OGH 8Ob8/12b

OGH8Ob8/12b28.2.2012

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner und die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj E***** K*****, geboren am *****, wohnhaft bei der Mutter L***** K*****, geboren am *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger, Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, 1060 Wien, Amerlingstraße 11, über den Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 21. November 2011, GZ 45 R 405/11h‑47, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom 21. Juni 2011, GZ 23 PU 108/10f‑35, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Der Vater des unehelichen Kindes, C*****M*****, geboren am *****, wohnhaft in ***** ist Staatsbürger der russischen Föderation und verfügt als subsidiär Schutzberechtigter iSd § 8 AsylG 2005 über eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Derzeit ist ein Verfahren über die Aberkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigter anhängig. Der Vater hat keine Berufsausbildung und versteht sehr schlecht deutsch. Die Mutter ist ukrainische Staatsangehörige. Das Kind lebt in ihrem Haushalt.

Mit einstweiliger Verfügung gemäß § 382a EO vom 17. 1. 2011 (ON 4) wurde der Vater zur Leistung eines vorläufigen Unterhalts verpflichtet. Dem Kind wurden Unterhaltsvorschüsse gewährt (ON 16 und 42).

Am 26. 11. 2010 beantragte das Kind, den Vater ab 1. 4. 2010 (ausgehend von einem fiktiven Einkommen als Hilfsarbeiter in Höhe von 1.100 EUR) zu einem monatlichen Unterhaltsbeitrag von 176 EUR zu verpflichten. Der Vater sprach sich gegen diesen Antrag aus.

Das Erstgericht wies den Antrag des Kindes ab und sprach aus, dass die einstweilige Verfügung gemäß § 382a EO vom 7. 1. 2011 mit Rechtskraft des Beschlusses als aufgehoben gelte. Da dem Vater keine konkreten Chancen am Arbeitsmarkt offen stünden, müsse der Antrag abgewiesen werden.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Das Verhalten des Vaters vor Kenntnis der bevorstehenden Geburt des Kindes könne diesem unterhaltsrechtlich nicht zum Vorwurf gemacht werden. Es sei daher zu prüfen, ob ihn für die Zeit ab 2008 ein Verschulden daran treffe, keinen Arbeitsplatz zu finden, weil er über keine ausreichenden Deutschkenntnisse verfüge. Dies sei zu verneinen, weil keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass der Unterhaltsschuldner nur deswegen seine Deutschkenntnisse nicht verbessere bzw sonst keine Ausbildungschritte unternehme, um sich seiner Unterhaltspflicht zu entziehen. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil zur Frage, inwieweit nicht ausreichende Deutschkenntnisse eines seit Jahren in Österreich aufhältigen Konventionsflüchtlings zur Anwendung der Anspannungstheorie führen könnten, keine höchstgerichtliche Rechtsprechung bestehe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Kindes, der auf die Stattgebung der beantragten Unterhaltsfestsetzung abzielt.

Eine Revisionsrekursbeantwortung wurde nicht erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn eines Aufhebungsantrags (RIS‑Justiz RS0041774) auch berechtigt.

1. Der geltend gemachte Unterhaltsanspruch ist nach österreichischem Recht als dem Recht des gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes zu beurteilen (Art 1 Haager Unterhaltsstatutübereinkommen BGBl 1961/293 und Art 3 Abs 1 des auf Unterhaltsansprüche ab 18. 6. 2011 anzuwendenden Haager Protokolls über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht [HUntStProt 2007]). Das nach diesen Bestimmungen berufene Sachrecht bestimmt Unterhaltsschuldner, Umfang und sämtliche Voraussetzungen des Anspruchs (Art 5 des Haager Unterhaltsstatutübereinkommens und Art 11 HUntStProt 2007; vgl 4 Ob 126/11z).

