European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E112437
Spruch:
Aus Anlass des Revisionsrekurses werden die Beschlüsse der Vorinstanzen aufgehoben und die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
M* J* F*, ist die uneheliche Tochter von J* M*. Die Obsorge für M* J* kommt der Mutter alleine zu. D* M*, und G* M*, sind die ehelichen Kinder von J* M* und A* M*. Die Obsorge für diese beiden Kinder kommt beiden Elternteilen zu.
Nach einer gerichtlich zu Protokoll gegebenen Gefährdungsmeldung der mütterlichen Urgroßmutter überprüfte die Bezirkshauptmannschaft H* im Juni 2011 die familiären Verhältnisse der Kinder und erachtete pflegschaftsbehördliche Maßnahmen nicht für erforderlich. Weitere Überprüfungen durch die Bezirkshauptmannschaft H* ergaben zunächst weder Auffälligkeiten noch Vernachlässigungen.
Am 2. 10. 2013 teilte die Bezirkshauptmannschaft H* dem Erstgericht mit, dass sie als vorläufige Maßnahme gemäß § 211 Abs 1 ABGB M* J* und D* in einer Kriseneinrichtung des Landes * untergebracht und G* in die Pflege und Erziehung einer Krisenpflegemutter übergeben habe. Zugleich beantragte der Kinder- und Jugendhilfeträger ‑ soweit für das Revisionsrekursverfahren noch relevant ‑ die Obsorge für die Kinder in den Teilbereichen Pflege und Erziehung so wie Vermögensverwaltung den Antragsgegnern (gemeint: der Mutter hinsichtlich M* J* und den Eltern hinsichtlich D* und G*) zu entziehen und an ihn zu übertragen.
Der Vater von D* und G* erklärte sich zunächst mit der Übertragung der Obsorge an die Bezirkshauptmannschaft H* einverstanden, sprach sich letztlich jedoch gegen den Obsorgeantrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers aus. Die Mutter wandte sich von Beginn an gegen den Obsorgeantrag.
Mit Beschluss vom 17. 9. 2014 entzog das Erstgericht der Mutter und dem Vater die Obsorge für die minderjährigen Kinder in den Teilbereichen Pflege und Erziehung sowie Vermögensverwaltung und übertrug diese an die Bezirkshauptmannschaft H*.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter und des Vaters (von D* und G*) nicht Folge. Der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zulässig. Die von den Rekurswerbern in ihrem Rechtsmittel gerügten Verfahrensmängel könnten nicht zum Gegenstand eines Revisionsrekurses an den OGH gemacht werden.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter und des Vaters (von D* und G*) mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, dass deren Obsorge aufrecht bleibe. Hilfsweise beantragen sie, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und den Vorinstanzen eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.
Der Kinder- und Jugendhilfeträger beantragte in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den außerordentlichen Revisionsrekurs als unbegründet abzuweisen.
Rechtliche Beurteilung
Den Entscheidungen und dem Verfahren der Vorinstanzen haftet der Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 2 AußStrG an. Dieser ist in diesem Revisionsrekursverfahren ‑ analog § 55 Abs 3 AußStrG ‑ von Amts wegen wahrzunehmen.
1. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB können solche Verfügungen von einem Elternteil, etwa wenn die Eltern in einer wichtigen Angelegenheit des Kindes kein Einvernehmen erzielen, den sonstigen Verwandten in gerader aufsteigender Linie, den Pflegeeltern (einem Pflegeelternteil), dem Jugendwohlfahrtsträger und dem mündigen Minderjährigen, von diesem jedoch nur in Angelegenheiten seiner Pflege und Erziehung, beantragt werden. Diese Aufzählung ist taxativ. Andere Personen besitzen keine Antragslegitimation und können Verfügungen nach § 181 Abs 1 ABGB nur anregen (1 Ob 7/14g; 1 Ob 98/14i; Stabentheiner in Rummel 3, §§ 176‑176b Rz 3, 11; Weitzenböck in Schwimann/Kodek ABGB4 1a, § 181 Rz 50; Thunhart in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ § 176, 176b Rz 65). Die zur Antragstellung berechtigten Personen erlangen durch die Erhebung des Antrags für das Verfahren Parteistellung und Rechtsmittellegitimation (1 Ob 7/14g; RIS‑Justiz RS0045931; Deixler‑Hübner in Kletečka/Schauer ABGB-ON1.02, §§ 181, 182 Rz 9; Thunhart aaO § 176, 176b Rz 65).
