OGH 1Ob197/13x

OGH1Ob197/13x21.11.2013

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G***** Versicherung AG, *****, vertreten durch Dr. Peter Lindinger und Dr. Andreas Pramer, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 9.337,93 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 4. Juli 2013, GZ 4 R 108/13z‑13, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz vom 19. April 2013, GZ 31 Cg 4/13v‑9, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 620,36 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Im Verfahren 6 C 323/11t des Bezirksgerichts Ried im Innkreis (Anlassverfahren) begehrte ein Versicherungsnehmer vom hier klagenden (und damals beklagten) Versicherer die Zahlung von 4.510,21 EUR als Versicherungsleistung aus der Teilkaskoversicherung wegen eines Wildschadens. Die nunmehrige Klägerin berief sich auf eine Obliegenheitsverletzung, weil nicht unverzüglich Anzeige bei der nächsten Polizeidienststelle erstattet worden sei; dadurch sei der Schadenshergang nicht überprüfbar gewesen.

Nach den erstinstanzlichen Feststellungen in diesem Verfahren kollidierte der Versicherungsnehmer (mit seinem Fahrzeug) nach 21:00 Uhr auf dem Heimweg mit einem Reh. Er konnte das Reh nirgends sehen, sodass er annahm, dass es weitergelaufen sei. Ausgeschlossen ist, dass der Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt der Kollision alkoholisiert, übermüdet oder sonst in irgendeiner Form beeinträchtigt war. Am nächsten Morgen rief dessen Gattin den zuständigen Jäger an, der jedoch im Unfallbereich kein verletztes Reh finden konnte. Gegen 8:00 Uhr suchte der Versicherungsnehmer den Ö*****‑Stützpunkt auf, bei dem er den Versicherungsvertrag mit der nunmehrigen Klägerin abgeschlossen hatte, und meldete den Wildunfall. Von dort wurde er an die Polizeiinspektion verwiesen, bei der er den Unfall anzeigte. Der Versicherungsnehmer hatte zu keiner Zeit den Vorsatz, die Leistungspflicht des Versicherers zu beeinflussen oder die Feststellung solcher Umstände zu beeinträchtigen, die erkennbar für dessen Leistungspflicht bedeutsam sind. Er wollte die Beweislage weder zu Lasten des Versicherers manipulieren noch schönen. Hätte er den Wildunfall unverzüglich angezeigt, wäre es nicht möglich gewesen, über die ohnehin bekannt gewordenen Umstände darüber hinausgehende festzustellen, die zu einer Leistungsfreiheit des Versicherers führen würden. Die etwa elf Stunden nach dem Wildunfall erfolgte Anzeige hatte weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers einen Einfluss.

Das Erstgericht im Anlassverfahren sah den Tatbestand der Obliegenheitsverletzung infolge verspäteter Anzeigenerstattung erfüllt, ging von einem schlicht vorsätzlichen Handeln des Versicherungsnehmers aus und erachtete den von ihm erbrachten Kausalitätsgegenbeweis für gelungen, was zur Leistungspflicht der nunmehrigen Klägerin führe.

Der von ihr dagegen erhobenen Berufung gab das Landesgericht Ried im Innkreis nicht Folge. Es führte aus, dass ein Versicherungsnehmer im Hinblick auf § 4 Abs 5 StVO nach einem Unfall mit Sachschaden eine Polizeianzeige zu erstatten habe, und zwar ohne Rücksicht auf eine anscheinende Geringfügigkeit des Schadens. Ein Verstoß gegen diese Anzeigeverpflichtung bedeute aber nicht unbedingt eine Verletzung der Aufklärungspflicht; es sei vielmehr notwendig, dass ein konkreter Verdacht in eine bestimmte Richtung dadurch, dass ein Beweismittel infolge der unterlassenen Anzeige objektiv unbenützbar bzw beseitigt werde, im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit ausgeschlossen werden könne. Der Versicherer habe zwar in den Raum gestellt, der Versicherungsnehmer habe durch eine verspätete Unfallsmeldung seine Fahruntüchtigkeit verbergen wollen, es sei aber weder ein konkreter Verdacht in Richtung einer Alkoholisierung, noch ein sonstiger eine Fahruntüchtigkeit bewirkender Umstand geltend gemacht worden. Ein solcher Verdacht sei nicht festgestellt worden, vielmehr sei sogar ausdrücklich ausgeschlossen worden, dass der Versicherungsnehmer im Unfallszeitpunkt alkoholisiert, übermüdet oder sonst in irgendeiner Form beeinträchtigt gewesen wäre. Dem Versicherungsnehmer könne keine Verletzung seiner Aufklärungsobliegenheit vorgeworfen werden, weil ein konkreter Verdacht, dass bei unverzüglicher Anzeige eine andere Sachverhaltsfeststellung möglich gewesen wäre, nicht erwiesen worden sei.

