OGH 3Ob155/11g

OGH3Ob155/11g8.11.2011

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Prückner als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Neumayr, die Hofrätin Dr. Lovrek und die Hofräte Dr. Jensik und Dr. Roch als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj J*****, wegen Teilentziehung der Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Eltern 1. A*****, 2. M*****, beide vertreten durch Mag. Florian Kucera, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt als Rekursgericht vom 7. Juli 2011, GZ 4 R 227/11s-80, womit über Rekurs der Eltern der Beschluss des Bezirksgerichts Klagenfurt vom 14. Mai 2011, GZ 1 PS 171/09w-74, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht verwiesen.

Text

Begründung

Der am 15. April 2009 geborene J***** ist das eheliche Kind der Revisionsrekurswerber. Die Ehe der Eltern ist aufrecht.

Die Mutter hat ein unterdurchschnittliches, vermindertes Intelligenzniveau im Sinne einer Grenzdebilität. Neben einer ausgeprägten Rechenschwäche zeigt sich das in einem verlangsamten Denkablauf, wodurch sie auch im situativen Erfassen und im Anpassungsverhalten schwerfällig und verlangsamt ist sowie wiederholt entscheidungsunsicher und einfach im emotionalen Erleben reagiert. Seit 2002 wurde sie wiederholt stationär auf der psychiatrischen Abteilung des LKH ***** behandelt. Es wurde eine undifferenzierte Schizophrenie und eine Belastungsreaktion diagnostiziert. Seit 2002 ist die Mutter in durchgehender Betreuung bei einem Psychiater. Sie wird geringfügig mit neuroleptischen Arzneimitteln behandelt. Zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Beschlussfassung befand sich die Erkrankung der Mutter in einem Remissionsstadium.

Der Vater ist überdurchschnittlich intelligent, weist aber eine etwas exzentrisch akzentuierte Persönlichkeit auf. Vor dem Hintergrund eines konfliktbelasteten Vater-Sohn-Verhältnisses geriet er mit 22 Jahren in eine schwere Orientierungskrise mit Lebensüberdruss. Er absolvierte 2003 einen mehrmonatigen stationären Aufenthalt im Zentrum für seelische Gesundheit im LKH *****. Dort lernte er auch die Mutter kennen. Der Vater war seit 2004 in psychiatrischer Behandlung, wodurch er allmählich stabilisiert wurde. 2007 folgte eine weitere stationäre Aufnahme für einen Monat. Bei ihm wurde eine wahnhaft paranoide Störung bzw paranoide Reaktion und eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderlinetypus diagnostiziert. Anfang 2009 konnten nach neuerlicher Besserung die bisher verabreichten Medikamente abgesetzt werden.

Die Mutter bezieht eine Berufsunfähigkeitspension. Der Vater hat am 14. Juli 2009 das Gewerbe „Dienstleistungen in der automatischen Datenverarbeitung“ angemeldet. Sein Pensionsbezug - er bezog ebenfalls eine Berufsunfähigkeitspension - wurde infolge seiner nunmehrigen Tätigkeit beendet.

Noch während der Schwangerschaft wurden beide Eltern psychiatrisch betreut. Zusätzlich erfolgte eine psychotherapeutische Betreuung der Mutter, zu welcher dann auch der Vater beigezogen wurde. Dabei ging es um die Bewältigung von Konflikten zwischen den Eltern.

Ebenfalls während der Schwangerschaft nahm der für die Familie zuständige Sozialarbeiter mit den Eltern Kontakt auf. Diese zeigten sich sehr bemüht und kooperativ. Der Sozialarbeiter teilte den Eltern mit, dass nach der Geburt des Kindes eine Abklärung der Eltern-Kind-Interaktion nötig sei. Die Eltern stimmten zu. Knapp zwei Wochen nach der Geburt wurden die Mutter und J***** in die Abteilung Neurologie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters des LKH überstellt. Zunächst war an eine stationäre Aufnahme beider Eltern gedacht. Der Vater hatte gemeint, die Mutter wäre nicht allein in der Lage, das Kind zu betreuen. Der Vater stimmte jedoch letztlich seiner stationären Aufnahme nicht zu. Entgegen den getroffenen Vereinbarungen kam er zwar nahezu täglich auf Besuch, hielt sich jedoch immer nur sehr kurz auf und vermittelte den Eindruck, in Eile und unter zeitlichem Druck zu sein.

