European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0030OB00028.15M.0421.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung
Der Beklagte wurde mit rechtskräftigem Urteil vom 24. Jänner 2007 wegen des zwischen 1986 und 1996 begangenen Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauches von Unmündigen und des Verbrechens der Unzucht mit Unmündigen nach den §§ 206 und 207 StGB, begangen an seiner Tochter, der Klägerin, verurteilt. Er wurde vom Geschworenengericht auch schuldig gesprochen, ihr (als Privatbeteiligte) ein Schmerzengeld in der geforderten Höhe von 12.100 EUR zu bezahlen. Die Klägerin begehrt (weiteres) Schmerzengeld von ihrem Vater, und zwar zuletzt ‑ nach Abzug des Privatbeteiligtenzuspruchs ‑ 65.000 EUR. Sie leide nunmehr an einer ‑ im Strafverfahren noch nicht eingetretenen ‑ andauernden Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung. Weiters erhob sie ein Feststellungsbegehren für sämtliche künftigen missbrauchskausalen Schäden. Die Vorinstanzen erachteten ein global bemessenes Schmerzengeld von 55.000 EUR als angemessen, wovon 14.400 EUR an valorisiertem Privatbeteiligtenzuspruch abgezogen und 40.600 EUR zugesprochen wurden.
Die außerordentliche Revision des Beklagten hält seinen Einwand der entschiedenen Rechtssache aufrecht und macht geltend, es fehle an den Voraussetzungen einer nachträglichen neuen Globalbemessung, weil die Persönlichkeitsänderung der Klägerin schon im Strafverfahren erkennbar gewesen sei. Es bedürfe der Klärung der Kriterien einer globalen Ausmessung des Schmerzengeldes im Fall einer missbrauchskausalen Persönlichkeitsänderung. Die Vorinstanzen hätten (im Vergleich zu zweitinstanzlichen Zusprüchen) nicht alle relevanten Umstände ausreichend berücksichtigt und es mangle ‑ wegen nicht beurteilbarer Dauerfolgen ‑ an den Voraussetzungen für das Feststellungsbegehren.
Rechtliche Beurteilung
Dem ist kurz zu erwidern (§ 510 Abs 3 ZPO):
1. Das Erstgericht ist der Einrede des Beklagten, der Privatbeteiligtenzuspruch an Schmerzengeld von 12.100 EUR rechtfertige den Einwand, dass der vorliegenden Klage auf weiteres Schmerzengeld das Prozesshindernis der entschiedenen Rechtssache entgegenstehe und diese deshalb zurückzuweisen sei, nicht gefolgt. Das Berufungsgericht bestätigte diese Rechtsansicht nach Auseinandersetzung mit den dagegen vorgetragenen Argumenten des Beklagten (wenn auch nicht durch einen Beschluss auf Verwerfung der [in Wahrheit erhobenen] Nichtigkeitsberufung aber doch), in der Begründung des Berufungsurteils.
Ist das Berufungsgericht in die Prüfung der Frage einer allfälligen im Verfahren erster Instanz unterlaufenen Nichtigkeit eingegangen und hat eine solche verneint, ist die Wahrnehmung dieser Nichtigkeit im Verfahren dritter Instanz nicht mehr möglich. Eine solche vom Berufungsgericht im Spruch oder den Entscheidungsgründen verneinte Nichtigkeit stellt nach ständiger Rechtsprechung eine den Obersten Gerichtshof bindende, nicht weiter anfechtbare Entscheidung dar (RIS‑Justiz RS0042981 uva; Zechner in Fasching/Konecny ² IV/1 § 519 Rz 49 mwN; E. Kodek in Rechberger 4 § 503 ZPO Rz 2 mwN).
Eine Auseinandersetzung mit den vom Beklagten neuerlich angesprochenen Fragen der prozessualen Wirkungen des Privatbeteiligtenzuspruchs ist dem Obersten Gerichtshof daher verwehrt.