Die Klägerin macht mit Amtshaftungsklage Schäden geltend, die ihr aufgrund der ‑ auf unvertretbarer Rechtsansicht beruhenden ‑ Entscheidung des Landesgerichts Ried im Innkreis als Berufungsgericht im Anlassverfahren entstanden seien. Ein „konkreter Verdacht“ müsse zwar im Rahmen der Haftpflichtversicherung nachgewiesen werden, nicht jedoch bei Verletzung vertraglich vereinbarter Obliegenheiten. Der Versicherungsnehmer habe die Obliegenheit gemäß Art 7.3.4. der Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrzeug‑Kaskoversicherung (AKKB 2009) verletzt. Bei Verletzung einer vertraglich vereinbarten Obliegenheit sei der Nachweis eines „konkreten Verdachts“ nicht notwendig und vom Obersten Gerichtshof auch noch nie gefordert worden. Den Kausalitätsgegenbeweis habe der Versicherungsnehmer nicht erbracht.

Die Beklagte wendete ein, die Entscheidungen im Anlassverfahren seien richtig, jedenfalls aber vertretbar gewesen. Zudem sei dem Versicherungsnehmer der Kausalitätsgegenbeweis gelungen.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Zur Frage der Anwendbarkeit des „konkreten Verdachts“ auch auf die Anzeigeverpflichtung existiere keine höchstgerichtliche Entscheidung. Es sei nicht unvertretbar, wenn auch bei der Anzeigepflicht ein „konkreter Verdacht“, der nie vorgelegen sei, verlangt werde und dies gut begründet werde.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Im Amtshaftungsprozess sei nicht etwa wie im Rechtsmittelverfahren zu prüfen, ob die beanstandete Entscheidung richtig sei, sondern lediglich, ob sie auf vertretbarer Gesetzesauslegung oder Rechtsanwendung beruhe. Eine Differenzierung bezüglich der Behauptungs‑ und Beweispflicht des Versicherers je nachdem, ob sich die Anzeigeverpflichtung aus der allgemein vereinbarten Obliegenheit „an der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken“ in Verbindung mit § 4 Abs 5 StVO ergebe oder aufgrund einer ausdrücklich vereinbarten Anzeigepflicht, könne den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs nicht entnommen werden. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts im Anlassverfahren, dass zwar eine Verletzung der Anzeigepflicht feststehe, es dem Versicherer allerdings nicht gelungen sei, eine konkrete Verdachtslage in bestimmter Richtung zu beweisen, sei jedenfalls vertretbar.

Die Revision erklärte das Berufungsgericht über Antrag der Klägerin nach § 508 ZPO für zulässig, weil ihm vorgewerfen werde, irrigerweise davon ausgegangen zu sein, in Übereinstimmung mit der Judikatur des Obersten Gerichtshofs entschieden zu haben, obwohl eine solche fehle. Zur „Vermeidung eines weiteren Amtshaftungsverfahrens“ erscheine die Zulassung geboten.

Die Revision der Klägerin ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, im Ergebnis aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Amtshaftung für ein rechtswidriges Verhalten eines Organs tritt nur ein, wenn es auch schuldhaft ist (§ 1 Abs 1 AHG). Geht es um die (unrichtige) rechtliche Beurteilung von Rechtsfragen, ist ein Verschulden grundsätzlich nur dann zu bejahen, wenn die beanstandete Entscheidung nicht auf einer nach den Umständen vertretbaren Rechtsanwendung beruht (RIS‑Justiz RS0050216 [insb T5]). Dazu wird judiziert, dass ein Abweichen von einer klaren Rechtslage oder der ständigen Rechtsprechung des zuständigen Höchstgerichts, das nicht erkennen lässt, dass es auf einer sorgfältigen und auch begründeten Überlegung und Auseinandersetzung mit der herrschenden Rechtsprechung beruht, in der Regel als rechtswidrig und schuldhaft zu beurteilen sein wird (RIS‑Justiz RS0049912 [insb T7, T8]; RS0049969 [T2]; RS0049951 [T4]).

2. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl zur Anzeigepflicht: 7 Ob 11/80 = RIS‑Justiz RS0081091; RS0080965; RS0080900; zur Aufklärungspflicht: RIS‑Justiz RS0043520; RS0074495) und nach der Lehre ( Schauer , Die Aufklärungspflicht nach dem Versicherungsfall in den Kfz‑Versicherungen, VR 6/1996, 93 [94]; Egglmeier‑Schmolke , Plädoyer für eine generelle Pflicht zur unverzüglichen polizeilichen Unfallmeldung in den AVB der Kfz‑Versicherungen, ZVR 2000, 364 [365: „Unfallmeldung“]) ist nach den Versicherungsbedingungen bei unterlassener Verständigung der Polizeidienststelle zwischen der Anzeige obliegenheit (im Anlassfall: Art 7.3.4. AKKB 2009: „... dass ein Schaden, der durch ... Wild ... entsteht, vom Versicherungsnehmer oder Lenker bei der nächsten Polizeidienststelle unverzüglich anzuzeigen ist“) und der Aufklärungs obliegenheit (Art 7.3.2. AKKB 2009: „... nach Möglichkeit zur Feststellung des Sachverhaltes beizutragen“) zu unterscheiden.

Ist die Anzeigepflicht im Versicherungsvertrag ausdrücklich vereinbart, muss der Versicherer (nur) die objektive Verletzung dieser Obliegenheit durch den Versicherungsnehmer nachweisen (7 Ob 11/80 [Art 6 Abs 2 Z 3 AKIB]; 7 Ob 44/03a [Art 9 Z 3 Punkt 3.2 AKHB 1995]; allgemein RIS‑Justiz RS0043728; RS0081313). Die Unterlassung der Anzeige ist dann regelmäßig eine Obliegenheitsverletzung ( Schauer aaO 96).

Bei der vertraglich vereinbarten Aufklärungsobliegenheit verletzt der Versicherungsnehmer seine Aufklärungspflicht dann, wenn er einen von ihm verursachten Verkehrsunfall der nächsten Polizeidienststelle verspätet oder nicht meldet, sofern er zur sofortigen Anzeigenerstattung nach § 4 StVO verpflichtet ist und im konkreten Fall etwas versäumt wurde, das zur Aufklärung des Sachverhalts dienlich gewesen wäre. Die Übertretung des § 4 Abs 5 StVO ist für sich allein nicht schon einer Verletzung der Aufklärungspflicht gleichzuhalten. Es ist vielmehr notwendig, dass ein konkreter Verdacht in eine bestimmte Richtung durch objektives „Unbenützbarwerden“ (objektive Beseitigung) eines Beweismittels infolge Unterlassung der Anzeige im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Den konkreten Verdacht und die Unbenützbarkeit des Beweismittels muss der Versicherer behaupten und beweisen (RIS‑Justiz RS0043520; zuletzt 7 Ob 109/12y).

