European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2013:0060OB00080.13B.0508.000
Spruch:
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Begründung
Entgegen dem ‑ den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 71 Abs 1 AußStrG) ‑ Ausspruch des Rekursgerichts ist der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig:
Das Rekursgericht hat seinen Zulässigkeitsausspruch damit begründet, es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage, ob die schuldhafte Versäumung der Frist zur Verlängerung einer Niederlassungsbewilligung durch den ausländischen Unterhaltspflichtigen zu dessen Anspannung führt.
Die Vorinstanzen haben den für Anastasia aufgrund des Beschlusses des Erstgerichts vom 12. 7. 2011 geldunterhaltspflichtigen Vater Z***** M***** seiner monatlichen Verpflichtung in Höhe von 205 EUR ab 1. 9. 2011 enthoben, weil seine Niederlassungsbewilligung als serbischer Staatsangehöriger für Österreich am 10. 11. 2009 endete; sein Antrag auf Verlängerung beziehungsweise Neuausstellung einer Niederlassungsbewilligung sei am 22. 3. 2010 infolge Versäumung der Antragsfrist um zwei Tage zurückgewiesen worden. Zwar habe der Vater bis 14. 1. 2012 noch über einen Befreiungsschein verfügt, der ihm eine legale Beschäftigung in Österreich ermöglichte; infolge Entziehung der Lenkerberechtigung wegen Fahrens in alkoholisiertem Zustand habe er jedoch am 5. 8. 2011 seinen Arbeitsplatz als LKW-Lenker verloren. Ein gegen ihn laufendes Aufenthaltsverbotsverfahren wäre nur eingestellt worden, hätte er bis 1. 1. 2012 Österreich freiwillig verlassen, was er jedoch nicht getan habe; in diesem Fall hätte er nach drei Monaten mit Sichtvermerk wieder nach Österreich einreisen und bei Ehelichung seiner Lebensgefährtin einen neuen Aufenthaltstitel erlangen können. Ansprüche auf Arbeitslosengeld habe der Vater nicht, weil er mangels Aufenthaltstitels der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung steht; der Vater sei daher seit Verlust seines Arbeitsplatzes einkommenslos.
Rechtliche Beurteilung
1. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass der Unterhaltspflichtige alle Kräfte anzuspannen hat, um seiner Verpflichtung zur angemessenen Unterhaltsleistung nachkommen zu können; er muss alle seine persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft, so gut wie möglich einsetzen. Tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit erzielen könnte (RIS‑Justiz RS0047686). Mit einer Anspannung ist allerdings dann nicht (mehr) vorzugehen, wenn der Unterhaltspflichtige auch bei Einsatz aller seiner persönlichen Fähigkeiten nicht in der Lage wäre, einen Arbeitsplatz zu erlangen (stRsp, statt vieler siehe 4 Ob 2068/96t EFSlg 80.300).
Ob die Voraussetzungen für eine Anspannung im konkreten Fall gegeben sind oder nicht, richtet sich nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls. Die in diesem Zusammenhang zu beantwortenden Rechtsfragen sind regelmäßig nicht von der in § 62 Abs 1 AußStrG geforderten Qualität (RIS-Justiz RS0113751, RS0007096; vgl auch die weiteren Judikaturnachweise bei Gitschthaler , Unterhaltsrecht 2 [2008] Rz 137).
2. Nach herrschender Auffassung kann von einem ausländischen, in Österreich lebenden Unterhaltspflichtigen verlangt werden, dass er in Österreich erforderliche Anträge auf Erteilung einer Niederlassungs- und Arbeitsbewilligung stellt und diese Verfahren gehörig betreibt, um einer erlaubten Beschäftigung nachgehen zu können ( Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth , EuPR [2011] § 94 ABGB Rz 130; LGZ Wien EFSlg 95.787, 110.353, 116.471); dazu gehört auch, dass er sich um eine fristgerechte Verlängerung einer ablaufenden Bewilligung kümmert. Sind dem Unterhaltspflichtigen allerdings die Erlangung beziehungsweise der Erhalt einer Bewilligung nicht möglich, scheidet eine Anspannung auf ein Einkommen aus illegaler Beschäftigung (Schwarzarbeit) aus; eine derartige Anspannung wäre mit den Grundwerten der österreichischen Rechtsordnung nicht in Einklang zu bringen ( Gitschthaler aaO Rz 114; LGZ Wien EFSlg 80.275, 103.558; vgl auch 7 Ob 26/02b ÖA 2003, 33/U 374).
Da der Vater nach den Feststellungen der Vorinstanzen ab 5. 8. 2009 einkommenslos und infolge fehlenden Aufenthaltstitels auch nicht vermittelbar war, entspricht die Verneinung des Vorliegens der Anspannungsvoraussetzungen durch die Vorinstanzen der Rechtslage. Dass der Vater zur Wiedererlangung eines Aufenthaltstitels nicht vor dem 1. 1. 2012 freiwillig aus Österreich ausgereist ist, um nach Ablauf von drei Monaten wieder zurückzukehren und dann seine Lebensgefährtin zu ehelichen, ist ihm nicht vorzuwerfen: Der Oberste Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass ein Unterhaltspflichtiger seine persönliche Lebensgestaltung (konkret: Unterlassen einer Lebensgemeinschaft) nicht danach ausrichten muss, öffentlich-rechtliche Leistungen zu beziehen (1 Ob 115/98p); ein ausländischer Unterhaltspflichtiger kann daher im Rahmen der Anspannungstheorie auch nicht verhalten werden, eine Österreicherin zu ehelichen, um in Österreich arbeiten zu dürfen.
