OGH 10Ob109/15z

OGH10Ob109/15z22.2.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Fellinger als Vorsitzenden, die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm, die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer als weitere Richter in der außerstreitigen Rechtssache der Antragsteller 1. S*****, 2. Dr. H*****, 3. W*****, alle vertreten durch Mag. Dr. Hans Spohn, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Antragsgegnerin Republik Österreich, vertreten durch die Autobahn- und Schnellstraßen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft, 1010 Wien, Rotenturmstraße 5‑9, diese vertreten durch die Finanzprokuratur, 1011 Wien, Singerstraße 17‑19, wegen Enteignungsentschädigung, über den Revisionsrekurs der Antragsteller gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 7. Oktober 2015, GZ 14 R 76/15x‑59, mit dem der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 25. März 2015, GZ 61 Nc 23/07b‑53, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Begründung

Die Zurückweisung eines zugelassenen Revisionsrekurses wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage (§ 62 Abs 1 AußStrG) kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 71 Abs 3 AußStrG).

Mit dem in Rechtskraft erwachsenen Bescheid des Landeshauptmanns von Wien vom 18. 6. 2007 wurde zum Zweck der Errichtung der S2-Wiener Nordrand Schnellstraße-Umfahrung ***** zu Gunsten der Antragsgegnerin die Enteignung der im Eigentum des DDr. F*****, dessen eingeantwortete Erben die Antragsteller sind, stehenden Teilstücke von 673 m² des Grundstücks Nr 300 und von 944 m² des Grundstücks Nr 268 (EZ ***** und EZ ***** KG *****) nach Maßgabe des Grundeinlöseplans verfügt. Die Entschädigungssumme wurde in diesem Bescheid mit 32.856 EUR festgesetzt. Die Enteignung wurde am 20. 8. 2007 vollzogen, die Entschädigungssumme am 27. 8. 2007 gezahlt.

Bei den von der Enteignung betroffenen Liegenschaften handelt es sich um unverbaute Grundflächen am Nordostrand von Wien, die zum Enteignungsstichtag landwirtschaftlich genutzt wurden. Beide Grundstücke liegen in einem großen freien, bisher noch nicht aufgeschlossenen, ebenen, landwirtschaftlich genutzten Gebiet. Vom Grundstück Nr 300 verblieb eine einheitliche Restfläche von 15.955 m². Durch die Durchschneidung des Grundstücks Nr 268 entstanden zwei unterschiedlich große Trennstücke mit einer Restfläche von insgesamt 21.453 m².

Das Erstgericht setzte die Enteignungsentschädigung mit 91.600 EUR fest. Es erkannte die Antragsgegnerin schuldig, den Antragstellern 58.744 EUR zu zahlen, wertgesichert nach VPI 2005 mit dem Basismonat August 2007. Die Enteignungsentschädigung setzt sich zusammen aus:

a) dem Verkehrswert der einzulösenden Flächen „als Bauerwartungsland für Gewerbebauland“

b) dem kapitalisierten Ertragsentgang wegen erschwerter Bewirtschaftung des Gst Nr 300

c) dem kapitalisierten Ertragsentgang wegen erschwerter Bewirtschaftung des Gst Nr 268

d) pauschalierten Wiederbeschaffungskosten.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Antragsgegnerin im Sinn des gestellten Aufhebungsantrags Folge. Es verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück. Die Antragsteller verwies es mit ihrem Rekurs auf diese Entscheidung. Entscheidend für die Bewertung landwirtschaftlich genutzten Grünlands als Bauerwartungsland oder als Bauland sei lediglich, ob sich das Entwicklungspotenzial zum Bewertungszeitpunkt schon auf den Marktpreis auswirke. Das Erstgericht habe noch keine Feststellungen zu den im Geschäftsverkehr für Grünland in ortsnaher Umgebung erzielten Preisen, allenfalls auch zu einer Preisentwicklung in Richtung einer Erhöhung der Preise im Vergleich zu „normalem“ Grünland getroffen. Es fehle daher am erforderlichen Tatsachensubstrat für die Annahme von Bauerwartungsland. Der für die Bewertung als Bauerwartungsland geforderte Preisanstieg sei aus dem Sachverständigengutachten nicht erkennbar. Diesem sei auch eine Begründung für die vorgenommene höhere Bewertung der Liegenschaften als Bauerwartungsland nicht zu entnehmen. Die Feststellung des Erstgerichts, dass im Bereich der von der Enteignung betroffenen Liegenschaft mit einer räumlichen Entwicklung zu einer Wirtschaftszone in einem Zeithorizont von rund 20 Jahren zu rechnen gewesen sei, könne sich auf kein Beweisergebnis stützen.

