OGH 10ObS104/14p

OGH10ObS104/14p25.11.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Werner Rodlauer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Horst Nurschinger (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei I*****, vertreten durch Mag. Hermann Stenitzer‑Preininger, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert‑Stifter‑Straße 65, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Integritätsabgeltung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 9. Juli 2014, GZ 7 Rs 22/14f‑38, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Zwischenurteil des Landesgerichts Leoben als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 22. Jänner 2014, GZ 21 Cgs 82/12z‑34, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:010OBS00104.14P.1125.000

 

Spruch:

1) Die Revisionsbeantwortung der beklagten Partei wird zurückgewiesen.

2) Der Revision der klagenden Partei wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Zwischenurteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Entscheidungsgründe:

Der Kläger erlitt als Forstarbeiter im Betrieb des H***** am 18. 9. 2008 einen Arbeitsunfall. Er bediente einen Radbagger Case Poclain 988 Power Sensor (in der Folge: Radbagger), an dem ein Harvester Woody H 60 der K***** GmbH (in der Folge: Harvesterkopf) montiert war. Diese kombinierte Maschine wird in der Folge als Prozessor bezeichnet. Der Kläger konnte mit dem Prozessor Baumstämme anheben (Greifer am Harvesterkopf, Kranarm des Radbaggers), entasten (Harvesterkopf) und in die benötigte Länge schneiden (Kettensäge am Harvesterkopf) sowie ablegen. Die Kabine des Prozessors war mit einer konventionellen Sicherheitsverglasung (Windschutzscheibe) ausgestattet. Als der Kläger am 18. 9. 2008 Windwurfholz aufarbeitete, riss die Kette der Kettensäge am Harvesterkopf. Teile der Kette durchschlugen die Windschutzscheibe („Kettenschuss“), gelangten in die Fahrerkabine, drangen in den Hals des Klägers ein und verletzten diesen schwer. Als Dauerfolge besteht eine hochgradige Querschnittlähmung.

Mit Urteil des Landesgerichts Leoben vom 17. 11. 2011, 9 Bl 44/11t, wurde H***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB iVm § 2 StGB schuldig erkannt. Er hat demnach den Kläger fahrlässig am Körper verletzt, indem er es entgegen ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmungen, nämlich §§ 4 und 35 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz, als Verantwortlicher seines Holzschlägerungsunternehmens unterließ, beim Radbagger eine „Lexan‑Scheibe“ (= Polycarbonatverglasung) einbauen zu lassen, wodurch ein Glied der Kette der Kettensäge die Windschutzscheibe durchschlagen konnte, wobei die Verletzung an sich schwer war.

Die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt gewährt dem Kläger aufgrund der Folgen dieses Arbeitsunfalls seit 1. 8. 2010 die Vollrente als Dauerrente.

Mit Bescheid vom 23. 3. 2012 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Integritätsabgeltung wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 18. 9. 2008 ab.

Mit der gegen diesen Bescheid rechtzeitig erhobenen Klage begehrt der Kläger die Zuerkennung einer Integritätsabgeltung im gesetzlichen Ausmaß im Wesentlichen mit der Begründung, der Arbeitsunfall vom 18. 9. 2008 sei auf die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften zurückzuführen. Der Einbau einer Polycarbonatverglasung anstelle der vorhandenen Windschutzscheibe hätte eine höhere Sicherheit bewirken können, weil diese das Eindringen des Kettengliedes verhindern hätte können. Jedenfalls aber wäre das Kettenglied so weit abgebremst worden, dass eine wesentlich geringere Verletzung eingetreten wäre. Der Prozessor habe nicht dem Stand der Technik entsprochen. H***** habe es auch unterlassen, eine Gefahrenanalyse durchzuführen. Bei dieser wäre die Gefahr und der Stand der Technik erhoben worden. H***** habe die Aufforderung der K***** GmbH ignoriert, für eine sichere Verglasung zu sorgen. Dies begründe seine grobe Fahrlässigkeit. H***** habe auch die enorme Gefahrenquelle gekannt, doch habe er die Arbeitnehmer nicht ausreichend und falsch unterwiesen. Ein Bedienfehler des Klägers liege nicht vor.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete im Wesentlichen ein, der Arbeitsunfall sei nicht durch grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften, sondern durch einen Bedienfehler des Klägers verursacht worden. Insbesondere habe der Kläger gegen die Sicherheitsvorschriften des Bedienungshandbuchs verstoßen, nach welchen nicht gesägt werden dürfe, wenn die Sägeschiene auf die Kabine oder auf Menschen zeige. Der Kläger habe schon mehr als vier Jahre mit dem Prozessor gearbeitet. Ihm habe daher bewusst sein müssen, dass seine Art der Bedienung gegen Arbeitnehmerschutzvorschriften verstoßen habe und hoch gefährlich gewesen sei. Gemäß § 1 Abs 2 der Richtlinien über die Leistung einer Integritätsabgeltung bestehe kein Anspruch, wenn der Versehrte selbst grob fahrlässig gehandelt habe.

Der Prozessor habe dem Stand der Technik entsprochen, da zur Unfallszeit nicht gesetzlich angeordnet gewesen sei, eine „Lexan‑Scheibe“ einzubauen. H***** habe alle Mitarbeiter unterwiesen. Auch der Kläger, der schon vier Jahre mit dem Prozessor gearbeitet habe, habe genau gewusst, wie er zu bedienen sei. Die Gefahrenanalyse sei mündlich erfolgt. Die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts sei derart gering gewesen, dass schon deshalb eine grobe Fahrlässigkeit nicht angenommen werden könne.

