rekurs des Zweitbeklagten mit dem Antrag, in Wiederherstellung des Ersturteils die Klage abzuweisen; in eventu wurde ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Zweitbeklagte macht geltend, auf Grundlage der verba legalia des § 4 Abs 1 Z 4 VOEG bestehe die Passivlegitimation und Haftung des Fachverbands dann, wenn der Haftpflichtversicherer nicht zur Deckung verpflichtet sei. Dementsprechend sei die Frage der Deckungspflicht des Haftpflichtversicherers sehr wohl im Verfahren zu prüfen, weil die fehlende Deckung Tatbestandsmerkmal für den Haftungstatbestand (sui generis) des Fachverbands gemäß § 4 Abs 1 Z 4 VOEG sei. Das Einwendungsverbot gemäß § 4 Abs 2 letzter Satz VOEG könne keinesfalls dazu führen, dass bei klar vorliegender Deckungspflicht des Haftpflichtversicherers eine Haftung des Fachverbands gemäß § 4 Abs 1 Z 4 VOEG angenommen werde. Dieses Einwendungsverbot sei jedenfalls dann (wegen der Entziehung des rechtlichen Gehörs) verfassungswidrig, wenn es zur Passivlegitimation bzw Haftung des Fachverbands selbst dann führen solle, wenn ein Haftpflichtversicherer zur Deckung feststellungsgemäß verpflichtet sei.

Der Kläger beantragt, den Rechtsmitteln der Zweitbeklagten nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision und der Rekurs sind mangels einschlägiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung zum VOEG zulässig, aber nicht berechtigt.

1. Das VOEG löste mit 1. 7. 2007 das BG über den erweiterten Schutz der Verkehrsopfer (VerkOG) ab. Dieser Rechtsbereich wurde mit dem VOEG neu kodifiziert. Das sollte seinem besseren Verständnis und der Erweiterung des Schutzes der Verkehrsopfer dienen. Inhaltlich sollte sich an den Entschädigungsvoraussetzungen nicht all zu viel ändern (ErläutRV 80 BlgNR 23. GP 3). Insoweit ist das neue Gesetz vom Grundsatz der Rechtskontinuität geprägt, sodass die Rechtsprechung zum VerkOG weitgehend übernommen werden kann. In Teilbereichen bringt das VOEG aber in Fortführung der schon durch zahlreiche Novellen des VerkOG bewirkten Stärkung der Rechtsstellung der Betroffenen einmal mehr Verbesserungen für die Opfer von Verkehrsunfällen (Kathrein, Verkehrsopferschutz neu ‑ Das Verkehrsopfer-Entschädigungsgesetz, ZVR 2007/144).

2. Gemäß § 4 Abs 1 Z 4 VOEG hat der Fachverband Entschädigung für Personen- und Sachschäden zu leisten, die im Inland durch ein nach den kraftfahrrechtlichen Bestimmungen versicherungspflichtiges Fahrzeug verursacht wurden, wenn der Haftpflichtversicherer nicht zur Deckung verpflichtet ist, weil der Schädiger den Eintritt der Tatsache, für die er schadenersatzpflichtig ist, vorsätzlich und rechtswidrig herbeiführte.

Gemäß § 4 Abs 2 letzter Satz VOEG kann der Fachverband gegen einen Entschädigungsanspruch nicht einwenden, dass ein Haftpflichtiger Ersatz zu leisten habe, oder dass ein Haftpflichtversicherer einzutreten habe, wenn dieser seine Deckungspflicht bestreitet.

Die §§ 4 und 5 VOEG umschreiben die bisher in § 2 VerkOG enthaltenen Entschädigungstatbestände. Der Fachverband hat nach Verkehrsunfällen im Inland das Opfer in den aufgezählten Fällen (darunter vorsätzliche Schädigung) für Personen- und Sachschäden zu entschädigen. Dabei wird weiterhin fingiert, dass der schadenersatzrechtliche Leistungsanspruch des Opfers durch eine Kfz‑Haftpflichtversicherung (im Rahmen der gesetzlichen Versicherungspflicht) gedeckt ist (Grubmann, KHVG3 § 4 VOEG § 4 Anm 1).

