OGH 8Ob304/00i

OGH8Ob304/00i11.1.2001

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Petrag als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Langer, Dr. Rohrer, Dr. Spenling und Dr. Kuras als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Angelo O*****, wegen Entziehung der Pflege und Erziehung gemäß § 176 ABGB, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Marion O***** gegen den Beschluss des Landesgerichtes Leoben als Rekursgericht vom 25. Oktober 2000, GZ 2 R 315/00y-51, mit dem dem Rekurs der Mutter gegen den Beschluss gegen das Bezirksgericht des Judenburg vom 15. September 2000, GZ 6 P 2994/95p-48, nicht Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Mit Beschluss vom 7. Dezember 1993 wurde die im Zusammenhang mit der Scheidung der Ehe der Eltern gemäß § 55a EheG vereinbarte Übertragung der Obsorge für den ehelichen minderjährigen Angelo O***** an die Kindesmutter pflegschaftsbehördlich genehmigt und dieser lebte dann im Haushalt seiner Mutter.

Im Juni und Juli 1998 teilte die Staatsanwalt Leoben dem Pflegschaftsgericht mit, dass Anzeigen wegen versuchten Diebstahles und Sachbeschädigung aus dem Grund des § 4 Abs 1 Jugendgerichtsgesetz gemäß § 90 StPO zurückgelegt wurden. Eine inhaltsgleiche Mitteilung erfolgte dann im September 1998, und zwar wegen des Vergehens des Diebstahls.

Im Jänner 1999 ersuchte dann der Jugendwohlfahrtsträger unter Hinweis darauf, dass bei dem Minderjährigen Verwahrlosungstendenzen vorliegen, das Gericht, die Kindesmutter zu belehren, die Termine bei der Jugendwohlfahrtsbehörde pünktlich wahrzunehmen und die angebotenen Hilfestellungen zum Wohl des Kindes anzunehmen. Dem lag zugrunde, dass der Minderjährige verdächtig war, seiner Lehrerin S 1.000,-- entwendet zu haben und eine Zusammenarbeit mit der Mutter wegen der Nichteinhaltung der Termine nicht möglich war. Nachdem dann die Kindesmutter am 26. 1. 1999 vom Gericht belehrt wurde, erschien sie jedoch am 11. 2. 1999 erneut nicht zu einem Beratungstermin beim Jugendwohlfahrtsträger. Allerdings war sie dann Ende Mai 1999 bereit, die Erziehungshilfe anzunehmen und es wurde vom Erziehungshelfer in seinem Erstbericht nach 2 Monaten ihr Bemühen um gute Zusammenarbeit festgehalten, jedoch auch, dass es für sie schwierig sei, sich an seine strukturellen Vorgaben sowie jene der Schule zu halten. Sie habe wiederholt die mangelnde Einhaltung von Terminen mit fadenscheinigen Entschuldigungen begründet. Der Leidtragende sei der Minderjährige. Er habe etwa an Schulausflügen nicht teilnehmen können, weil die Kindesmutter verschlafen hatte. Sie scheine das Beste für den Minderjährigen zu wollen, jedoch fehle es ihr an Konsequenz und Kontinuität, ohne die der Minderjährige in die Gefahr laufe, grenzen- und richtungslos zu werden. Im November 1999 schien die Erziehungshilfe die ersten Früchte zu tragen. Der Erziehungshelfer teilte jedoch dann im Februar 2000 mit, dass sich die Zusammenarbeit mit der Kindesmutter erneut schwierig gestalte. Sie zeige sich zwar im Gespräch kooperativ und verständnisvoll, verwirkliche dies jedoch nicht. Der Minderjährige sei insbesondere zu Mittag unterversorgt, habe aber meist großen Hunger und sei in der Freizeit ausschließlich sich selbst überlassen. Auch um die schulischen Angelegenheiten kümmere sich die Mutter nicht. In weiterer Folge fanden drei Gespräche zwischen der Mutter und dem Jugendwohlfahrtsträger statt. Eines davon hat die Mutter nach dem Vorhalt einer unzureichenden Grundversorgung aufgebracht verlassen. In der Schule wird der Minderjährige in der Klassengemeinschaft angenommen, sucht jedoch kaum Kontakt mit den Mitschülern und arbeitet nur mangelhaft mit. Seine Leistungen entsprachen den Mindestanforderungen obwohl er auf Grund seiner Intelligenz ein guter Schüler sein könnte. Er wirkte auch oft ungepflegt und verwahrlost. Die Mutter versprach insoweit Mithilfe zur Verbesserung. Am 29. 5. 2000 wurde dann erneut eine Anzeige gegen den Minderjährigen wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls von der Staatsanwaltschaft gemäß § 90 StPO auf Grund des § 4 Abs 1 JGG zurückgelegt. Daraufhin stellte der Jugendwohlfahrtsträger am 27. 7. 2000 den Antrag, der Kindesmutter die Obsorge in den Teilbereichen Pflege- und Erziehung zu entziehen und diese auf den Jugendwohlfahrtsträger zu übertragen. Die Kindesmutter trat diesem Antrag entschieden entgegen, bestritt die mangelnde Versorgung und führte auch aus, dass der Minderjährige gegen einen Wechsel der Obsorge sei.