Das Erstgericht erkannte mit Zwischenurteil den Anspruch des Klägers auf Integritätsabgeltung für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 18. 9. 2008 als dem Grunde nach zu Recht bestehend. Es traf über den bereits eingangs dargestellten Sachverhalt hinaus noch folgende weitere Feststellungen:

H***** ist seit 1989 selbständiger Forstunternehmer. Seit dem Jahr 2000 arbeitete er dabei mit Prozessoren. Die Abteilung „AUVA‑Sicher“ betreute den Betrieb des H***** als „Sicherheitsfachkraft“. Das Arbeitsinspektorat Leoben stellte am 22. 8. 2003 fest, dass im Betrieb des H***** Vorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer nicht beachtet wurden und trug H***** auf: „1.) Gemäß § 4 ASchG sind Gefahren am Arbeitsplatz zu ermitteln und zu beurteilen und gegebenenfalls Maßnahmen zu treffen. Frist drei Wochen; 2.) Es sind Sicherheits‑ und Gesundheitsschutzdokumente gemäß § 5 ASchG zu erstellen (Dokumentation der Ergebnisse von § 4 ASchG = Evaluierung), Frist: drei Monate; 3.) Die Unterweisung der Arbeitnehmer hat nachweislich zu erfolgen (§ 14 ASchG), Frist: Nächste Unterweisung).“

H***** kaufte den Radbagger im Jahr 2006, um einen Harvesterkopf zu montieren und beides für Holzarbeiten zu verwenden. Der Radbagger war ein Erdbaugerät, das der Bewegung und dem Aushub von Erde diente und die vorgeschriebenen Kennzeichnungen für die Tätigkeit als Erdbaumaschine aufwies. Er war nach der Ö‑NORM EN 474 zugelassen; die Sicherheitsbestimmungen waren dementsprechend umgesetzt. Die Windschutzscheibe war eine konventionelle im Straßen‑ und Baustellenverkehr übliche Sicherheitsverglasung, die keinen geeigneten Schutz gegen einen Kettenschuss bot. Der Hersteller des Radbaggers stellte die Konformitätserklärung nach der Maschinen‑Sicherheitsverordnung für den Verwendungszweck „Erdbewegung“ aus. Die Betriebsanleitung des Radbaggers enthielt den Hinweis, dass alle vom Hersteller nicht genehmigten Umbauten oder Anpassungen die ursprüngliche Konformität des Geräts mit den Sicherheitsanforderungen in Frage stellen können. H***** holte keine Genehmigung des Herstellers des Radbaggers ein, einen Harvesterkopf zu montieren.

Die K***** GmbH produzierte den Harvesterkopf. Dieser kann zum Fällen, Entasten und Ablegen von Holz verwendet werden. Das bezeichnete Unternehmen stellte nur für diesen die Konformitätserklärung nach der Maschinen‑Sicherheitsverordnung aus. Der Harvesterkopf war mit einem Kettenfangbolzen und einem Kettenkasten ausgestattet. Der Kettenfangbolzen schützt gegen das Wegschleudern der Kette, solange diese nicht gerissen ist und sich im „endlosen“ Zustand befindet, nicht aber gegen das Wegschleudern von Kettenteilen (Kettenschuss). Der Kettenkasten gibt bei Kettenrissen nur Schutz, wenn sich die Säge in Bodennähe befindet und solange das Schwert im Kettenkasten ist. Der Kettenkasten gewährleistet aber keinen Schutz, wenn das Schwert beim Schneiden oder aufgrund eines geringen Stammquerschnitts schon vor dem Schneiden aus dem Kettenkasten austritt.

Die K***** GmbH baute den Radbagger für das Arbeiten mit dem Harvesterkopf zum Prozessor um. Bei der Einbaubesprechung im Sommer 2007 wies F*****, ein Mitarbeiter der K***** GmbH, H***** auf den Unfall in Kärnten 2006 mit einem Harvesterkopf der K***** GmbH und die Gefahr von Verletzungen durch einen Kettenschuss hin. Er wies auch darauf hin, dass damals ein Kettenglied durch die Verglasung eingedrungen und den Maschinenbediener verletzt habe. F***** erklärte H*****, es sollte daher eine Polycarbonatverglasung in der Stärke von 12 mm eingebaut werden, weil diese sicherer sei als die konventionelle Windschutzscheibe und das Eindringen von Kettengliedern verhindern könne. Die Frage des H*****, ob er dazu verpflichtet sei, beantwortete F*****, dass er „eine Verpflichtung dazu nicht vorlegen könne“. F***** wies H***** nicht darauf hin, dass er verpflichtet sei, eine solche Scheibe einzubauen, weil er keine verbindliche Vorgabe über die Stärke der Polycarbonatscheibe nachweisen konnte, obwohl ihm bekannt war, dass bei „echten“ Harvestern (Vollerntern) eine solche Verpflichtung bestand und schon damals 12 mm Polycarbonatverglasungen eingebaut wurden. H***** reagierte, er sei nicht mit dem Problem des Eindringens von Kettenteilen in die Fahrerkabine konfrontiert gewesen und lehnte den Einbau einer Polycarbonatverglasung ab, weil er befürchtete, diese könne leichter zerkratzen, sodass die Sicht behindert wäre. H***** erkundigte sich damals nicht weiter nach dem „Stand der Technik“. Der Unfall in Kanada 2004, bei dem eine 12 mm starke Polycarbonatscheibe von einem Kettenglied durchschlagen wurde, war F***** und H***** bei diesem Gespräch nicht bekannt. Beide wussten nicht, dass eine 12 mm starke Polycarbonatverglasung durchschossen werden konnte. Bei Gesprächen zwischen H***** und DI R***** (Mitarbeiter der AUVA) waren vor dem Arbeitsunfall des Klägers der Unfall in Kärnten 2006, der Unfall in Kanada 2004 und die Frage, ob Polycarbonatverglasungen Stand der Technik waren oder durchschossen werden konnten, kein Thema. H***** informierte sich darüber bei DI R***** nicht.

Die K***** GmbH baute im Juli 2007 den Harvesterkopf ein. Der Harvesterkopf und dessen Einbau kosteten insgesamt rund 75.000 EUR. Aufgrund des Auftrags des H***** wurde keine Polycarbonatverglasung in der Stärke von 12 mm eingebaut. Danach sollte der Radbagger für den Verwendungszweck „Holzernte“ eingesetzt werden. Durch den geänderten Verwendungszweck handelte es sich um eine „neue Maschine“, die der Maschinen‑Sicherheitsverordnung unterlag. Weder die K***** GmbH noch H***** veranlassten die Überarbeitung der Konformitätsbewertung. Die Konformitätsbewertung für das Zusammenfügen der Maschine zu einer Einheit (Prozessor) und die Risikobewertung beider Maschinen gemeinsam ist unterblieben. Die K***** GmbH übergab H***** den Prozessor mit einem Bedienerhandbuch, das unter anderem folgende Sicherheitsvorschriften enthielt:

„Niemals so sägen, dass die Sägeschiene auf die Kabine oder Menschen zeigt; sich niemals in der Reichweite der Säge aufhalten; Fahrer und umstehende Personen sollen stets damit rechnen, dass der Baum nicht in die gewünschte Richtung fällt; die Gefahrenzone der arbeitenden Maschine erstreckt sich über einen Umkreis von der zweifachen Länge des zu fällenden Baumes. Der Aufenthalt gilt erst in einer Entfernung von 70 m als sicher. Beim Entasten darf der Stamm niemals in Richtung Fahrerkabine aufgearbeitet werden.“

Dabei handelt es sich um rein organisatorische und keine technischen Sicherungsmaßnahmen.