2. Zu den in § 181 Abs 2 ABGB genannten, zur Antragstellung berechtigten „Verwandten in aufsteigender Linie“ zählen Großeltern und Urgroßeltern (1 Ob 98/14i; Deixler‑Hübner aaO §§ 181, 182 Rz 9; Hopf in KBB4 §§ 181‑182 Rz 6; Weitzenböck aaO § 181 Rz 52). Im vorliegenden Fall hat (auch) die mütterliche Urgroßmutter A* O*, am 8. 10. 2013 den Antrag gestellt, die Obsorge für die minderjährigen Kinder ihr zu übertragen. Sie sei in der Vergangenheit bereits in die Betreuung der Kinder eingebunden gewesen und befürchte angesichts des Verhaltens der Eltern eine Gefährdung des Kindeswohls (Protokoll vom 8. 10. 2013, ON 30 [1 Ps 93/11x] u ON 15 [6 Ps 22/12v]). Mit ihrem Schreiben vom 12.11.2013 wiederholte sie diesen Antrag (ON 45 [1 Ps 93/11x] u ON 29 [6 Ps 22/12v]). Mit diesem Antrag erlangte die (nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB zur Antragstellung berechtigte) mütterliche Urgroßmutter Parteistellung im Verfahren. Ungeachtet dessen wurden ihr in diesem Obsorgestreit der Aktenlage nach weder die (weiteren) Verfahrensergebnisse noch die Beschlüsse der Vorinstanzen zugestellt. Darin liegt die Verletzung des ihr nach § 15 AußStrG zu gewährenden rechtlichen Gehörs.
3. Eine Parteistellung im Obsorgeverfahren kann sich auch ‑ losgelöst von der Antragslegitimation nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB ‑ daraus ergeben, dass die gerichtliche Entscheidung im Sinne des § 2 Abs 1 Z 3 AußStrG unmittelbar in die rechtlich geschützte Stellung dieser Person eingreifen könnte (RIS‑Justiz RS0045931; Stabentheiner aaO §§ 176‑176b Rz 3; Deixler‑Hübner aaO §§ 181, 182 Rz 10). Eine solche kindschaftsrechtliche Rechtsposition verschafft § 178 ABGB den (bisher nicht obsorgeberechtigten) Elternteilen, den Großeltern und den Pflegeeltern. § 178 ABGB normiert nämlich im Falle der Verhinderung eines allein obsorgeberechtigten Elternteils die Übertragung der Obsorge an den anderen Elternteil, die Großeltern (den Großelternteil) oder die Pflegeeltern (den Pflegeelternteil).
Eltern, Großeltern und Pflegeeltern haben nach § 178 ABGB Vorrang vor Dritten (3 Ob 155/11g = RIS‑Justiz RS0123509 [T1]). Nur wenn weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, ist eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen (§ 204 ABGB). Die Übertragung der Obsorge an den Kinder- und Jugendhilfeträger kann dabei wiederum nur das letzte Mittel zur Hintanhaltung einer Gefährdung des Kindeswohls sein. Das Gericht hat die Obsorge dem Kinder- und Jugendhilfeträger nur dann zu übertragen, wenn sich dafür Verwandte oder andere nahe stehende oder sonst besonders geeignete Personen nicht finden (§ 209 ABGB). Der Kinder- und Jugendhilfeträger ist also nur subsidiär zu Verwandten, anderen nahestehenden Personen oder sonst besonders geeigneten Personen mit der (Teil-)Obsorge zu betrauen (RIS‑Justiz RS0123509; RS0048707 [T3]).
Das Gericht hat nach § 178 ABGB also zunächst die Eignung der Eltern, Großeltern und Pflegeeltern zur Übernahme der Obsorge zu prüfen. Dabei kommt dem Elternteil eine Vorrangstellung gegenüber den anderen Personen zu (RIS‑Justiz RS0014474; Hopf aaO § 178 Rz 2; vgl. zur (Un‑)Abhängigkeit der Vorrangstellung von der Ehelichkeit oder Unehelichkeit des Kindes: Stabentheiner aaO § 145 Rz 2a, 3; Barth aaO § 145 RZ 14, 15; Weitzenböck in Schwimann, ABGB‑TaKomm² § 145 ABGB Rz 5). Es ist daher zu prüfen, ob unter Beachtung des Kindeswohls der andere Elternteil (in erster Linie) oder Groß- bzw Pflegeeltern (in zweiter Linie) mit der Obsorge zu betrauen sind. In dritter Linie hat das Gericht dann, wenn weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen (10 Ob 69/09h).