3. Der subjektive Risikoausschluss der vorsätzlichen Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den mitversicherten Lenker nach §§ 78, 152 VersVG erstreckt sich nicht auch auf den Halter (VN), sodass der Haftpflichtversicherer (auch) im Fall der vorsätzlichen Schadenszufügung durch den mitversicherten Lenker dem geschädigten Dritten zu haften hat. Diese Haftung des Kfz‑Haftpflichtversicherers wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Fachverband für einen vorsätzlich herbeigeführten Schaden entschädigungspflichtig ist (7 Ob 211/08t).

Nach der zitierten Entscheidung sowie jener zu 2 Ob 283/06s, die noch zum VerkOG ergangen sind, reicht es für die Passivlegitimation des Fachverbands hin, wenn der Haftpflichtversicherer mit der Begründung, dass ein Unfall vorsätzlich herbeigeführt worden ist, die Versicherungsdeckung abgelehnt hat. Die Befriedigung des Geschädigten dürfe nicht dadurch verzögert werden, dass strittig sei, ob ein Haftpflichtversicherer für den Schaden einzutreten habe (etwa bei Unklarheit über die Versicherungsdeckung zum Unfallszeitpunkt). Habe im Unfallszeitpunkt doch Versicherungsdeckung bestanden, könne sich der Fachverband infolge der in § 7 VerkOG normierten Legalzession beim Haftpflichtversicherer regressieren.

4. Der Senat sieht keine Veranlassung, nach der Ablösung des Verkehrsopferschutzes durch das VOEG von dieser Rechtsprechung abzugehen. Wie schon ausgeführt, wurde dieses Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung der Verkehrsopfer erlassen und brachte nur punktuelle Änderung zur alten Rechtslage nach dem VerkOG. Insbesondere wurde auch die Bestimmung des § 2 Abs 3 VerkOG - wonach der Fachverband einen Anspruch ua nicht mit der Behauptung ablehnen konnte, ein Haftpflichtversicherer habe einzutreten, wenn dieser seine Deckungspflicht bestreitet ‑ im Gewand des § 4 Abs 2 letzter Satz VOEG (in bloß sprachlicher Umgestaltung) aufrechterhalten. Das Argument der oben dargestellten Rechtsprechung zum VerkOG, die Befriedigung des Geschädigten dürfe nicht dadurch verzögert werden, dass strittig sei, ob ein Haftpflichtversicherer für den Schaden einzutreten habe, ist daher auch unter der Geltung des VOEG zutreffend.

Der Umstand, dass in § 4 Abs 1 Z 4 VOEG ‑ als Voraussetzung für die Entschädigungspflicht des Fachverbands ‑ davon die Rede ist, dass der Haftpflichtversicherer nicht zur Deckung verpflichtet ist, ändert nichts am Einwendungsausschluss des § 4 Abs 2 letzter Satz VOEG. Die vom Zweitbeklagten gewünschte Auslegung stellte eine massive Verschlechterung der Rechtsposition des Geschädigten dar, die vom VOEG gerade nicht intendiert ist.

5. Der vom Rechtsmittelwerber durch den genannten Einwendungsausschluss konstatierte Entzug seines rechtlichen Gehörs ist nicht erfolgt, liegt ein solcher doch nur vor, wenn überhaupt keine Möglichkeit zur Äußerung besteht oder wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (8 Ob 400/97z mwN), wovon hier keine Rede sein kann. Auch kann im Einwendungsausschluss des VOEG keine unsachliche Benachteiligung des Fachverbands erblickt werden, steht ihm doch nach der Legalzession des § 13 VOEG ein Rückgriffsrecht ua gegen den Haftpflichtversicherer zu. Die vom Rechtsmittelwerber angeregte Prüfung der Verfassungskonformität des § 4 Abs 2 letzter Satz VOEG durch den Verfassungsgerichtshof ist daher entbehrlich.

Den Rechtsmitteln des Zweitbeklagten ‑ Revision und Rekurs ‑ ist somit nicht Folge zu geben.

Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 Abs 1 und 4 ZPO iVm § 393 Abs 4 ZPO.

Stichworte