Der Prozessor entsprach zur Unfallzeit nicht dem Stand der Technik. Die Ö‑NORM EN 14861 galt für selbstfahrende Forstmaschinen zum Fällen, Entasten und Aufarbeiten von Bäumen. Der Prozessor war dazu geeignet. Aus Ö‑NORM EN 14861 Punkt 4.2.2.3. ergab sich, dass die Bedienperson durch Polycarbonat oder eine vergleichbare Verglasung und/oder geeignete andere Schutzeinrichtungen vor Gefahren durch lose Ketten oder Kettenzähne sowie ähnliche Gefährdungen geschützt werden musste. Das Schutzziel war, dass Kettenteile nicht in die Kabine vordringen können. Der Kettenfangbolzen und der Kettenkasten schützten ‑ so wie sie konstruiert waren ‑ nicht vor der Gefahr durch wegfliegende Kettenteile.

Der Prozessor war mit einer nicht schusssicheren Windschutzscheibe ausgestattet. Stand der Technik war schon zur Unfallzeit eine (schusssichere) Polycarbonatverglasung in der Stärke von 32 mm oder eine vergleichbare Verglasung. Eine Polycarbonatverglasung in der Stärke von 32 mm hätte den Arbeitsunfall verhindert. Eine 12 mm starke Polycarbonatverglasung hätte die Sicherheit erhöht, weil sie die Verletzungswahrscheinlichkeit unter Umständen hätte verringern können. Die Aufprallfestigkeit von 8 mm starkem Polycarbonat entspricht derjenigen von 3 mm starkem Stahlblech. Es kann aber nicht festgestellt werden, dass eine 12 mm starke Polycarbonatverglasung den Arbeitsunfall jedenfalls verhindert hätte.

Bei einer regelgerechten Konformitätsbewertung nach der Maschinen‑Sicherheitsverordnung für die Verwendung des Prozessors zur Holzernte wäre der (damals) aktuelle Stand der Technik, insbesondere der aktuelle Stand der Normen, geprüft worden, wobei für den Prozessor mit dem Verwendungszweck „Holzernte“ die Ö‑NORM EN 14861 einschlägig gewesen wäre. Dabei wäre für H***** erkennbar gewesen, dass der Prozessor ohne Polycarbonatverglasung nicht betrieben werden durfte, keine Konformitätserklärung nach der Maschinen-Sicherheitsverordnung ausgestellt werden konnte und eine Polycarbonatverglasung eingebaut werden musste. Derartige Verglasungen sind keine Sonderanfertigung, sondern können direkt vom Lieferanten bezogen werden. Ihr Einbau kostet maximal 1.500 EUR. Nachteil der Polycarbonatverglasung ist nur, dass sie leichter zerkratzen als Glasscheiben. Sie müssen daher öfter gewechselt oder mit einer kratzfesten Schutzscheibe versehen werden. Es könnte auch Kristallpanzerglas als vergleichbare Verglasung eingesetzt werden.

Bis zum Arbeitsunfall hatte H***** den Prozessor nicht entsprechend § 4 ASchG evaluiert, keine Sicherheits‑ und Gesundheitsschutzdokumente (§ 5 ASchG) erstellt und keine Gefahrenanalyse entsprechend § 35 Abs 2 und 4 ASchG durchgeführt, obwohl ihm diese Verpflichtungen, der Unfall in Kärnten 2006 und die Gefahr eines Kettenschusses bekannt waren. Bei einer regelgerechten Ermittlung und Beurteilung der Gefahren für die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer (§ 4 ASchG) und/oder bei der regelgerechten Überprüfung der Sicherheits‑ und Gesundheitsschutzdokumente infolge von Unfällen bzw sonstigen Umständen und Ereignissen, die auf eine Gefahr für Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer schließen lassen (Kenntnis des Unfalls in Kärnten ‑ § 4 Abs 5 ASchG) und/oder bei einer regelgerechten Überprüfung des neuesten Stands der Technik und der Erkenntnisse auf dem Gebiet der Arbeitsplatzgestaltung (§ 3 Abs 2 ASchG) musste ein mit der Holzbringung befasster Unternehmer erkennen und wäre für H***** erkennbar gewesen, dass der Prozessor ohne Polycarbonatverglasung nicht dem Stand der Technik entsprach und eine schusssichere Polycarbonatverglasung oder eine vergleichbare Verglasung eingebaut werden musste und sich ein Kettenschuss entlang der Sägeschiene vor allem in Richtung der Antriebseinheit oder Schwertspitze lösen konnte.