4. Konsequenz der in § 178 ABGB normierten materiellen Rechtsposition der Eltern, Großeltern und Pflegeeltern ist deren Parteistellung im Verfahren. Soll die Obsorge ‑ wie hier die Obsorge für die mj M* J* ‑ dem bisher allein obsorgeberechtigten Elternteil entzogen und einer anderen Person übertragen werden, hat der andere Elternteil jedenfalls, also unabhängig von einer Antragstellung Parteistellung. Soll ‑ wie hier für die beiden minderjährigen Kinder D* und G* ‑ den bisher mit der Obsorge betrauten Elternteilen diese entzogen werden, kommt daher sämtlichen Großelternteilen unabhängig von einer Antragstellung durch sie Parteistellung zu (so auch Weitzenböck in Schwimann/Kodek ABGB4 1a, § 181 Rz 51). Dies gilt nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs allerdings nicht, solange die Betrauung mit der Obsorge lediglich zwischen den Elternteilen strittig ist. Dann kommt den Großeltern im Hinblick auf die Vorrangstellung des anderen Elternteils keine eigene Verfahrensstellung zu. Stellt sich heraus, dass beide Elternteile nicht imstande sind, die Obsorge zum Wohl des Kindes auszuüben, also eine dritte Person (dann aber vorrangig die Großeltern) damit betraut werden müsste, kommt eine Parteienstellung der Großeltern in Betracht (6 Ob 178/06d; Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 2 Rz 108). Das materielle Recht schützt die Stellung letzterer also (erst), wenn nicht der andere Elternteil betraut wird oder auch dieser verhindert ist (Barth aaO § 145 Rz 14).
5. Verfahrensergebnisse und Feststellungen zu dem erweiterten Kreis der nach § 178 ABGB in Betracht kommenden Personen und deren Eignung zur Übernahme der Obsorge fehlen hier zur Gänze. Aus dem aktenkundigen, diesem Obsorgestreit zeitlich vorgelagerten Streit um das Kontaktrecht zu M* J* im Jahr 2006 ergibt sich allerdings nicht nur die Person ihres leiblichen Vaters, sondern auch der Umstand, dass die Mutter damals mit ihrer Tochter im Haushalt ihrer Mutter, also einer Großmutter von M* J*, gelebt hat (1 P 63/06v des Erstgerichts: Antrag des Vaters vom 18. 7. 2006, ON 1; Bericht vom 31. 8. 2006, ON 5). Angesichts des mögliche Eingriffs in ihre Rechtsposition nach § 178 ABGB käme in diesem Obsorgeverfahren auch dem leiblichen Vater von M* J*, der mütterlichen Großmutter und (auch wenn der mütterliche Großvater nach der Aktenlage verstorben ist) möglicherweise noch anderen Großelternteilen Parteistellung zu. Ungeachtet dessen haben die Vorinstanzen weder gemäß § 16 AußStrG die entsprechenden Hinweise berücksichtigt und maßgebende Tatsachen aufgeklärt, noch die nach der Aktenlage bekannten weiteren Parteien, den leiblichen Vater von M* J* und die mütterlichen Großmutter, am Verfahren beteiligt. Darin liegt die Verletzung des ihnen nach § 15 AußStrG zu gewährenden rechtlichen Gehörs.
6. Die Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs gleich mehrerer Personen mit Parteistellung zwingt hier zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im außerstreitigen Verfahren zwar nur dann von Amts wegen wahrzunehmen, wenn die Gehörverletzung Einfluss auf die Richtigkeit der Entscheidung haben konnte (RIS‑Justiz RS0120213; RS0119971). Gemäß § 58 Abs 1 und 3 AußStrG ist vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückverweisung der Außerstreitsache an eine Vorinstanz also grundsätzlich zu prüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im Rechtsmittelverfahren oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Im vorliegenden Fall waren die Parteien mangels Beteiligung am bisher durchgeführten Verfahren zu einem diesbezüglichen Vorbringen aber gar nicht in der Lage. Die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs muss daher im Revisionsrekursverfahren zur Aufhebung führen (vgl 10 Ob 91/08t; 1 Ob 236/05w). Eine Sanierung durch Zustellung lediglich des Rekursbeschlusses im Sinne des Vorrangs der Sacherledigung (vgl RIS‑Justiz RS0123128) kommt hier nicht in Betracht, weil die Gehörverletzung mit der Notwendigkeit einer Verfahrensergänzung einhergeht (vgl Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 58 Rz 24). Mit den vorhandenen Feststellungen kann im Hinblick auf die aufgezeigte Subsidiarität der Betrauung des Kinder- und Jugendhilfeträgers jedenfalls nicht das Auslangen gefunden werden.
7. Die Eltern und der Kinder- und Jugendhilfeträger werden mit ihren Rechtsmittelschriften auf diese Entscheidung verwiesen.
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