Bei der Aufnahme auf der Station beschrieben beide Eltern ihre Beziehung als sehr konfliktgeladen, wobei es immer um alltägliche Kleinigkeiten ginge. Es wurde beobachtet, dass die Mutter aufgrund ihrer Affektabflachung und emotionalen Abgestumpftheit wenig Empathiefähigkeit und zu wenig intuitive elterliche Kompetenzen aufbrachte. Sie versorgte zwar das Kind mit Nahrung und wickelte es nach Anleitung; es fehlte jedoch die emotionale Verfügbarkeit mit dem Baby. Auch der Vater zeigte mangelnde Fähigkeiten, sich emotional auf das Kind einzulassen.

Nachdem die Eltern zunächst einer Fremdunterbringung zugestimmt hatten, zogen sie diese Zustimmung mit Schreiben ihrer früheren Rechtsvertreterin vom 19. Juni 2009 zurück. Der Jugendwohlfahrtsträger ordnete in der Folge den Weiterverbleib des Kindes im Landeskrankenhaus bzw in einer geeigneten Einrichtung wegen Gefahr im Verzug an. Am 6. Juli 2009 wurde J***** in das SOS-Kinderdorf ***** gebracht, wo er sich bis heute befindet.

Die Eltern nahmen die vereinbarten monatlichen Besuchskontakte in Anspruch; aufgrund eines Beschlusses des Erstgerichts vom 29. Jänner 2010 (ON 24) erfolgten schließlich Besuchskontakte im Abstand von 14 Tagen. Diese Termine nahmen die Eltern pünktlich wahr.

Nachdem einem Antrag der Eltern (ON 50) vom 8. November 2010, unbegleitete Besuchskontakte zu gewähren, nicht nachgekommen worden war, erklärten sie, keine begleiteten Besuchskontakte mehr zu akzeptieren.

Besuchskontakte der väterlichen Großeltern finden vereinbarungsgemäß einmal monatlich im Ausmaß von zwei Stunden in Anwesenheit der Kinderdorfmutter statt.

Der Jugendwohlfahrtsträger beantragte am 26. Juni 2009, somit innerhalb der Frist des § 215 Abs 1 ABGB, ihn mit der Obsorge im Teilbereich Pflege und Erziehung vorläufig zu betrauen und in der Folge den Eltern die Obsorge im Teilbereich Pflege und Erziehung endgültig zu entziehen und an ihn zu übertragen. Die Eltern seien nicht in der Lage, das Kind ohne Gefährdung zu versorgen und zu betreuen.

Die Eltern beantragten die Abweisung dieses Antrags und die Rückführung des Kindes an sie. Für den Fall, dass eine Rückführung des Kindes an die Eltern nicht erfolge, beantragte die väterliche Großmutter, den Eltern die Obsorge zu entziehen und ihr zu übertragen. Es sei geplant, dass die Eltern in das Haus der väterlichen Großeltern einzögen. Sie könne ihre berufliche Tätigkeit reduzieren.

Das Erstgericht entzog den Eltern die Obsorge für J***** im Teilbereich Pflege und Erziehung und übertrug sie an den Jugendwohlfahrtsträger des Landes. Den Antrag der väterlichen Großmutter, die Obsorge den Eltern zu entziehen und ihr zu übertragen, wies das Erstgericht ab.

Neben dem eingangs dargestellten unstrittigen Sachverhalt traf das Erstgericht zur derzeitigen Situation keine eigenen Feststellungen, sondern gab die Ergebnisse des von ihm durchgeführten Beweisverfahrens zusammengefasst wie folgt wieder:

Die im Verfahren bestellte Sachverständige kam in ihrem familienpsychologischen Gutachten - das sie nach mehrfacher Beobachtung des Kindes bei den Besuchen der Eltern, Befragung der Eltern, der väterlichen Großmutter und der Kinderdorfmutter erstattete - zum Ergebnis, dass die Eltern trotz der schwierigen Situation der Trennung vom Kind seit über einem Jahr keinerlei psychische Dekompensation mehr gezeigt hätten. Ihre Beziehung zueinander habe sich im Gegensatz zu dem im Vorjahr noch deutlich erhöhten Konfliktniveau gefestigt. In der Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion seien beide Elternteile ihrem Kind aufmerksam, emotional anteilnehmend, ruhig und geduldig zugewandt, jedoch im richtigen Interpretieren von Verhaltensäußerungen begrenzt und wiederholt auf Anleitung und Anregungen der Kinderdorfmutter angewiesen. Das elterliche Verhalten sei teilweise unbeholfen gewesen. Es ergäben sich jedoch keine Gefährdungshinweise in Richtung unzureichender Beaufsichtigung oder körperlicher Vernachlässigung.