Kettenrisse treten beim Betrieb eines Harvesters relativ häufig auf. H***** verwendet in seinem Betrieb acht Harvesterköpfe, wobei er pro Jahr 100 bis 130 Ketten verbraucht. Nicht jeder Kettenriss verursacht einen Kettenschuss. Der Arbeitsunfall war Folge eines Kettenschusses. Der Kettenschuss ist eine Folge eines Kettenrisses. Bei einem Kettenriss kommt es durch die hohe Kettengeschwindigkeit zu einem Peitscheneffekt an den Enden des Sägeblatts (der Sägeschiene) im Bereich des Antriebs oder der Schwertspitze. Dadurch können beim Aufschlagen der Kette am Harvesterkopf Kettenteile abgesprengt und ‑ vor allem ‑ in Schwertrichtung weggeschleudert werden; es gibt dabei aber keine eindeutige/n Schussrichtung/Schusswinkel. Es kann auch zu Treffern in die Kabine kommen, wenn die Sägeschiene beim Auslösen des Schnitts durch den Maschinenbediener von der Kabine weg zeigt, solange das Schwert beim Schnitt (beim Kettenschuss) auf die Kabine zeigt, was etwa durch das Pendeln des Harvesterkopfs möglich ist. Wie oft es tatsächlich zu einem Kettenschuss kommt, ist nicht bekannt. Branchenerhebungen haben ergeben, dass im Durchschnitt bei einer von 50 gebrochenen Ketten Teile als Folge eines Kettenschusses fehlten. Dass es immer wieder zu solchen Kettenschüssen kommt, ist im Forstbetrieb bekannt. Aus den Jahren 2004 und 2006 sind zwei Arbeitsunfälle durch Kettenschuss (tödlicher Unfall in Kanada 2004 und Bauchverletzung in Kärnten 2006) dokumentiert, wo Kettenteile direkt in die Kabine geschleudert wurden. Es kann nicht festgestellt werden, dass im Unternehmen des H***** schon vor dem Arbeitsunfall des Klägers ein Kettenschuss die Windschutzscheibe am Prozessor des Klägers zerstörte. Die Wahrscheinlichkeit eines Kettenschusses direkt in die Kabine und das Treffen des Maschinenbedieners kann mathematisch nicht quantifiziert werden. Ein Treffer des Maschinenbedieners ist mit sehr viel Unglück zu beschreiben und nur sehr gering wahrscheinlich. Bereits geringste Abweichungen der Schnittrichtung können die Schussrichtung entscheidend verändern. Bei der Risikoanalyse im Sinn des ASchG ist der Kettenschuss zu berücksichtigen. Ein hohes Risiko (Tod) bei geringer Eintrittswahrscheinlichkeit ist gleich zu behandeln wie ein niedriges Risiko (leichte Körperverletzung) bei hoher Eintrittswahrscheinlichkeit. Für beides ist vorzusorgen. Aufgrund der Gefährdung sind vorzugsweise technische vor organisatorischen Maßnahmen zu treffen. Organisatorische Maßnahmen sind dann zu treffen, wenn technische Maßnahmen nicht mehr möglich sind.

Der Kläger war seit 1992 als Forstarbeiter und seit 1999 bei H***** tätig. Er arbeitete mit Handmotorsägen, Traktoren und Seilwinden. Er erwarb durch diese Tätigkeiten Vorkenntnisse über die Maschinenbedienung. H***** schulte den Kläger im Jahr 2005 erstmals auf einen Prozessor ein. Die zusätzlichen hydraulischen Bedingungen für den Harvesterkopf musste der Kläger neu erlernen. H***** zeigte ihm einige Stunden lang die wesentlichen Bedienungsschritte und Funktionsweisen. Danach gab H***** ihm etwa ein Monat Zeit, um den Umgang mit dem Gerät zu lernen. In der Folge arbeitete der Kläger allein mit der Maschine. Er sollte ihre Funktionsweise nach und nach kennenlernen. H***** beauftragte F*****, der gleichzeitig mit dem Kläger den Umgang mit einem Prozessor erlernte, dem Kläger bei Fragen zu helfen, weil dieser meist in der Nähe des Klägers arbeitete. H***** erklärte dem Kläger bei der Einschulung, er müsse beim Schneiden den Prozessor im „unteren Bereich halten“ und dürfe nicht in Richtung der Kabine schneiden. H***** machte dem Kläger den Sicherheitshinweis im Bedienerhandbuch „nie so zu sägen, dass die Sägeschiene auf die Kabine oder Menschen zeigt“ nicht verständlich bekannt. Er erklärte dem Kläger, dass dabei die Antriebseinheit nicht auf die Kabine gerichtet sein darf. Er erklärte dem Kläger aber nicht, dass auch die Schwertspitze nicht auf die Kabine gerichtet sein darf.

H***** unterwies den Kläger oder seine Forstarbeiter nie nachweislich schriftlich. Regelmäßig wiederkehrende Unterweisungen über die Gefahr eines Kettenschusses und die dagegen notwendigen Abwehrmaßnahmen fanden nicht statt. Auch nachdem H***** bei der Einbaubesprechung im Sommer 2007 bei der K***** GmbH von dem Unfall mit Kettenschuss in Kärnten 2006 erfahren hatte, informierte er die Forstarbeiter und den Kläger nicht darüber. H***** unterwies die Forstarbeiter vor dem Arbeitsunfall des Klägers nicht über den Inhalt konkret betriebsbezogener Sicherheits‑ und Gesundheitsschutzdokumente. Er brachte dem Kläger das Bedienhandbuch des Harvesterkopfs nie verständlich in seiner Muttersprache zur Kenntnis. Ein Nachweis darüber existiert nicht. Das Bedienhandbuch des Harvesterkopfs enthielt den Sicherheitshinweis, niemals so zu sägen, dass die Sägeschiene auf die Kabine oder Menschen zeigt. Das Bedienhandbuch war dem Kläger und den weiteren Forstarbeitern des H***** nicht bekannt. Ein roter Warnaufkleber mit der Aufschrift „Achtung Lebensgefahr ‑ beim Arbeiten mit der Prozessorsäge darf die Schnittebene der Säge nicht im Bereich der Krankabine liegen! ‑ die vordere Kabinentür muss bei der Prozessorarbeit immer verschlossen sein!“ war vor dem Arbeitsunfall auf den Kabinenscheiben der Prozessoren des H***** nicht aufgeklebt.