2. Die Zulässigkeit einer ergänzenden Schmerzengeldbemessung ist ‑ nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ‑ im Folgeprozess zu beurteilen (2 Ob 240/10y mwN RIS‑Justiz RS0031235 [T3, T4] RS0031082 [T17]), also im vorliegenden Prozess. Selbst wenn man im Sinn der außerordentlichen Revision davon ausgehen wollte, der Privatbeteiligtenzuspruch stelle eine Globalbemessung dar, wäre für den Beklagten nichts gewonnen.
2.1. Eine ergänzende Schmerzengeldbemessung wird nach der Judikatur nämlich ua dann zugelassen, wenn
der Kläger nachweist, dass ihm gegenüber dem Vorprozess und der dort vorgenommenen Globalbemessung weitere, aus der damaligen Sicht nicht abschätzbare Schmerzbeeinträchtigungen entstanden sind (3 Ob 241/10b; 2 Ob 240/10y uva; RIS‑Justiz RS0031235; RS0031056). Dafür kommt es auf die objektive Voraussehbarkeit an;
ein subjektiver Irrtum des Geschädigten ist nicht zu berücksichtigen (2 Ob 78/03i; RIS‑Justiz RS0034547). Das heißt allerdings nicht, dass auf die Vorhersehbarkeit für Sachverständige bei einer ex-post-Betrachtung im Sinn einer „absoluten Wahrheit“ abzustellen wäre. Maßgebend ist vielmehr, ob dem Geschädigten objektiv alle für das Entstehen des Anspruchs maßgebenden Tatbestände bekannt gewesen sind (2 Ob 78/03i; 2 Ob 8/05y).
Ob eine Globalbemessung im Vorprozess möglich war, ist ebenso wie die Voraussehbarkeit künftiger Schäden eine Frage, die nach den Gegebenheiten des Einzelfalls zu lösen ist (2 Ob 240/10y mwN; RIS‑Justiz RS0111272) und deshalb grundsätzlich keine erhebliche Rechtsfrage verwirklicht.
2.2. Nach dem im Strafverfahren eingeholten Gutachten soll die posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin Ende 2006/Anfang 2007 bereits weitgehend abgeklungen gewesen sein; (gemeint: weitere) Dauerfolgen seien nicht aufgetreten. Im Fall der Klägerin ist daher davon auszugehen, dass ihr im Strafverfahren alle für das Entstehen des (gesamten) Anspruchs maßgebenden Tatbestände nicht bekannt waren. Eine Verpflichtung der Klägerin, dieses Gutachten eines gerichtlichen Sachverständigen zu hinterfragen, macht ‑ zu Recht ‑ nicht einmal der Beklagte geltend. Vielmehr durfte das Berufungsgericht vertretbar von einem für die Klägerin als Geschädigte nicht vorhersehbaren Folgeschaden ausgehen.
2.3. Da es ‑ wie bereits dargelegt ‑ auf die Vorhersehbarkeit für den Sachverständigen des Vorprozesses (iSe „absoluten Wahrheit“) nicht ankommt, bedurfte es auch keiner Feststellungen zur bereits im Strafverfahren gegebenen Erkennbarkeit der bei der Klägerin eingetretenen Persönlichkeitsänderung für den Vorgutachter.
Es ist nicht wesentlich, ob das zusätzliche Krankheitsbild erst nachträglich (nach Abschluss des Strafverfahrens) aufgetreten ist; ist es doch unbestritten nicht nur bei der seinerzeit angenommenen, weitgehend abgeklungenen posttraumatischen Belastungsstörung geblieben, weil sich daraus ‑ für die Klägerin im Zeitpunkt der Erstbemessung unvorhersehbar ‑ eine andauernde Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung als Dauerfolge entwickelt hat, die bei der Erstbemessung unberücksichtigt blieb, mit der die Klägerin in Zukunft aber wird leben müssen.