Die Sachverständige bejahte demgemäß beim Vater grundsätzlich die Erziehungsfähigkeit, während die Mutter mit einer alleinverantwortlichen Erziehung überfordert und auf Einbindung des Vaters und auf Unterstützung der Großmütter angewiesen wäre. Das Betreuungsniveau der Mutter würde eine kognitive Erfahrungsverarmung für das Kind bedeuten. Die Sachverständige hielt bei zusätzlicher Hilfestellung durch Zuziehung einer sozialpädagogischen Familienbetreuerin, bei regelmäßigem Krabbelstubenbesuch des Kindes und einer familientherapeutischen Begleitung der Eltern eine Belassung der Obsorge bei den Eltern für möglich. Die Kinderdorfmutter sei für das Kind die primäre und bevorzugte Bindungsperson geworden. Ein Pflegeplatzwechsel stelle eine nicht unerhebliche emotionale Belastung für das Kind dar. Die Sachverständige empfahl daher eine regelmäßige wöchentliche kinderneuropsychiatrische ambulante Betreuung des Kindes für den Fall des Pflegeplatzwechsels. Eine Rundumbetreuung des Kindes sei nicht notwendig, weil es eine Unterstützung durch die väterliche Großmutter gebe.

Die von den Besuchsbegleiterinnen während der begleiteten Besuchskontakte gemachten Beobachtungen lassen sich dahin zusammenfassen, dass die Eltern im Umgang mit J***** eine große Unsicherheit in praktisch allen Situationen gezeigt hätten. Beide Eltern würden sowohl beim Füttern, Wickeln und Pflegen als auch beim Spielen und Fördern Unterstützung und Anleitung benötigen. Sie seien nicht in der Lage, auf die Bedürfnisse des Kindes adäquat zu reagieren oder selbständig Spielangebote zu machen. Sie seien mit der Situation, zwei Stunden mit dem Kind zu verbringen, überfordert. Auch Gefahrenquellen würden von den Eltern meist nicht richtig eingeschätzt. Insgesamt seien die Fortschritte nach vielen Besuchskontakten gering.

Diese „Feststellungen“ schloss der Erstrichter mit dem von ihm gewonnenen persönlichen Eindruck, wonach die Mutter über weite Strecken müde und teilnahmslos wirke, sie wende sich hilfesuchend an ihren Mann. Wenn dieser kritische Äußerungen mache, stimme sie zu. Der Vater mache einen dominierenden Eindruck. Er wirke angespannt und könne sich emotional wenig öffnen. Er sei herabgesetzt kritikfähig. Die Großmutter habe offenkundig großes Interesse an ihrem Enkelkind, sie mache einen eher wenig durchsetzungsfähigen Eindruck. Auch von der Sozialarbeiterin der Bezirkshauptmannschaft sei sie als belastet angesehen worden. Es bestünden Zweifel, ob sie sich gegenüber anderen Familienmitgliedern in der Betreuung des Kindes durchsetzen könne.

Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass die Eltern auch nach vielen Monaten begleiteter Besuchskontakte nicht in der Lage gewesen seien, ohne Anleitung und Hilfestellung das Kind zu versorgen und zu betreuen. Ein ganztägiger Aufenthalt in einer Krabbelstube könne nicht den Kontakt des Kindes mit einer kompetenten Hauptbezugsperson ersetzen. Eine familientherapeutische Begleitung beider Eltern finde ohnedies statt, gewährleiste aber nicht mit Sicherheit, dass kindeswohlgefährdende Konflikte zwischen den Eltern nicht mehr ausbrechen. Der von der Sachverständigen hervorgehobene positive Einfluss der väterlichen Großmutter sei im Zusammenhang damit zu sehen, dass eine Stattgebung des Eventualantrags zur selben Betreuungssituation führen würde wie bei Rückführung des Kindes an die Eltern. Es sei ein Zusammenzug der Familie im Haus der väterlichen Großeltern und eine Betreuung im familiären Netzwerk geplant. Das Funktionieren eines derartigen Netzwerks müsse aber bezweifelt werden. So bestehe ein gespanntes Verhältnis zwischen dem Vater und dessen Vater. Weil somit ein ausreichend verlässliches Unterstützungssystem nicht verfügbar sei, wäre das Wohl des Kindes bei Rückführung an die Eltern gefährdet. Es bestehe keine erkennbare Alternative zur weiteren Betreuung im Kinderdorf.