Das Rekursgericht ließ den „Rekurs an den Obersten Gerichtshof“ (richtig: Revisionsrekurs [§ 64 AußStrG]) zu, weil keine völlig eindeutige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage bestehe, auf welche Weise und inwiefern sich das Entwicklungspotential eines im Grünland gelegenen Grundstücks bereits auf den Marktpreis habe auswirken müssen, um rechtlich von Bauerwartungsland ausgehen zu können, insbesondere, ob sich die Erwartung einer möglichen Umwidmung bereits durch vor dem Stichtag für vergleichbare Liegenschaften tatsächlich bezahlte höhere Preise ausgewirkt habe müssen.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diese Entscheidung gerichtete, von der Antragsgegnerin beantwortete Revisionsrekurs der Antragsteller ist entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 71 Abs 1 AußStrG) ‑ Ausspruch des Rekursgerichts mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig.

1. Auch wenn das Rekursgericht den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig erklärte, muss der Rechtsmittelwerber eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung (§ 62 Abs 1 AußStrG) aufzeigen. Macht der Rechtsmittelwerber aber nur solche Gründe geltend, deren Erledigung nicht von der Lösung erheblicher Rechtsfragen abhängt, so ist das Rechtsmittel zurückzuweisen (RIS‑Justiz RS0048272).

Die Antragsteller zeigen in ihrem Rechtsmittel keine erhebliche Rechtsfrage auf. Sie streben mit dem Revisionsrekurs den Auftrag an das Erstgericht an, ausgehend von Bauerwartungsland, allenfalls nach Verfahrensergänzung, Feststellungen zum betriebswirtschaftlich anzuwendenden Abzinsungssatz zu treffen und neuerlich zu entscheiden.

2. Zum Bauerwartungsland:

a. Gemäß § 18 Abs 1 erster Satz BStG 1971 gebührt dem Enteigneten für alle durch die Enteignung verursachten vermögensrechtlichen Nachteile Schadloshaltung (§ 1323 ABGB). Die dem Enteigneten gebührende Entschädigung muss alle durch die Enteignung verursachten vermögensrechtlichen Nachteile erfassen, wobei der Verkehrswert der entzogenen Liegenschaft den wichtigsten Faktor für dessen Bemessung darstellt (1 Ob 138/13w; 6 Ob 161/10k mwN).

b. Auch eine nachträgliche Entwicklung der tatsächlichen Verhältnisse, die im Zeitpunkt der Enteignung als wahrscheinlich vorausgesehen werden konnte, kann die Höhe des nach § 18 BStG zu ersetzenden Verkehrswerts beeinflussen (1 Ob 138/13w; vgl RIS‑Justiz RS0053483).

Der durch BGBl I 2010/24 eingefügte letzte Satz des § 18 Abs 1 BStG normiert, dass bei der Bemessung der Entschädigung auf jene Widmung abzustellen ist, die im Zeitpunkt der Kenntnisnahme der Gemeinde von den Planungsabsichten des Bundes bei der öffentlichen Auflage eines Bundesstraßenplanungsgebiets oder, falls ein solches nicht aufgelegt wurde, bei der öffentlichen Auflage des Bundesstraßenbauvorhabens gegeben war. Diese Änderung ist am 23. 4. 2010 in Kraft getreten. Sie ist im vorliegenden Fall nicht anzuwenden, ist sie doch erst nach dem für die Festsetzung der Enteignungsentschädigung maßgeblichen Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft des Enteignungsbescheids (RIS‑Justiz RS0085888 [T 14, T 15]) ohne Anordnung einer Rückwirkung in Kraft getreten (RIS‑Justiz RS0085888 [T 12]). Das hat das Rekursgericht zutreffend erkannt.