2.4. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, eine ergänzende Schmerzengeldbemessung sei zulässig, bedarf somit keiner Korrektur.
3. Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach zu Schmerzengeldansprüchen nach sexuellem Missbrauch Stellung genommen.
3.1. Demnach ist unter Bedachtnahme auf die durch den Eingriff in die körperliche und geistige Unversehrtheit des Klägers entstandene Persönlichkeitsminderung und vor allem das Maß der psychischen Beeinträchtigung des Gesundheitszustands des Opfers maßgebend (9 Ob 147/00h; 9 Ob 78/99g). Es soll der gesamte Komplex der Schmerzempfindungen erfasst werden; das Schmerzengeld ist nicht nach festen Tagessätzen zu berechnen, sondern nach Art, Dauer und Intensität der Schmerzen und den damit verbundenen Unlustgefühlen als Globalsumme unter Berücksichtigung des Gesamtbilds der physischen und psychischen Schmerzen auszumitteln (7 Ob 160/09v mwN). Auch in Fällen sexuellen Missbrauchs ist auf die Umstände des Einzelfalls Bedacht zu nehmen (RIS‑Justiz RS0108277 [T2]; RS0031173 [T4 und T5]),
sodass generell gültige Richtwerte vom Obersten Gerichtshof nicht festgelegt werden können (vgl RIS‑Justiz RS0042887 [T11]; RS0122794 [T3]). Die Beurteilung der Höhe des angemessenen
Schmerzengeldes ist eine Frage des
Einzelfalls, die in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO begründet. Anderes gilt nur im Fall einer eklatanten Fehlbemessung, die aus dem Rahmen der oberstgerichtlichen Rechtsprechung fällt (RS0042887 [T10]).
3.2. Eine eklatante Überschreitung des richterlichen Ermessens bei der Bestimmung des Schmerzengeldanspruchs der Klägerin durch die Vorinstanzen vermag der Beklagte schon deshalb nicht aufzuzeigen, weil er es unterlässt, den seines Erachtens angemessenen Betrag zu nennen. Schon deshalb gelingt ihm die Darstellung einer erheblichen Rechtsfrage nicht.
3.3. Im Hinblick auf die missverständlichen Ausführungen des Berufungsgerichts zur Berechtigung des Feststellungsbegehrens (wonach Langzeitschäden zu erwarten, aber noch nicht quantifiziert werden könnten) ist allerdings klarzustellen, dass die vom Erstgericht vorgenommene Globalbemessung auch die festgestellten Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit der Persönlichkeitsänderung der Klägerin erfasst, die in Zukunft auftreten werden, also nicht nur bis Schluss der Verhandlung im Prozess am 1. Juli 2014 (vgl den Hinweis in der Begründung des Zuspruchs auf die künftige Beeinträchtigung ihres Alltagslebens, die noch Jahrzehnte dauern könne [Ersturteil S 9 unten]).
4. Der Beklagte interpretiert die (dislozierte) Feststellung im Ersturteil, ein Endzustand im Sinn einer völligen Heilung sei noch nicht eingetreten (Ersturteil S 10 oben), entsprechend den Ausführungen der Sachverständigen, dass „Spätfolgen nicht zu erwarten sind, in dem Sinn, dass keine neuen Symptome auftreten werden“. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs reicht jedoch der bloße Umstand, dass Spät‑ oder Dauerfolgen „nicht zu erwarten“ sind, zur Verneinung des Feststellungsinteresses nach § 228 ZPO nicht aus (RIS‑Justiz RS0038976 [T21] und [T28]). Daher erweckt die Argumentation der Revision auch keine Zweifel an der Berechtigung des Feststellungsbegehrens.
5. Der Beklagte macht somit keine erheblichen Rechtsfragen geltend, weshalb seine außerordentliche Revision als nicht zulässig zurückzuweisen ist.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)