2.1 Gemäß § 140 Abs 1 ABGB trifft den Unterhaltspflichtigen die Obliegenheit, alle persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Erbringung der Unterhaltsleistung so gut wie möglich einzusetzen. Unterlässt er dies, so wird er nach dem Anspannungsgrundsatz so behandelt, als beziehe er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (RIS‑Justiz RS0047686). Maßstab dafür ist das Verhalten eines pflichtbewussten Familienvaters (RIS‑Justiz RS0047495 [T2]). Der Anspannungsgrundsatz dient als eine Art Missbrauchsvorbehalt, wenn schuldhaft die zumutbare Erzielung von Einkünften versäumt wird, sodass der angemessene Unterhalt des Berechtigten nicht mehr gesichert ist (RIS‑Justiz RS0047511 [T2]). Die Anspannungsbeurteilung hat immer die realen Erwerbschancen auszuloten. Sie darf sich nicht in unbegründeten Fiktionen erschöpfen (8 Ob 27/10v). Die Behauptungs- und Beweislast für die zu einer Verminderung der Unterhaltspflicht führenden Umstände trifft den Unterhaltsschuldner (RIS‑Justiz RS0006261 [T2]).

Die Anspannung auf ein tatsächlich nicht erzieltes Einkommen darf somit nur dann erfolgen, wenn den Unterhaltsschuldner ein Verschulden daran trifft, dass er keine oder keine die Unterhaltspflichten deckende Erwerbstätigkeit ausübt. Das hypothetische Einkommen aus der Anspannung wird nach einer den subjektiven Fähigkeiten und der objektiven Arbeitsmarktlage entsprechenden sowie zumutbaren Erwerbstätigkeit gemessen. Subjektive Fähigkeiten und Zumutbarkeit werden im Wesentlichen durch Alter, berufliche Ausbildung, körperliche und geistige Verfassung sowie familiäre Belastung bestimmt. In diesem Rahmen sind die konkreten Erwerbschancen auf dem Arbeitsmarkt ausschlaggebend (RIS‑Justiz RS0047579 [T4]; 1 Ob 81/10h).

2.2 Mangels ausreichender Sachverhaltsgrundlage kann noch nicht abschließend beurteilt werden, ob dem Vater die Außerachtlassung zumutbarer Einkommensbemühungen zum Vorwurf gemacht werden kann (vgl RIS‑Justiz RS0047495 [T2]).

Das Rekursgericht bezieht die mangelnde Vermittelbarkeit des Vaters auf dessen ungenügende Deutschkenntnisse. Das Erstgericht begründet die schlechten Chancen des Vaters auf dem Arbeitsmarkt entsprechend den Ausführungen des berufskundlichen Sachverständigen mit dem Umstand, dass es sich um eine nicht integrierte Person handle. Auch diese Beurteilung ist auf die fehlenden Sprachkenntnisse zurückzuführen.

Allgemein gehört zur Obliegenheit, sich dauernd und intensiv um einen Arbeitsplatz zu bemühen, auch die Pflicht, die erforderlichen Sprachkenntnisse zu erwerben, um sich auf dem Arbeitsmarkt behaupten zu können. Entgegen der Beurteilung des Rekursgerichts schadet auch leichte Fahrlässigkeit (8 Ob 27/10v). Ohne besonders rücksichtswürdige Umstände, etwa im Hinblick auf die intellektuellen Fähigkeiten, sind bei einem mehrjährigen Aufenthalt im Gastland (hier sieben Jahre bzw drei Jahre ab der Geburt des Kindes) ausreichende Sprachkenntnisse zu erwarten, um sich auch im Arbeitsleben verständigen zu können.

Zum Gesundheitszustand hat das Erstgericht nur festgestellt, dass der Vater eine schwächliche Statur (1,80 m groß, 64 kg schwer) aufweise. Im erstinstanzlichen Verfahren hat der Vater auf eine erhebliche Verletzung seiner Hand bzw seines Arms hingewiesen (ON 28). Ob und gegebenenfalls welche (Hilfs-)Arbeiten dem Vater medizinisch möglich und zumutbar sind, wurde hingegen nicht geklärt.