Das Rekursgericht gab dem dagegen von den Eltern erhobenen Rekurs nicht Folge und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Es billigte im Wesentlichen die Auffassung des Erstgerichts.

Dagegen wendet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Eltern mit dem Antrag auf Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen. Hilfsweise wird ein Abänderungsantrag gestellt.

Im Ergebnis zutreffend macht der außerordentliche Revisionsrekurs geltend, dass die vom Erstgericht getroffenen „Feststellungen“ die Entziehung der Obsorge im Teilbereich Pflege und Erziehung nicht tragen.

Der Revisionsrekurs ist somit schon aus diesem Grund zulässig.

Der Jugendwohlfahrtsträger bringt in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung zusammengefasst vor, dass die Eltern nunmehr, nämlich am 14. September 2011, in das Wohnhaus der väterlichen Großeltern übersiedelt sind. Am 19. September 2011 wurde der mj D***** als zweites eheliches Kind der Eltern geboren. Zwischen dem Vater und der zuständigen Sozialarbeiterin besteht Gesprächsbereitschaft. Die Mutter musste eine Woche nach der Geburt in die psychiatrische Abteilung überstellt werden. Dort befindet sie sich nach wie vor. Von diesem Zeitpunkt an übernahm der Vater die Rolle des Versorgenden. Die Vater-Kind-Interaktion wurde als absolut positiv beobachtet. Ein Hinweis auf eine psychische Erkrankung des Vaters besteht nicht, allerdings ist noch ein genaueres psychodynamisches Gutachten erforderlich. Der mj D***** wurde am 16. Oktober 2011 nach Hause entlassen. Da die Entwicklung der häuslichen Situation noch nicht absehbar ist, stimmten die Eltern einer Ausübung der Pflege und Erziehung durch die väterlichen Großeltern im Rahmen der jugendwohlfahrtsrechtlichen Maßnahme der vollen Erziehung zu. Ab 18. Oktober 2011 wurde auch eine Familienintensivbetreuung installiert. Auch entwicklungsneurologische Kontrollen des Säuglings sind geplant.

Den in der Revisionsrekursbeantwortung gestellten Antrag, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben, begründet der Jugendwohlfahrtsträger damit, dass eine Rückführung von J***** unter Berücksichtigung der aktuellen familiären Situation für ihn - auch wegen des traumatisierenden Beziehungsabbruchs zur Kinderdorfmutter - gefährdend sei und überdies die sensible Phase des Unterbringungsversuchs des mj D***** gefährden könne.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Maßnahmen nach § 176 Abs 1 ABGB insbesondere die gänzliche oder teilweise Entziehung der Obsorge über das Kind, setzen eine Gefährdung des Kindeswohls durch den mit der Obsorge betrauten Elternteil voraus. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass eine solche Änderung der Obsorge nur angeordnet werden darf, wenn sie im Interesse des Kindes dringend geboten ist, wobei grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen ist (RIS-Justiz RS0048699; RS0047841).

2. In ebenfalls ständiger Rechtsprechung wird betont, dass aus dem Grundsatz der Familienautonomie den Familienmitgliedern die Obsorge solange gewahrt werden soll, als sich dies mit dem Kindeswohl verträgt. Die Beschränkung der Obsorge darf nur das letzte Mittel sein und nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist (8 Ob 304/00i; RIS-Justiz RS0048712).

3. Eine Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger darf gemäß § 213 ABGB nur erfolgen, wenn sich dafür nicht Verwandte oder andere nahestehende oder sonst geeignete Personen finden lassen. Die Eltern, Großeltern und Pflegeeltern haben auch nach § 145 ABGB Vorrang vor Dritten. Der Jugendwohlfahrtsträger soll vom Gericht daher nur subsidiär mit der Obsorge betraut werden (8 Ob 14/10g; 6 Ob 258/10z).