3. Die Klägerin bemängelt zutreffend nicht, dass das Berufungsgericht im Anlassverfahren die Verletzung der Aufklärungsobliegenheit durch den Versicherungsnehmer verneint hatte. Zu Recht zeigt sie aber auf, dass es ‑ entgegen der zu Punkt 2. dargelegten Rechtsprechung zur Anzeigeobliegenheit ‑ auch für den Verstoß gegen die vertraglich vereinbarte Anzeigeverpflichtung bei der Polizeidienststelle ‑ über den Nachweis der verspäteten Anzeigeerstattung hinaus ‑ die Behauptungs‑ und Beweislast für den konkreten Verdacht in Richtung einer Alkoholisierung oder eines sonst die Fahruntüchtigkeit bewirkenden Umstands dem Versicherer auferlegt hatte. Eine solche Behauptungs‑ und Beweislast des Versicherers für die Anzeigeobliegenheit nach Art 7.3.4. AKKB 2009 steht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Zwar fordert Egglmeier‑Schmolke (aaO 369) im Zusammenhang mit dem vom Versicherungsnehmer zu erbringenden Kausalitätsgegenbeweis auch bei vereinbarter Anzeigeobliegenheit (unverzügliche polizeiliche Unfallmeldung) vom Versicherer den Nachweis eines konkreten Verdachts auf eine Alkoholisierung des Versicherungsnehmers, weil nur ein aufklärungsbedürftiger Sachverhalt vom Versicherungsnehmer aufgeklärt werden könne. Mit dieser Lehrmeinung hat sich der Oberste Gerichtshof noch nicht auseinandergesetzt. Wenn aber das Berufungsgericht im Anlassfall ohne nähere Begründung in Abkehr von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vom Versicherer über den Beweis der Verletzung der Anzeigeobliegenheit hinaus auch noch den Nachweis eines konkreten Verdachts in eine bestimmte Richtung für erforderlich hielt, ist diese Rechtsansicht rechtswidrig und nicht mehr vertretbar.

4. Im Amtshaftungsverfahren berief sich die Beklagte aber auch auf rechtmäßiges Alternativverhalten, indem sie darauf verwies, dass dem Versicherungsnehmer der Kausalitätsgegenbeweis gelungen sei. Bei einem solchen Einwand ist zu prüfen, ob derselbe Nachteil auch durch ein rechtmäßiges Verhalten hätte eintreten können. Erfolgreich ist eine solche Einrede, wenn das alternative Verhalten nicht bloß nur vertretbar, also nicht schuldhaft, sondern auch richtig und demnach rechtmäßig ist (1 Ob 29/12i mwN; RIS‑Justiz RS0022889).

Der Versicherungsnehmer hat nachgewiesen, dass die verspätete Polizeimeldung über die Kollision mit einem Reh nicht in der Absicht erfolgte, die Leistungspflicht des Versicherers zu beeinflussen oder die Feststellung solcher Umstände zu beeinträchtigen, die erkennbar für deren Leistungspflicht bedeutsam sind (kein Schädigungs‑ oder Täuschungsvorsatz im Sinn des § 6 Abs 3 VersVG). Für die vorsätzliche Obliegenheitsverletzung genügt das allgemeine Bewusstsein des Versicherungsnehmers, dass er bei der Aufklärung des Sachverhalts nach besten Kräften aktiv werden muss (RIS‑Justiz RS0080477). Dieses Bewusstsein ist mangels besonderer entschuldigender Umstände bei einem Versicherungsnehmer, der selbst Kraftfahrer ist, in der Regel bis zum Beweis des Gegenteils vorauszusetzen (7 Ob 109/12y mwN). Gelingt dem Versicherungsnehmer ‑ wovon das Erstgericht im Anlassverfahren ausging ‑ der Beweis bloß leichter Fahrlässigkeit nicht, so steht ihm nach § 6 Abs 3 VersVG auch bei (schlicht) vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung der Kausalitätsgegenbeweis offen (RIS‑Justiz RS0086335). Darunter ist der Nachweis zu verstehen, dass die Obliegenheitsverletzung weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers einen Einfluss gehabt hat (RIS‑Justiz RS0116979). Nach den unbekämpften Feststellungen im Anlassverfahren ist ausgeschlossen, dass der Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt der Kollision mit dem Reh alkoholisiert, übermüdet oder sonst in irgendeiner Weise beeinträchtigt war. Damit hat der Versicherungsnehmer bewiesen, dass alle anderen möglichen Sachverhaltsvarianten ausgeschlossen sind. Dem Versicherungsnehmer ist der Kausalitätsgegenbeweis gelungen, weil der Unfallhergang objektiv nachvollziehbar ist.

Mit dieser rechtlich einwandfreien Rechtsansicht hätte das Berufungsgericht im Anlassverfahren ‑ wie schon das Erstgericht ‑ die Rechtsfrage richtig gelöst. Das rechtmäßige Alternativverhalten hätte zu keinem für die Klägerin günstigeren Ergebnis geführt.

5. Der Revision kommt daher im Ergebnis keine Berechtigung zu.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 50 Abs 1 iVm § 41 Abs 1 ZPO.

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