Die Unfallstelle lag in einem Bannwald nahe E*****. H***** war beauftragt, dort Windwurfholz aufzuarbeiten. Die Arbeiten im Bannwald begannen etwa zwei Monate vor dem Arbeitsunfall. Die errichtete Stichstraße querte im Bereich der Unfallstelle im Wesentlichen einen etwa 45° steilen Berghang. Die Böschung unterhalb der Stichstraße war bewaldet. Oberhalb der Stichstraße stieg eine ebenso etwa 45° steile Böschung an. Der Seilkran stand fahrbahnparallel auf der Stichstraße. Die Fahrerkabine des Seilkrans wies auf den Prozessor des Klägers. P***** bediente den Seilkran. Der Prozessor des Klägers stand fahrbahnparallel auf der Stichstraße etwa 15 m weiter Richtung Tal. Der Seilkran barg das Holz aus dem Wald, der auf der etwa 45° steilen Böschung unter der Stichstraße lag. P***** lagerte das Holz auf der Böschung unmittelbar unter der Stichstraße im Bereich zwischen dem Seilkran und dem Prozessor. Das Zwischenlager war dabei unterhalb des Niveaus der Stichstraße. Der Kläger hob das Holz mit dem Prozessor aus dem Zwischenlager. Er musste es entasten, auf Länge schneiden und auf der Stichstraße ablagern. Dabei musste der Kläger den Prozessor um etwa 180° schwenken, wobei er den Harvesterkopf über die unterhalb der Stichstraße liegende, bewaldete Böschung führte. Längere Baumstämme konnte der Kläger im Wesentlichen nur parallel zur Forststraße bewegen. Beim Schwenken des Oberwagens um 180° veränderte sich daher die Position der Sägeschiene des Harvesterkopfs relativ zur Fahrerkabine, wobei die Spitze der Sägeschiene bergwärts zeigte. Diese Arbeitsweise hatte H***** dem Kläger vorgegeben. Der Kläger kannte die Gefahr eines Kettenschusses, nahm aber an, dass die Baustelle gut und richtig organisiert war und dort die Gefahr eines Kettenschusses in die Kabine nicht bestand, weil sich das Holz beim Bearbeitungsvorgang von der Kabine wegbewegte, er mit dem Harvesterkopf weit unterhalb der Fahrerkabine arbeitete, die Schwertspitze bergwärts und die Antriebseinheit am Harvesterkopf stets talwärts von der Kabine wegwies.

Das Transportlager befand sich auf der Stichstraße und erstreckte sich 5 bis 10 m weiter Richtung Tal. Der Kläger lagerte Holz dort ab, das er auf Länge schnitt. Bei der dabei notwendigen Schnittposition war die Sägeschiene des Harvesterkopfs von der Kabine weggedreht, sodass sie nicht Richtung Fahrerkabine zeigte. Das Ablängen konnte dabei auch automatisch erfolgen. Der Kläger entastete die Stämme neben dem Transportlager. Durch das Entasten in diesem Bereich häuften sich an der Böschung der Stichstraße neben dem Transportlager Äste. Im Zwischenlager war auch Windwurfholz, an dem die Bruchstellen noch vorhanden waren. Der Kläger musste solches Windwurfholz zunächst begradigen und führte den Begradigungsschnitt wie üblich im Bereich des Abfalllagers aus, um die Abschnitte darin aufzufangen und deren Abrollen in den darunterliegenden Wald zu vermeiden. Der Harvesterkopf befand sich dabei etwa auf der Höhe der Stichstraße und daher unterhalb der Fahrerkabine. Dabei war der Harvesterkopf aufgrund der 45° steilen Böschung „in der Luft“ und nicht „in Bodennähe“. Bei dieser Schnittposition konnte der Kettenkasten nicht gegen einen Kettenschuss schützen. Dies war für H***** auch erkennbar. H***** wies den Kläger nicht auf diese Gefahr hin. Der Begradigungsschnitt war nicht automatisch möglich. Der Kläger musste die Vorschubeinheit am Harvesterkopf manuell bedienen, um den Baumstamm in die richtige Schnittposition zu bringen. Dabei war es leichter, den Blickkontakt auf die Schwertspitze der Säge zu halten. Dadurch konnte der Kläger aber erkennbar in den Gefahrenbereich („Schusslinie“) gelangen, wenn er den Schnitt zu früh auslöste, ohne den Harvesterkopf wieder in eine sichere Position zu drehen. Lange Baumstämme konnte er nur annähernd parallel zur Stichstraße über die Böschung schwenken. Dazu musste er den Harvesterkopf relativ zum Kranarm verdrehen. Der Kläger erreichte beim Begradigungsschnitt an langen Baumstämmen eine sichere Schnittposition, wenn er den Kranarm bis über das Abfalllager schwenkte. Es ergab sich dadurch eine Schnittposition, bei der die Sägeschiene des Harvesterkopfs von der Kabine weggedreht war, sodass sie nicht Richtung Fahrerkabine zeigte. H***** wusste, dass es für die Forstarbeiter leichter war, Windwurfholz mit Blickkontakt aufzuarbeiten. Er hätte auch erkennen können, dass der Kläger an der Unfallstelle dabei in die „Schusslinie“ gelangen könne, wenn dieser beim Bearbeiten von (kurzen) Baumstämmen oder Bruchstücken, die nicht parallel zur Stichstraße geführt werden mussten, arbeitserleichternd darauf verzichtete, den Harvesterkopf relativ zum Kranarm zu verdrehen. H***** war bekannt, dass es immer wieder vorkam, dass Forstarbeiter sich aus Gründen der Arbeitserleichterung oder praktischer Notwendigkeit, nicht an die Anweisung hielten, nicht so zu sägen, dass die Sägeschiene in Richtung der Kabine zeigte. H***** unterwies den Kläger und die Forstarbeiter nicht über die Gefahren, die aus der Topographie der Unfallstelle folgten. H***** unterwies den Kläger an der Unfallstelle nicht. Er wies nicht darauf hin, dass durch die 45° steile Böschung auch beim Schneiden „unterhalb“ der Kabinenhöhe ein Kettenschuss in die Kabine gelangen konnte. Bei einer regelgerechten, arbeitsplatzbezogenen Evaluierung war erkennbar, dass im Bereich des Abfalllagers die Gefahr bestand, dass die Sägeschiene beim Schneiden auf die Kabine zeigte. Eine entsprechende konkrete Unterweisung der Arbeitnehmer auf arbeitsplatzbezogene Gefahren hätte den Unfall verhindern können. Eine Anweisung, im Bereich des Abfalllagers nur zu schneiden, wenn der Baumstamm parallel zur Forststraße geführt wird, sodass die Sägeschiene von der Kabine wegzeigt und dass auch die Schwertspitze nicht auf die Kabine gerichtet sein darf, hätte den Unfall verhindert.