Für die Bewertung eines Grundstücks sind daher nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs neben der bestehenden Widmung auch realistisch beurteilte künftige Verwendungsmöglichkeiten samt ihrer Auswirkung auf den Marktwert entscheidend, sofern die reale Möglichkeit einer solchen Verwendung bereits im Zeitpunkt der Enteignung gegeben war und nicht bloß für eine unbestimmte Zukunft erhofft worden ist (RIS‑Justiz RS0058043 [T 3]; RS0057977; RS0057981; 7 Ob 158/15h; 1 Ob 138/13w mwN).

c. Ob eine Liegenschaft als landwirtschaftlich genutztes Grünland, als Bauerwartungsland oder als Bauland anzusehen und dementsprechend zu bewerten ist, betrifft eine nicht vom Sachverständigen, sondern aufgrund der gesamten Verfahrensergebnisse vom Gericht zu beantwortende Rechtsfrage (RIS‑Justiz RS0007824). Gesetzliche Vorgaben für die Bewertung einer Liegenschaft als Bauerwartungsland bestehen nicht (1 Ob 25/14d mwN).

d. Für die Wertung als Bauerwartungsland muss die bevorstehende Parzellierung und Aufschließung nicht nur rechtlich und tatsächlich möglich, sondern darüber hinaus auch aufgrund besonderer Umstände „in naher Zukunft“ wahrscheinlich sein (RIS‑Justiz RS0057977; 1 Ob 25/14d). Entscheidend ist, ob sich das Entwicklungspotenzial der Liegenschaft zum maßgeblichen Zeitpunkt bereits auf den Marktpreis auswirkt (7 Ob 158/15h; 1 Ob 25/14d; 1 Ob 138/13w; 3 Ob 46/11b; 6 Ob 161/10k ua).

e. Dass ein aktueller Stadtentwicklungsplan ungeachtet seiner fehlenden Normqualität auch schon vor dem Vollzug entsprechender Umwidmungen von Grünland in Bauland Auslöser derartiger Erwartungen auf dem Grundstückswert sein kann, wurde bereits ausgesprochen (1 Ob 25/14d; 3 Ob 46/11b; vgl 6 Ob 161/10k). Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs können, wenn am Rand einer sich allmählich vergrößernden Stadt ausschließlich wegen der Erwartung der Einbeziehung dieser Randgebiete in das verbaute Gebiet kein oder nur ein geringer Grundstücksverkehr in Bezug auf die bisher rein landwirtschaftlich genutzten Grundstücke stattfindet, diese Gebiete als Bauerwartungsland angesprochen werden, auch wenn ein nachfolgender Flächenwidmungsplan sie noch als Grünland einstufte (5 Ob 193/71; RIS‑Justiz RS0053483).

f. Sofern den Ausführungen des Rekursgerichts, das die referierte Rechtsprechung wiedergab, entnommen werden könnte, es käme für die Qualifikation der enteigneten Flächen als Bauerwartungsland entscheidend allein darauf an, dass sich die Erwartung einer möglichen Umwidmung bereits durch vor dem Stichtag für vergleichbare Liegenschaften tatsächlich bezahlte höhere Preise ausgewirkt haben muss, so widerspräche diese Ansicht ‑ wie die Rechtsmittelwerber zu Recht geltend machen ‑ der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (RIS‑Justiz RS0053483; RS0058043). Die Erwartung einer Umwidmung in Bauland muss auf dem Grundstücksmarkt nur tatsächlich bereits preisbestimmend sein (3 Ob 46/11b). Fehlen tatsächlich bezahlte Vergleichspreise, muss feststehen, dass ausschließlich wegen der Erwartung der Einbeziehung in das verbaute Gebiet kein oder nur ein geringer Grundstücksverkehr in der näheren Umgebung der enteigneten Grundstücksflächen stattfand.

3. Ist das Rechtsmittelgericht der Ansicht, dass der Sachverhalt in der von ihm dargestellten Richtung noch nicht genügend geklärt ist, kann der Oberste Gerichtshof, der auch im außerstreitigen Verfahren nicht Tatsacheninstanz ist (RIS‑Justiz RS0006737), dem nicht entgegentreten, sofern die dem Aufhebungsbeschluss zugrunde liegende Rechtsansicht des Rechtsmittelgerichts richtig ist (RIS‑Justiz RS0042179 [T14, T17] iVm RS0007219).

4. Die im Revisionsrekurs angesprochene Frage des Diskontierungszinssatzes, den der Sachverständige bei der Ermittlung des Verkehrswerts der Liegenschaft auf Grundlage einer angenommenen Nutzung als Bauland in einem Zeitraum von 20 Jahren anwendete, ließ das Rekursgericht im Hinblick auf die von ihm nicht übernommene Bewertung des Sachverständigen offen. Welcher Abzinsungszinssatz „betriebswirtschaftlich anzuwenden“ ist, ist eine vom Sachverständigen zu lösende Methodenfrage.

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