Soweit das Erstgericht die mangelnde Vermittelbarkeit des Vaters auf die vom berufskundlichen Sachverständigen erwähnte Obdachlosigkeit bezieht, ist auf die Feststellung hinzuweisen, wonach er an der Adresse eines Sozialvereins gemeldet ist. Sollte der Vater bei diesem Verein untergebracht sein und dort betreut werden, so ist ohne besonders rücksichtswürdige Umstände nicht ersichtlich, warum er sich von dort aus nicht zu einer täglichen Arbeitsstelle begeben können sollte.

3. Ungeachtet der bisherigen Erwägungen ist für eine Anspannung des Vaters überhaupt vorausgesetzt, dass er legal eine Beschäftigung aufnehmen und ausüben kann. Voraussetzung für die Aufnahme einer Beschäftigung in Österreich ist das Vorliegen einer entsprechenden aufenthaltsrechtlichen Berechtigung (vgl § 7 AlVG). Die Berechtigung zum Aufenthalt (der Aufenthaltstitel) muss die Möglichkeit einer Beschäftigungsaufnahme in rechtlicher Hinsicht abdecken. Personen, denen der Status des Asylberechtigten (§ 2 Abs 1 Z 15 AsylG 2005) oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 2 Abs 1 Z 16 AsylG 2005) zuerkannt wurde, sind zum Aufenthalt in Österreich berechtigt. Auf diese Personen sind gemäß § 1 Abs 2 lit a AuslBG (idF ab BGBl I 2007/78; für vorher siehe VwGH Zl 2007/09/0152) die Bestimmungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes nicht anzuwenden. Dies bedeutet, dass ab dem Zeitpunkt der rechtskräftigen Zuerkennung dieses Status ein Aufenthaltstitel mit dem Recht zur Aufnahme einer unselbständigen Beschäftigung im Inland gegeben ist (VwGH Zl 2009/08/0263). Subsidiär Schutzberechtigte sind somit im Bereich des Ausländerbeschäftigungsgesetzes Asylberechtigten rechtlich gleichgestellt und dürfen daher sofort nach Zuerkennung dieses Status bewilligungsfrei eine Beschäftigung aufnehmen (215 RV BlgNR XXIII GP 3).

4. Aufgrund sekundärer Feststellungsmängel waren die Entscheidungen der Vorinstanzen in Stattgebung des Revisionsrekurses aufzuheben.

Zum Recht des Vaters, eine unselbständige Arbeit auszuüben, haben die Vorinstanzen bisher nicht Stellung genommen. Das Bundesasylamt hat in seinem Antwortschreiben (ON 34) ausgeführt, dass die befristete Aufenthaltsberechtigungskarte keine Arbeitsbewilligung darstelle und die Frage nach einer Arbeitsbewilligung vom AMS zu beantworten sei. Im Fall der Bejahung des Rechts zur Aufnahme und Ausübung einer unselbständigen Beschäftigung wird das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zu beurteilen haben, welche (Hilfs‑)Arbeiten dem Vater aufgrund seines gesundheitlichen Zustands medizinisch möglich und zumutbar sind. Im Weg der Ergänzung des berufskundlichen Sachverständigengutachtens wird sodann zu klären sein, ob für den Vater ‑ allenfalls ausgehend von genügenden Deutschkenntnissen für eine Beschäftigung und mit Rücksicht auf seine konkrete Wohnsituation und sein persönliches Umfeld ‑ eine realistische Chance auf eine Arbeitsstelle als Hilfsarbeiter besteht. Im Anschluss daran ist schließlich zu beurteilen, ob dem Vater die Unterlassung der Aufnahme einer allenfalls möglichen, zumutbaren und erlangbaren Erwerbstätigkeit im Sinn eines Verschuldens vorgeworfen werden kann.

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