OGH 1Ob207/15w

OGH1Ob207/15w24.11.2015

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj P***** S*****, geboren am ***** 2002, vertreten durch Dr. Helge Doczekal, Rechtsanwalt in Wien, wegen Unterhalts, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 18. August 2015, GZ 44 R 347/15b‑232, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Hietzing vom 2. Juli 2015, GZ 2 Pu 216/10m‑219, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0010OB00207.15W.1124.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Die Obsorge über den zwölfjährigen Minderjährigen steht seiner Mutter zu.

Mit insofern unangefochtenem Beschluss des Erstgerichts vom 17. 4. 2013 wurde die Unterhaltspflicht des Vaters für den Minderjährigen für die Zeit vom 14. 2. 2010 bis zum 31. 12. 2012 mit 479 EUR monatlich und ab dem 1. 1. 2013 mit 548 EUR monatlich festgesetzt. Als Bemessungsgrundlage wurden das tatsächlich erzielte Nettoeinkommen des Vaters von monatlich 4.277 EUR und ein Prozentsatz von 14 % bzw ab dem 1. 1. 2013 von 16 % herangezogen, was Unterhaltsbeträge von 598 EUR bzw 684 EUR monatlich ergebe. Das vom Vater ausgeübte Besuchsrecht von weit überdurchschnittlichem Umfang (rund 128 Besuchstage jährlich) rechtfertige eine Kürzung der Unterhaltsbeträge laut Prozentkomponente um gerundet 20 %.

Mit Beschluss vom 8. 10. 2014 setzte das Erstgericht die Unterhaltspflicht des Vaters für seinen Sohn ab dem 1. 11. 2013 bis auf weiteres auf 340 EUR monatlich herab. In der Begründung führte es aus, es habe sich nicht nur das Einkommen des Vaters auf 3.582,43 EUR netto im Monatsdurchschnitt vermindert, sondern ihn treffe auch eine weitere Sorgepflicht für seine einkommenslose Ehefrau, weshalb sich die seinem Sohn zustehende Prozentkomponente auf 13 % vermindere. Weiters sei die steuerliche Entlastung durch Anrechnung der Familienbeihilfe sowie eine Kürzung des Unterhaltsanspruchs um 20 % wegen des Besuchsrechts von überdurchschnittlichem zeitlichen Umfang zu berücksichtigen.

Die Mutter hatte für die kieferorthopädische Behandlung des Minderjährigen für den Zeitraum Oktober 2012 bis Oktober 2013 im April 2013 160 EUR und für den Behandlungszeitraum 15. 10. 2013 bis 14. 10. 2014 am 8. 11. 2013 409,50 EUR an zwei Sozialversicherungsträger zu zahlen.

Der Minderjährige, vertreten durch seine obsorgeberechtigte Mutter, beantragte ‑ soweit für das Revisionsrekursverfahren von Relevanz ‑ den Vater zur Leistung eines Unterhaltssonderbedarfs von 569,50 EUR für seine kieferorthopädische Behandlung zu verpflichten. Für diese Behandlung habe seine Mutter für ihn im Zeitraum Oktober 2012 bis Oktober 2013 einen Behandlungsbeitrag von 160 EUR an den Sozialversicherungsträger überwiesen. Für das dritte Behandlungsjahr habe sie 409,50 EUR bezahlt.

Der Vater trat dem Antrag entgegen, weil der begehrte Sonderbedarf ohne Schwierigkeiten aus dem regulären Unterhalt bestritten werden könne.

Das Erstgericht verpflichtete den Vater zur Leistung des Sonderbedarfs für die kieferorthopädische Behandlung von 569,50 EUR. Der derzeit festgesetzte laufende Unterhalt von 340 EUR monatlich liege unter dem Regelbedarf gleichaltriger Kinder, sodass der Minderjährige zur Bestreitung des Sonderbedarfs aus dem laufenden Unterhalt außer Stande sei.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Vaters Folge und wies das Sonderbedarfsbegehren ab. Rechtlich führte es aus, dass der Vater im Zeitraum 1. 1. 2013 bis 31. 10. 2013 zur Leistung eines laufenden Unterhalts von monatlich 548 EUR verpflichtet gewesen sei, der deutlich über dem Regelbedarf gelegen sei, sodass die im April 2013 gezahlten Kosten für die kieferorthopädische Behandlung von 160 EUR leicht aus diesem Überhang bestritten werden konnten. Der ab 1. 11. 2013 auf 340 EUR monatlich herabgesetzte laufende Unterhalt liege unter dem Regelbedarf. Diesem Unterhaltsbetrag liege eine Kürzung um pauschal 20 % zugrunde, weil die Betreuung und Versorgung des Kindes während überdurchschnittlich langen Besuchszeiten durch den geldunterhaltspflichtigen Vater erfolgt sei. In einem solchen Fall sei als Vergleichsmaßstab für die Beurteilung des Deckungsmangels (für den Sonderbedarf) der Unterhaltsbetrag laut Prozentwertmethode und nach Anrechnung der Transferleistungen heranzuziehen, eine weitere Kürzung wegen eines überdurchschnittlich umfangreichen Besuchsrechts aber nicht zu berücksichtigen. Nach der steuerlichen Entlastung durch Anrechnung der Familienbeihilfe verbleibe ‑ ohne die Kürzung um 20 % ‑ ein monatlicher Unterhaltsbetrag von 425 EUR. Zu einem vergleichbaren Ergebnis gelange man auch, wenn die ersparten Unterhaltsaufwendungen des betreuenden Elternteils so berücksichtigt würden, dass auch der Regelbedarf im gleichen Ausmaß wie der Unterhaltsbetrag gekürzt werde. Gehe man von einem Unterhaltsbetrag laut Prozentwertmethode und nach Anrechnung der Transferleistungen von 425 EUR monatlich aus, so übersteige dieser den seit Juli 2015 geltenden altersgemäßen Regelbedarf von 376 EUR monatlich um 49 EUR monatlich und die am 8. 11. 2013 bezahlten Behandlungskosten von 409,50 EUR könnten bei Aufteilung auf einen angemessenen Zeitraum von einem Jahr (rund 34 EUR monatlich) aus dieser Differenz zum Regelbedarf bestritten werden. Der Minderjährige habe keine Umstände vorgebracht, warum eine Bestreitung der Sonderbedarfskosten aus diesem Überhang nicht möglich wäre.

Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig, weil zur Frage, ob bzw inwieweit bei der Beurteilung des Deckungsmangels für den Sonderbedarf eine Kürzung des festgesetzten laufenden Unterhalts wegen eines überdurchschnittlich umfangreichen Kontaktrechts zu berücksichtigen sei, keine oberstgerichtliche Judikatur existiere.

Rechtliche Beurteilung

Der vom Vater beantwortete Revisionsrekurs des Minderjährigen, in dem er die Zuerkennung des Sonderbedarfs beantragt, ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig. Er ist jedoch nicht berechtigt.

1. Sonderbedarf ist jener Bedarf, der sich aus der Berücksichtigung der beim Regelbedarf bewusst außer Acht gelassenen Umstände des Einzelfalls ergibt (RIS‑Justiz RS0117791; vgl RS0047564; RS0109908). Dass die Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung einen solchen Sonderbedarf begründen, entspricht höchstgerichtlicher Judikatur (5 Ob 116/09h mwN) und wird im vorliegenden Fall vom Unterhaltspflichtigen auch nicht bestritten.

2. Ob ein Sonderbedarf vom Unterhalts-pflichtigen zu decken ist, hängt davon ab, ob es dem Unterhaltspflichtigen angesichts der Einkommens‑ und Vermögensverhältnisse zumutbar ist (vgl RIS‑Justiz RS0047543 [T1]; RS0107179; RS0109907).

Erbringt der Unterhaltsschuldner ohnedies Unterhaltsleistungen, die den Regelbedarf beträchtlich übersteigen, ist im Rahmen der Unterhaltsbemessung Sonderbedarf nur dann zu ersetzen, wenn dessen Aufwendungen höher sind als die Differenz zwischen dem Regelbedarf und der laufenden monatlichen Unterhaltsverpflichtung (RIS‑Justiz RS0047525 [T9]). Die Kosten für kieferorthopädische Behandlungen sind auf so viele Monate umzulegen, wie die Behandlung durch diese Zahlung gedeckt ist. In einem derartigen Fall kann der Unterhaltspflichtige zur Deckung eines Sonderbedarfs nur dann verhalten werden, wenn der Unterhaltsberechtigte beweist, dass er trotz der den Regelbedarf erheblich überschreitenden Unterhaltsbeiträge außer Stande wäre, diese Kosten auf sich zu nehmen, etwa weil der Überhang an Unterhaltsleistungen durch anderen anerkennenswerten Sonderbedarf bereits aufgezehrt ist. Andernfalls ist der Sonderbedarf nur insoweit zu ersetzen, als diese Aufwendungen höher sind als die Differenz zwischen dem Regelbedarf und dem zuerkannt gewesenen Unterhalt. Bei einmaligen Anschaffungen und auch Zahnbehandlungskosten, die einen Anspruch auf Sonderbedarf begründen können, ist zwecks Erzielung einer sachgerechten Lösung der Anschaffungspreis durch so viele Monate zu teilen wie der Nutzungsdauer des angeschafften Gegenstands entspricht. Zahnregulierungskosten sind ‑ wenn ein Jahreshonorar bezahlt wird ‑ auf 12 Monate „umzulegen“. Das jeweilige Ergebnis ist mit der Differenz zwischen Regelbedarf und zuerkanntem Unterhalt zu vergleichen (10 Ob 63/14h mwN).