Das Erstgericht entzog der Kindesmutter die Obsorge in den Teilbereichen Pflege und Erziehung und gründete dies rechtlich darauf, dass es genüge, dass die Eltern objektiv durch ihr Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden. Auf Grund des festgestellten Sachverhaltes sei davon auszugehen, dass die Chancen des Minderjährigen auf ein ordentliches Fortkommen derzeit gering seien. Um der bereits begonnenen Fehlentwicklung entgegenzuwirken sei es erforderlich, der Mutter die Obsorge in den Teilbereichen Pflege und Erziehung zu entziehen und dem Jugendwohlfahrtsträger zu übertragen. Die Mutter sei zwar kooperationsbereit, zeige jedoch keine konsequente Durchführung. Zum Wohl des Minderjährigen sei diese Entscheidung auch gegen den Willen der Mutter und des Minderjährigen erforderlich.

Das Rekursgericht gab dem gegen diesen Beschluss erhobenen Rekurs der Mutter nicht Folge. Es ging davon aus, dass der Minderjährige klare Strukturen, Regeln und Grenzen sowie Verläßlichkeit, Fürsorge und Liebe erfahren müsse, diese Voraussetzungen aber von seiner Mutter nicht erfüllt werden könnten, da sie nicht die nötige Konsequenz aufbringe. Der Minderjährige drohe in der Hauptschule zu versagen und in kriminelles Verhalten abzugleiten. Von der Mutter könne eine Gegensteuerung nicht erwartet werden.

Den ordentlichen Revisionsrekurs erachtete das Rekursgericht mangels erheblicher Rechtsfrage im Sinn des § 14 Abs 1 AußStrG als nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diesen Beschluss erhobene außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig und auch berechtigt.

Der Oberste Gerichtshof betont in ständiger Rechtsprechung, dass aus dem Grundsatz der Familienautonomie den Familienmitgliedern die Obsorge so lange gewahrt bleiben soll, als sich dies mit dem Kindeswohl verträgt. Die Beschränkung der Obsorge darf nur das letzte Mittel sein und nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist. Diese Maßnahmen sollen auch nur gesetzt werden, wenn sie erfolgversprechend sind (vgl Schwimann in Schwimann ABGB2 § 176a Rz 3). Hat doch der Gesetzgeber in § 176b ABGB den Grundsatz der Familienautonomie ausdrücklich festgehalten und festgelegt, dass die Obsorge nur soweit beschränkt werden darf, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes nötig ist. Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl Stabentheiner in Rummel ABGB3 § 176 - 176b Rz 1a mwN). Nur aus schwerwiegenden Gründen darf das Gericht von solchen Vorkehrungen Gebrauch machen (vgl RIS-Justiz RS0048712 = insb 1 Ob 579/92 uva). Dann reicht allerdings schon die objektive Nichterfüllung oder Vernachlässigung der elterlichen Pflichten aus (vgl RIS-Justiz RS0048684 = insb 5 Ob 626/83 uva; RS0048633 = insbesondere SZ 53/142, SZ 65/84, SZ 69/20 uva). Stets ist aber die offenkundige Gefährdung des Kindeswohles und die Notwendigkeit der Änderung des bestehenden Zustandes Voraussetzung für solche Eingriffe (vgl RIS-Justiz RS0085168 = insb 6 Ob 639/95 uva). Für die Unterbringung bei einem Dritten muss ein Erziehungsnotstand vorliegen, bei dem die Eltern für das Kind überhaupt nicht oder so unzulänglich sorgen, dass das Wohl des Kindes oder der Allgemeinheit gefährdet wird (vgl RIS-Justiz RS0047961 = insb SZ 51/112 uva). Insgesamt ist zwar bei der Frage der Entziehung der Elternrechte der Wunsch des Kindes allein nicht entscheidend (vgl EFSlg 51.301), jedoch ist dieser Wunsch bei entsprechendem Alter des Kindes doch zu berücksichtigen (vgl EFSlg 81134). Die Vorinstanzen sind von diesem Grundsatz der Familienautonomie abgewichen.

Der bis jetzt allein objektivierte Umstand, dass die Mutter des Kindes fallweise Termine beim Jugendwohlfahrtsträger nicht einhielt, der Minderjährige teilweise schulische Hausaufgaben nicht erledigte und von der Staatsanwaltschaft verschiedene Strafanzeigen zurückgelegt wurden, ohne dass überhaupt festgestellt wurde, dass der Minderjährige die ihm zur Last gelegten Handlungen tatsächlich begangen hat, lässt nicht auf eine derart konkrete Gefährdung des Kindeswohles schließen, die gegen den Willen von Mutter und Kind eine Änderung des bestehenden Zustandes schon in der Form der Entziehung der Pflege und Erziehung erfordern würde. Die weiteren Ausführungen des Erstgerichtes zur mangelnden Betreuung stellen sich weitgehend nur als Wiedergabe eines Berichtes des Erziehungshelfers dar, ohne dass das Erstgericht konkrete eigene und präzisierte Feststellungen, insbesondere auch zu den Betreuungsmöglichkeiten der Mutter und einer Unterstützung durch den Jugendwohlfahrtsträger getroffen hätte. Auch eine konkrete Gefährdung der Möglichkeit des Minderjährigen, die Hauptschule erfolgreich zu absolvieren, wurde bisher - etwa durch Einholung eines entsprechenden Sachverständigengutachtens - nicht festgestellt. Da also ungeklärt blieb, inwieweit nun tatsächlich eine konkrete Beeinträchtigung des Kindeswohles durch die Kindesmutter zu befürchten (vgl dazu auch OGH 27. 9. 2000, 7 Ob 174/00i) und die Entziehung der Erziehung und Pflege zur Abwendung dieser Gefährdung geeignet ist, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht eine Ergänzung des Verfahrens aufzutragen.

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