Am Unfalltag arbeitete der Kläger wie gewohnt mit dem Prozessor. Unmittelbar vor dem Unfall hob er einen etwa 2 m langen Baumwipfel aus dem Zwischenlager und drehte den Oberwagen nach links. Der Harvesterkopf befand sich dabei etwa auf der Höhe der Stichstraße und daher unterhalb der Fahrerkabine. Dabei war der Harvesterkopf aufgrund der 45° steilen Böschung in der Luft und nicht in Bodennähe. Der Kläger beabsichtigte, die Bruchstelle zu begradigen. Er wollte das Abfallstück auf das Abfalllager legen und bediente manuell die Vorschubeinheit, um das Bruchstück in die Schnittposition zu bringen, wobei er Blickkontakt auf die Sägeschiene erhielt. Die Spitze des Schwerts zeigte bergwärts in Richtung der Kabine. Die Antriebseinheit wies talwärts von der Kabine weg. Als der Kläger den Kranarm weiter Richtung Abfalllager schwenkte und den Kappschnitt auslöste, erkannte er nicht, dass das Schwert noch in Richtung der Kabine wies, als die Kette brach und den Kettenschuss auslöste. Der Kläger hätte den Arbeitsunfall vermeiden können, wenn er sich vor dem Auslösen des Kappschnitts vergewissert hätte, dass die Sägeschiene (Schwertspitze und Antriebseinheit) deutlich von der Kabine weggedreht gewesen war. Sofort nachdem der Kläger den Schnitt ausgelöst hatte, zerbarst die Kette der Säge am Harvesterkopf, während das Schwert aus dem Schwertkasten austrat, jedoch noch bevor sie das Wipfelstück berührte, das einen geringen Querschnitt hatte. Mögliche Ursache des Risses waren ein Verkanten der Kette vor dem Unfall oder das Aushebeln der Kette durch einen Ast beim Hineingreifen in das Zwischenlager. Ob die Kette vor dem Unfall fest oder locker war, ist nicht feststellbar. Die Kettenschiene und die Kette waren normal verschlissen. Die Restnutzungsdauer betrug 40 %. Der Kettenfang und der Kettenkasten waren voll funktionstüchtig, aber wirkungslos.

H***** setzte den Prozessor mit einem Ersatzfahrer spätestens am 29. 9. 2008 wieder in Betrieb. Er ersetzte die Windschutzscheibe durch eine neue einschiebbare Windschutzscheibe. Er verwendete kein Polycarbonat‑ oder vergleichbare Verglasung. Im Lauf des Jahres 2009 baute er 12 mm starke Polycarbonatverglasungen bei seinen Prozessoren ein, nachdem er von der K***** GmbH eine schriftliche Aufforderung dazu erhalten hatte.

In rechtlicher Hinsicht vertrat der Erstgericht im Wesentlichen den Standpunkt, eine Integritätsabgeltung gebühre, wenn der Arbeitsunfall durch grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht werde. Grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 213a ASVG sei dem Begriff der auffälligen Sorglosigkeit im Sinne des § 1324 ABGB gleichzusetzen. Bei der gebotenen objektiven Betrachtungsweise habe H***** als erfahrener Prozessorbediener, Unternehmer und Adressat der Arbeitnehmerschutzvorschriften auffallend die Aufmerksamkeit außer Acht gelassen, die in einem Forstbetrieb im Interesse der Unfallverhütung angewandt werden müsse. Tatsächlich habe der vom Kläger verwendete Prozessor nicht dem Stand der Technik entsprochen, weil keine schusssichere Polycarbonatverglasung eingebaut gewesen sei. H***** habe nicht davon ausgehen dürfen, dass der Prozessor hinsichtlich Konstruktion, Bau‑ und weiterer Schutzmaßnahmen den Vorschriften über Sicherheits‑ und Gesundheitsanforderungen entspreche, weil für die kombinierte Maschine erkennbar keine CE‑Konformität vorgelegen habe. Er habe die Verpflichtung, an der kombinierten Maschine eine Gefahrenanalyse durchzuführen, weil ihre Einsatzbedingungen in einem größeren Umfang als vom Hersteller des Radbaggers vorgesehen verändert worden seien, gekannt. Dass die Gefahr von Verletzungen durch einen Kettenschuss bestanden habe, sei H***** ebenfalls bekannt gewesen; er habe dennoch eine aus damaliger Sicht geeignete technische Maßnahme zum Schutz des Lebens und der Gesundheit der Arbeitnehmer nicht ergriffen. Erforderlichenfalls wäre er dazu verpflichtet gewesen, geeignete Fachleute beizuziehen. H***** habe auch eine arbeitsplatzbezogene Unterweisung an der Unfallstelle unterlassen. Der Kettenschuss stelle ein tödliches Risiko für den Maschinenbediener dar, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass der Maschinenbediener getroffen werde, mathematisch nicht fassbar gering sei. Die Beurteilung der Gefährlichkeit der Situation könne aber nicht auf einen einzelnen Einsatz des Prozessors und die geringe Wahrscheinlichkeit eines Treffers reduziert werden. Dass der Stand der Technik und die Betriebsanweisung des Herstellers Vorkehrungen gegen die Gefahr des Kettenschusses vorgesehen hätten, begründe schon die für die Annahme der groben Fahrlässigkeit ausreichend erkennbare Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Dies insbesondere im Hinblick auf den bekannten Unfall in Kärnten im Jahr 2006. Da jedenfalls der Arbeitgeber Arbeitnehmerschutzvorschriften grob fahrlässig missachtet habe, sei nicht entscheidend, ob der Kläger selbst grob fahrlässig gehandelt habe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und wies das Klagebegehren zur Gänze ab. Es stehe zwar fest, dass H***** eine Reihe von Arbeitnehmerschutzvorschriften verletzt habe, es liege aber keine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften vor, weil die Wahrscheinlichkeit eines Kettenschusses direkt in die Kabine und das Treffen des Maschinenbedieners so gering gewesen sei, dass sie mathematisch nicht qualifiziert werden könne. Für die Qualifizierung der Vernachlässigung der Pflichten des H***** zur Unfallverhütung als grob fahrlässig sei aber die ‑ hier nicht gegebene ‑ Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts eine unabdingbare Voraussetzung, welche auch nicht durch die Schwere der Unfallfolgen substituiert werden könne.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision im Hinblick auf die Einzelfallproblematik nicht zulässig sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des erstinstanzlichen Zwischenurteils. Hilfsweise wird ein Aufhebungs‑ und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragte in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortrung der Revision keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