3. Der Oberste Gerichtshof hat zwar ‑ im Zusammenhang mit der Einstellung von Unterhaltsvorschüssen ‑ bisweilen die Auffassung vertreten, es sei mit einer Anspannung auf (tatsächlich nicht zustehendes) Wochengeld einer geldunterhaltspflichtigen Mutter vorzugehen, wenn diese es unterlassen gehabt habe, vor der Geburt ihres (weiteren) Kindes einer zumutbaren Beschäftigung nachzugehen, und dies nunmehr eine Entgeltfortzahlung für die Dauer des Beschäftigungsverbots nach dem Mutterschutzgesetz hindere (6 Ob 659/95; 6 Ob 208/97z; 1 Ob 43/00f). Diesen Grundgedanken will der Revisionsrekurs offensichtlich auf die gegenständlich gegebene Situation übertragen.
Die Rechtsprechung stieß allerdings zum einen in der Literatur auf Ablehnung, habe sie doch lediglich „punitiven“ Charakter; der Geldunterhaltspflichtige könne ja tatsächlich auch bei sorgfaltsgemäßer Anstrengung aller Kräfte diese Leistungen nicht mehr erreichen ( Gitschthaler , Unterhaltsrecht² [2008] Rz 179/4; ders in Gitschthaler/Höllwerth , EuPR [2011] § 94 ABGB Rz 112; Schwimann/Kolmasch , Unterhaltsrecht 6 [2012] 62). Zum anderen entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass die Anspannung nicht zu einer bloßen Fiktion führen darf; vielmehr muss sie immer auf der hypothetischen Feststellung beruhen, welches reale Einkommen der Unterhaltspflichtige konkret zu erzielen in der Lage wäre (aus jüngerer Zeit etwa 10 Ob 8/07k EF-Z 2007/83 [ Gitschthaler ]; 10 Ob 73/07v; 8 Ob 8/12b iFamZ 2012/86 = EF-Z 2012/137; 7 Ob 179/11s EF-Z 2012/108 [ Gitschthaler ]; 5 Ob 204/11b). Folgerichtig wurde ‑ insbesondere auch im hier interessierenden Zusammenhang ‑ mehrfach entschieden, es gehe nicht an, im Rahmen der Anspannung „ganze Fiktionsketten zu bilden, weil dies an der Realität letztlich vorbeigeht“ (LGZ Wien EFSlg 103.634; ebenso bereits LGZ Wien EFSlg 80.224, 89.171). Auch vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung begegnen die Entscheidungen der Vorinstanzen keinen Bedenken (vgl auch 6 Ob 620/93 EFSlg 75.581).
4. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs muss sich ein Unterhaltspflichtiger, der es aus in seiner Sphäre liegenden Gründen unterlässt, einen Antrag (etwa) auf Gewährung einer öffentlich-rechtlichen Leistung zu stellen, dieses ihm mögliche Einkommen im Sinne der Anspannungstheorie für die Unterhaltsleistung anrechnen lassen (RIS-Justiz RS0047385), sofern dieser Antrag auch tatsächlich Erfolg gehabt hätte beziehungsweise haben würde. Ist dies nicht (mehr) der Fall, ist nach der Ursache für die unterlassene Antragstellung zu fragen: Beim Anspannungsgrundsatz handelt es sich nämlich um eine Art Missbrauchsvorbehalt (RIS-Justiz RS0047495 [T4]), die Anspannung setzt immer Verschulden voraus (RIS-Justiz RS0047495). Dabei führt aber etwa auch ein selbst verschuldeter Arbeitsplatzverlust regelmäßig nur dann zu einer Anspannung auf das bislang erzielte Einkommen, wenn dem Unterhaltspflichtigen Schädigungsabsicht zu Lasten seiner Unterhaltsberechtigten vorwerfbar ist (RIS-Justiz RS0047503); lediglich im Fall der Aufgabe gehobener Einkommensverhältnisse ohne triftige Gründe nahm die Entscheidung 1 Ob 81/10h eine Anspannung auf eben diese Verhältnisse vor. Diese Grundsätze können auch auf die hier zu beurteilende Situation übertragen werden.
Unterhaltsschädigungsabsicht des Vaters bei Versäumung der Verlängerungsfrist betreffend die Niederlassungsbewilligung nahmen die Vorinstanzen ausdrücklich nicht an. Der Vater hat außerdem die maßgebliche Frist lediglich um zwei Tage versäumt, ein bewusstes Vorgehen dabei behauptet der Revisionsrekurs nicht. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist somit die Enthebung des Vaters von seiner Unterhaltsverpflichtung durch die Vorinstanzen vertretbar.
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