4. Die Vorinstanzen begründen ihre Entscheidung im Wesentlichen mit den Stellungnahmen des Jugendwohlfahrtsträgers, die aber in deutlichem Widerspruch zum im Verfahren eingeholten familienpsychologischen Sachverständigengutachten stehen. Das Erstgericht hat sich letztlich den Stellungnahmen des Jugendwohlfahrtsträgers angeschlossen, ohne ausreichend Feststellungen zu treffen, die erkennen lassen, worin konkret eine Kindeswohlgefährdung bei Belassung auch des Teilbereichs Pflege und Erziehung bei den Eltern zu erblicken wäre:

4.1 Die vom Erstrichter geschilderten psychischen Probleme der Eltern sind zwar nicht zu leugnen, betrafen aber zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Beschlussfassung im Wesentlichen längst vergangene Perioden: Die Mutter befand sich nach den Feststellungen des Erstgerichts in einem Remissionsstadium; sie erhielt eine leichte Medikation. Das Problem der Mutter liegt erkennbar in ihrer unterdurchschnittlichen Intelligenz. Sie wird aber übereinstimmend nicht nur von der Sachverständigen, sondern von allen übrigen mit der Pflegschaftssache befassten Personen als überaus bemüht und liebevoll beschrieben.

4.2 Auch der Vater bemüht sich nach dem Akteninhalt sichtlich um das Kind. Die Konflikte in der Ehe der Eltern gehören zumindest nach dem Akteninhalt der Vergangenheit an. Die bloße Befürchtung, dass entsprechende Konflikte auch in Zukunft auftreten könnten, rechtfertigen jedenfalls nicht eine Entziehung der Obsorge.

4.3 Letztlich verbleibt als bestehender Unsicherheitsfaktor die Tatsache, dass die Eltern, insbesondere die Mutter, wegen ihrer unterdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten, mit der Betreuungssituation des Kindes überfordert sein könnten. Das wird vom Erstrichter mit den Erfahrungen bei den begleiteten Besuchen begründet, die zeigen, dass die Eltern etwa beim Füttern und Windelwechseln nicht besonders geschickt sind, nicht wissen, wie sie sich mit dem Kind altersgerecht beschäftigen können und „Gefahrenquellen“ (beschrieben wurde etwa ein Beispiel, dass die Eltern nicht merkten, dass neben dem Kind eine heiße Tasse Schokolade stand) nicht richtig einschätzen können. Ob der Grund für das „Betreuungsdefizit“ vor allem beim Vater, der über eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügt, nicht zumindest auch darin liegt, dass ihm niemals die Gelegenheit gegeben wurde, sich tatsächlich um den seit Geburt fremduntergebrachten J***** zu kümmern, lässt sich nach den Feststellungen des Erstgerichts nicht beurteilen.

4.4 Auch die Schlussfolgerung des Erstgerichts, die väterliche Großmutter, die als Altenbetreuerin arbeitet, mit der Mutter gut auskommt und bereit ist, die Eltern zu unterstützen und dafür auch ihre - ohnedies flexiblen - Arbeitszeiten einzuschränken, mache einen „angespannten“ Eindruck, ist nicht objektiviert. Die grundsätzliche Erziehungsfähigkeit der väterlichen Großmutter wird nicht einmal vom Jugendwohlfahrtsträger geleugnet (vgl ON 72). Die Bedenken des Erstgerichts liegen in der Tatsache begründet, dass die väterliche Großmutter bei teilweiser Übertragung der Obsorge auf sie plant, das Kind im gemeinsamen Haushalt mit den Eltern zu betreuen. Warum das für das Kind nachteilig sein soll, lässt sich der Begründung der Vorinstanzen nicht entnehmen: Hier geht es nicht darum, dass sich die Eltern etwa lieblos oder gewalttätig zum Kind verhalten, sondern allenfalls darum, dass sie mit der konkreten Betreuungssituation überfordert sind. Warum eine Hilfestellung durch die väterliche Großmutter, sei es in der Form, dass sie den Eltern, sollte ihnen die Obsorge belassen bleiben, bei der Betreuung hilft, sei es, dass sie selbst die Obsorge im Teilbereich Pflege und Erziehung erhält, hinderlich sein soll, ist nicht ersichtlich.

4.5 Der Hinweis des Jugendwohlfahrtsträgers, das Kind habe sich in der Kinderdorffamilie eingelebt, die Kinderdorfmutter sei seine Hauptbetreuungsperson, schließt eine Rückführung in das Elternhaus nicht generell aus:

Nach dem Akteninhalt ist es zweifellos richtig, dass es dem Kind in der Kinderdorffamilie gut geht und dass die Kinderdorfmutter seine primäre Bezugsperson ist. Wollte man aber diesen Gesichtspunkt als allein ausschlaggebend erachten, müsste in Wahrheit die Situation bei jedem Kind, das in den ersten Lebensjahren gut fremduntergebracht ist, dazu führen, es dort zu belassen. Eine Rückübertragung einer bereits entzogenen Obsorge auf die Eltern käme dann nie in Betracht. Diese Vorgangsweise allerdings widerspricht den Intentionen des Gesetzgebers und den Anforderungen, die Art 8 EMRK stellt: Selbst dann, wenn bereits die Obsorge wegen Gefährdung des Kindeswohls entzogen werden musste, hat die Aufhebung einer Obsorgeübertragung an einen Dritten zu erfolgen, wenn gewährleistet ist, dass keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes besteht. Dabei stehen nur solche zu erwartenden Beeinträchtigungen einer Rückführung des Kindes entgegen, die als nicht bloß vorübergehende Umstellungsschwierigkeiten zu werten sind, sondern eine konkrete, ernste Gefahr für die Entwicklung des Kindes bedeuten würden (5 Ob 103/10y). Das hat auch für den vorliegenden Fall zu gelten, bei welchem eine Obsorgeübertragung an den Jugendwohlfahrtsträger erst im Raum steht und jedenfalls nach der bisherigen Aktenlage keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls ohne diese Obsorgeübertragung bestehen.

5. Schon aus diesen Gründen kommt eine Bestätigung der angefochtenen Entscheidung nicht in Betracht. Darüber hinaus sind die vom Jugendwohlfahrtsträger in der Revisionrekursbeantwortung vorgetragenen Tatsachen bei der Entscheidung zu berücksichtigen:

5.1 Das gemäß § 66 Abs 2 AußStrG im Revisionsrekursverfahren an sich geltende Neuerungsverbot (RIS-Justiz RS0119918) ist im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls insofern durchbrochen, als der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RIS-Justiz RS0048056 [T1]; RS0106313; RS0106312).

5.2 Eine solche wesentliche Änderung der Tatsachengrundlage (gemeinsamer Wohnsitz der Eltern mit den väterlichen Großeltern, Geburt eines weiteren Kindes, neuerliche Erkrankung der Mutter, Kooperationsbereitschaft des Vaters, positive Interaktion des Vaters mit dem Neugeborenen, gemeinsamer Haushalt des Vaters und des Neugeborenen bei den väterlichen Großeltern; Ausübung der Pflege und Erziehung durch die Großeltern mit Zustimmung der Eltern) zeigt die Revisionsrekursbeantwortung des Jugendwohlfahrtsträgers auf.

5.3 Die Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen ist daher unumgänglich. Das Erstgericht muss sich im fortgesetzten Verfahren mit diesen neuen Umständen auseinandersetzen:

Zunächst bedarf es einer Überprüfung der derzeitigen häuslichen Situation des Vaters und des mj D*****. Allenfalls wird das bereits eingeholte familienpsychologische Gutachten dahin zu ergänzen sein, ob die Geburt eines weiteren Kindes und dessen Betreuung im Haushalt der väterlichen Großeltern zu einer geänderten Beurteilung in Ansehung von J***** führt. Dabei ist auch der aktuelle Gesundheitszustand der Mutter zu berücksichtigen, aus dem sich ergeben könnte, dass derzeit nur der Vater zur Ausübung der Pflege und Erziehung befähigt ist. Sollte das Erstgericht auch nach Ergänzung der Tatsachengrundlagen erneut zum Ergebnis gelangen, dass die Eltern (der Vater allein) nicht in der Lage sind, dem Wohl von J***** entsprechend für seine Pflege und Erziehung zu sorgen, wird es zu überprüfen haben, ob die väterliche Großmutter trotz der geänderten Situation (Betreuung eines Säuglings in ihrem Haushalt) nach wie vor bereit und fähig ist, allenfalls gemeinsam mit dem väterlichen Großvater auch die Pflege und Erziehung von J***** zu übernehmen. Mit den Beteiligten wird - unter Einbeziehung des Jugendwohlfahrtsträgers - schließlich die Möglichkeit zu erörtern sein, nach dem Vorbild des mj D***** vorzugehen (Ausübung der Pflege und Erziehung durch die väterlichen Großeltern mit Zustimmung der Eltern im Rahmen der jugendwohlfahrtsrechtlichen Maßnahme der vollen Erziehung iSd § 28 JWG - vgl dazu Kathrein in Klang³ § 215 ABGB Rz 19 mwN).

Im Hinblick darauf, dass J***** im dritten Lebensjahr steht und seit Geburt fremduntergebracht ist, wird zur Vermeidung von erfahrungsgemäß mit Fortschreiten der Zeit immer größer werdenden Anpassungsproblemen bei Änderung der Betreuungssituation das Verfahren zu beschleunigen sein.

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