I) Gemäß § 507a Abs 3 Z 2 ZPO ist die Revisionsbeantwortung beim Revisionsgericht, wenn diese sie dem Revisionsgegner nach § 508a Abs 2 ZPO freigestellt hat, einzubringen. Wenn das Rechtsmittel beim unzuständigen Gericht eingebracht wurde und erst von diesem dem zuständigen Gericht übersendet wurde, ist die Zeit dieser Übersendung in die Rechtsmittelfrist einzurechnen (RIS‑Justiz RS0041584). Dementsprechend ist auch eine entgegen § 507a Abs 3 Z 2 ZPO beim Erstgericht eingebrachte Revisionsbeantwortung verspätet, wenn sie beim Obersten Gerichtshof erst nach Ablauf der vierwöchigen Frist eingelangt ist (vgl 9 ObA 102/13k mwN). Diese Grundsätze gelten auch für Rechtsmittelschriften, die im ERV eingebracht wurden (vgl RIS‑Justiz RS0041584 [T22]). Der beklagten Partei wurde die Mitteilung gemäß § 508a Abs 2 ZPO am 2. 10. 2014 zugestellt. Sie brachte die Revisionsbeantwortung am 30. 10. 2014 im ERV beim Erstgericht ein, das die Weiterleitung an den Obersten Gerichtshof verfügte, wo der Schriftsatz am 6. 11. 2014 einlangte. Die Revisionsbeantwortung der beklagten Partei ist daher verspätet.

II) Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und im Sinne der Wiederherstellung des erstgerichtlichen Zwischenurteils auch berechtigt.

Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, für den Anspruch auf Integritätsabgeltung müsse grobe Fahrlässigkeit nur im Hinblick auf die Verletzung der Arbeitnehmerschutzvorschriften und nicht auch hinsichtlich der Herbeiführung des Unfalls gegeben sein. Sein Arbeitgeber habe trotz jahrelanger Aufforderungen durch das Arbeitsinspektorat keine vorgeschriebenen Evaluierungen und Gefährdungsanalysen durchgeführt, auch tödliche Forstunfälle nicht zum Anlass genommen, Gefährdungsanalysen in seinem Betrieb vorzunehmen und seine Geräte dem Stand der Technik entsprechend auszurüsten, noch habe er seine Arbeitnehmer auf die möglichen Gefahren des Kettenschusses aufmerksam gemacht. Er habe keine in der Ö‑NORM EN 14861 geforderte Polycarbonatscheibe eingebaut, wodurch der Unfall hätte verhindert werden können, und er habe die Organisation des Arbeitsplatzes und des Einsatzortes im Wald unrichtig gewählt. Sein Arbeitgeber hätte durch den Einbau einer in der Ö‑NORM vorgeschriebenen Polycarbonatscheibe in der Stärke von 32 mm, durch die richtige Einweisung auf bestehende Gefahren im Sinne des § 14 ASchG und durch die richtige Organisation des Arbeitsplatzes und Einsatzortes die Wahrscheinlichkeit des Kettenschusses direkt in die Kabine und damit den gegenständlichen Unfall verhindern können. Entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts sei bei einem derart gravierenden Fehlverhalten des Arbeitgebers und im Hinblick auf die allgemein bekannte Tatsache, dass von den in den Forstbetrieben eingesetzten Geräten eine große Gefahr ausgehe, weshalb die Technik und die Industrie stets bemüht seien, durch die Weiterentwicklung von Sicherungsmaßnahmen wie den Einbau einer Polycarbonatverglasung den Arbeitnehmer bestmöglich zu schützen, von einem grob fahrlässigen Fehlverhalten des Arbeitgebers auszugehen. Der Kläger habe daher Anspruch auf Integritätsabgeltung.

Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen:

1. Wesentlich für den Anspruch auf Integritätsabgeltung nach § 213a ASVG ist, dass der Arbeitsunfall durch eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde. Die grobe Fahrlässigkeit muss im Hinblick auf die Verletzung der Arbeitnehmerschutzvorschriften, nicht jedoch hinsichtlich der Herbeiführung des Unfalls gegeben sein. Es ist daher lediglich zu prüfen, ob die Verletzung bestimmter Arbeitnehmerschutzvorschriften im Einzelfall grob fahrlässig erfolgte (10 ObS 2338/96p, DRdA 1997/38, 318 [ Windisch/Graetz ] mwN; RIS‑Justiz RS0106718).

2. Nach ständiger Rechtsprechung ist grobe Fahrlässigkeit im Sinne der §§ 213a und 334 Abs 1 ASVG dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit im Sinne des § 1324 ABGB gleichzusetzen (RIS‑Justiz RS0030510). Diese ist anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht ‑ also konkret insbesondere einer Pflicht zur Unfallverhütung durch den für die Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften verantwortlichen Arbeitgeber (Gleichgestellten) ‑ vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich vorhersehbar war (RIS‑Justiz RS0030644). Nicht jede Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften bedeutet für sich allein aber bereits das Vorliegen grober Fahrlässigkeit (RIS‑Justiz RS0052197). Eine strafgerichtliche Verurteilung etwa wegen fahrlässiger Tötung nach § 80 oder wegen fahrlässiger Körperverletzung nach § 88 StGB reicht für die Annahme groben Verschuldens für sich allein jedenfalls nicht aus (10 ObS 84/95, SSV‑NF 9/51 = DRdA 1996/30, 324 [ Mosler ] ua). Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist auch nicht der Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern der Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung zuzumessen (RIS‑Justiz RS0085332; RS0031127; RS0030644). Es kann aber auch eine Reihe für sich allein nicht grob fahrlässiger Fehlhandlungen grobe Fahrlässigkeit begründen, wenn diese in ihrer Gesamtheit als den Regelfall weit übersteigende Sorglosigkeit anzusehen sind (vgl 8 ObA 16/07x ua). Zu prüfen ist, ob nach objektiver Betrachtungsweise ganz einfache und naheliegende Überlegungen in Bezug auf den Arbeitnehmerschutz nicht angestellt wurden (RIS‑Justiz RS0052197 [T7]; RS0085228). Der objektiv besonders schwere Sorgfaltsverstoß muss auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen sein (RIS‑Justiz RS0030272). So berechtigt die Nichtbeachtung von Unfallverhütungsvorschriften trotz mehrfacher Beanstandung einer Gefahrensituation insbesondere durch das Arbeitsinspektorat oder/und den Unfallverhütungsdienst der AUVA in der Regel zur Annahme grober Fahrlässigkeit. Nichts anderes kann gelten, wenn ein Arbeitnehmer den Arbeitgeber auf die bestehende Gefahrensituation aufmerksam gemacht hat oder es bereits vorher (wiederholt) zu einschlägigen Arbeitsunfällen gekommen ist oder solche bekanntermaßen beinahe eingetreten sind. Insgesamt lässt sich das Vorliegen grober Fahrlässigkeit stets nur nach den konkreten Umständen des Einzelfalls beurteilen (vgl Susanne Mayer in SV‑Komm § 334 ASVG Rz 11 und 13 mwN).

3. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ist mit den insoweit übereinstimmenden Ausführungen der Vorinstanzen davon auszugehen, dass H***** eine Reihe von Arbeitnehmerschutzvorschriften verletzt hat. So entsprach der Prozessor zur Unfallszeit nicht dem Stand der Technik, weil keine (schusssichere) Polycarbonatverglasung in der Stärke von 32 mm oder eine vergleichbare Verglasung eingebaut war. H***** hatte bis zum gegenständlichen Arbeitsunfall den Prozessor nicht entsprechend § 4 ASchG evaluiert, keine Sicherheits‑ und Gesundheitsschutzdokumente (§ 5 ASchG) erstellt und keine Gefahrenanalyse entsprechend § 35 Abs 2 und 4 ASchG durchgeführt, obwohl ihm diese Verpflichtungen bekannt waren. H***** durfte dabei nicht davon ausgehen, dass der Prozessor hinsichtlich Konstruktion, Bau‑ und weiterer Schutzmaßnahmen den Vorschriften über Sicherheits‑ und Gesundheitsanforderungen entsprach, weil für die kombinierte Maschine (Prozessor) erkennbar keine CE‑Konformität vorlag.

3.1 Obwohl H***** die Gefahr von Verletzungen durch einen Kettenschuss bekannt war, ergriff er keine aus damaliger Sicht geeignete, technische Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Gesundheit der Arbeitnehmer (§ 3 Abs 1 und 2 ASchG). Bei einer regelrechten Erhebung des Standes der Technik wäre der Mangel leicht erkennbar gewesen. Bei der Einbaubesprechung im Sommer 2007 wurde der Kläger durch einen Mitarbeiter der K***** GmbH darauf hingewiesen, dass bei einem Unfall in Kärnten im Jahr zuvor mit einem Harvesterkopf dieser Firma ein Kettenglied durch die Verglasung eingedrungen war und den Maschinenbediener verletzt hatte, weshalb eine Polycarbonatverglasung eingebaut werden sollte, weil diese sicherer sei als die (konventionelle) Windschutzscheibe und das Eindringen von Kettengliedern verhindern könne. H***** lehnte bei Umrüstungskosten von insgesamt ca 70.000 EUR eine höchstens 1.500 EUR teure Umrüstung auf eine Polycarbonatverglasung jedoch ab, weil er befürchtete, diese könne leichter zerkratzen, sodass die Sicht behindert wäre.

3.2 Obwohl H***** von dem einschlägigen Unfall in Kärnten im Jahr 2006 Kenntnis hatte, gab er sein Wissen darüber nicht an seine Forstarbeiter weiter. Eine Unterweisung über die Gefahr eines Kettenschusses hätte zweifellos das Bewusstsein der Arbeiter für diese Gefahr geschärft. Er berücksichtigte dabei nicht, dass Schutzmaßnahmen soweit wie möglich auch bei menschlichem Fehlverhalten wirksam sein müssen (§ 4 Abs 3 ASchG) und die vorhandenen Schutzmaßnahmen (Kettenfangbolzen und Kettenkasten) bei einem menschlichen Fehlverhalten oder aufgrund der Umgebungssituation (die Unfallstelle lag an einer 45° steilen Böschung) unwirksam sein konnten. Eine arbeitsplatzbezogene Unterweisung an der Unfallstelle (§ 14 Abs 2 ASchG) erfolgte ebenfalls nicht. Seine nur allgemein gehaltene Anweisung, den Harvesterkopf beim Schneiden „im unteren Bereich zu halten“, blieb daher wirkungslos.

3.3 Die Gefahr eines Kettenschusses stellt für den Maschinenbediener ein tödliches Risiko dar, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass der Maschinenbediener getroffen wird, mathematisch nicht fassbar (kalkulierbar) gering ist. Diese geringe Wahrscheinlichkeit eines „Treffers“ veranlasste das Berufungsgericht, das Vorliegen einer groben Verletzung der dargestellten Arbeitnehmerschutzvorschriften durch H***** im vorliegenden Fall zu verneinen.

3.4 Dazu ist zu bemerken, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts zwar ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist, sie jedoch nicht isoliert betrachtet werden darf (vgl Reischauer in Rummel , ABGB 3 § 1297 Rz 3). Dieses auch von der beklagten Partei vorgebrachte Argument der Unwahrscheinlichkeit des konkreten Schadenseintritts ist in diesem Zusammenhang nicht überzeugend, andernfalls wäre jede Sicherung gegen die Gefahr eines Kettenschusses entbehrlich, weil es immer unwahrscheinlich ist, dass es durch einen Kettenschuss zu einer schweren oder sogar tödlichen Verletzung des Maschinenbedieners kommt (vgl ZVR 2002/63, 258). Entscheidend ist vielmehr, dass die Gefahr und die möglichen schwerwiegenden Folgen eines Kettenschusses den in der Forstwirtschaft tätigen Personen, insbesondere auch H*****, bekannt waren und daher nicht davon gesprochen werden kann, dass der Schadenseintritt nicht vorhersehbar gewesen wäre. Da H***** dagegen jedoch nichts unternommen hat, muss ihm nach zutreffender Rechtsansicht des Erstgerichts eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften zur Last gelegt werden. Es ist in diesem Fall unerheblich, ob auch der Versicherte selbst Arbeitnehmerschutzvorschriften missachtet hat (vgl RIS‑Justiz RS0111034).

Es war somit in Stattgebung der Revision des Klägers das erstinstanzliche Zwischenurteil wiederherzustellen.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens gründet sich auf § 52 ZPO.

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