3. Der im Zeitraum Oktober 2012 bis Oktober 2013 angefallene Sonderbedarf für die kieferorthopädische Behandlung von 160 EUR (umgelegt auf 12 Monate á 13,33 EUR) ist durch die Differenz zwischen den tatsächlichen Unterhaltszahlungen des Vaters (bis 31. 12. 2012 monatlich 479 EUR; ab 1. 1. 2013 548 EUR) und den jeweils gültigen Regelbedarfssätzen (monatlich 358 EUR; ab 1. 7. 2013 366 EUR; siehe dazu Zak 2015/521, 291) gedeckt. Damit besteht in diesem Zeitraum kein Deckungsmangel für den begehrten Sonderbedarf. Zutreffend führte daher das Rekursgericht aus, dass die Kosten für die kieferorthopädische Behandlung von 160 EUR aus dem Überhang in diesem Zeitraum bestritten werden konnten.

4. Der Unterhaltsverpflichtung des Vaters (§ 231 Abs 1 ABGB), insbesondere ab 1. 11. 2013 von monatlich 340 EUR, liegt die Rechtsprechung zugrunde, wonach sich dann, wenn das Kind in etwa einem Drittel der Zeit vom Vater betreut wird, die Geldunterhaltspflicht um 20 % reduziert (7 Ob 178/06m). Im Rahmen des Ermessens neigt die Judikatur dazu, in der Regel den Unterhaltsanspruch altersunabhängig um 10 % pro wöchentlichem Betreuungstag zu reduzieren, an dem sich das Kind über das übliche Ausmaß des Kontaktrechts hinaus beim geldunterhaltspflichtigen Elternteil befindet, wobei ein Besuchsrechtstag pro Woche als unterhaltsneutral anzusehen sei. Für jeden weiteren sei eine Minderung von 10 % angemessen (10 Ob 17/15w mwN; 1 Ob 158/15i).

Ein Deckungsmangel liegt dann vor, wenn der Sonderbedarf weder aus der Differenz zwischen dem bereits festgesetzten, den Allgemeinbedarf deckenden Unterhalt und dem Regelbedarf (RIS‑Justiz RS0047525 [T2]) noch aus den Sozialleistungen von dritter Seite bestritten werden kann (2 Ob 58/14i). Der Regelbedarf für den Minderjährigen betrug im Zeitraum 15. 10. 2013 bis 14. 10. 2014 zunächst 366 EUR und ab 1. 7. 2014 372 EUR monatlich. Unter Berücksichtigung der ausgedehnten Betreuung durch den Vater an immerhin rund 128 Tagen im Jahr (35 %) liegt der Restgeldunterhaltsanspruch des Minderjährigen (ab 1. 11. 2013 monatlich 340 EUR) unter diesem Regelbedarf. In der Rechtsprechung wird der Regelbedarf als der neben der Betreuung durch den haushaltsführenden Elternteil bestehende Bedarf verstanden, den jedes Kind einer bestimmten Altersstufe in Österreich ohne Rücksicht auf seine konkreten Lebensumstände zur Bestreitung eines dem Durchschnitt gleichaltriger Kinder entsprechenden Lebensaufwands hat (RIS‑Justiz RS0047395; zuletzt 2 Ob 58/14i mwN). Wird berücksichtigt, dass der Vater während der Ausübung des überdurchschnittlichen Kontaktrechts zum Minderjährigen Versorgungsleistungen erbringt, die ihm als Naturalunterhalt anzurechnen sind, ist die Beurteilung des Rekursgerichts zutreffend, dass in einem solchen Fall im Rahmen der Unterhaltsbemessung Sonderbedarf nur dann zu ersetzen ist, wenn die Aufwendungen des Kindes höher sind als die Differenz zwischen dem Regelbedarf und der laufenden monatlichen Unterhaltsverpflichtung ohne deren Kürzung wegen des überdurchschnittlich umfangreichen Kontaktrechts. Zu einem ähnlichen Ergebnis führt auch die Reduktion des Regelbedarfs im selben Ausmaß (hier: 20 %) wie der Unterhaltsbetrag gekürzt wird. Unter Zugrundelegung eines (ungekürzten) Unterhaltsbetrags von 425 EUR oder ausgehend von einem verminderten Regelbedarf des Kindes (292,80 EUR, ab 1. 7. 2014 297,60 EUR) errechnet sich kein Deckungsmangel, finden doch die von der Mutter bezahlten Behandlungskosten von 409,50 EUR bei Aufteilung auf den zugrundeliegenden Zeitraum von 12 Monaten (rund 34 EUR monatlich) in der Differenz jeweils Deckung. Daher besteht auch in diesem Behandlungszeitraum kein deckungspflichtiger Sonderbedarf.

Der Minderjährige erstattete kein Vorbringen, dass ein besonders berücksichtigungswürdiger Fall vorläge oder dass die Differenzbeträge anderweitig durch Sonderbedarf aufgebraucht würden (vgl 5 Ob 116/09h = RIS‑Justiz RS0047525 [T10]).

5. Aufgrund dieser Erwägungen ist dem Revisionsrekurs ein Erfolg zu versagen.

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