Spruch:
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Text
Gründe:
Bei der Staatsanwaltschaft Klagenfurt ist zu AZ 10 St 273/09g ein Ermittlungsverfahren gegen Mag. Günter S***** und andere Verantwortliche der H***** wegen des Verdachts des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen anhängig.
Mag. Günter S***** legte am 18. Jänner 2011 bei seiner wiederholt fortgesetzten Vernehmung als Beschuldigter eine „erste Stellungnahme zum Geschäftsfall Ho***** d.o.o./P***** d.o.o.“ vor (ON 243 S 213 und S 217 ff). Er wies darauf hin, dass ihm „bis dato keinerlei Zeugenaussagen anderer - in den Geschäftsfall involvierter - Personen zur Kenntnis gebracht worden“ wären (ON 243 S 217).
Bei der Befragung des Mag. S***** am 2. Februar 2011 auch zum Inhalt seiner genannten schriftlichen Stellungnahme (ON 243 S 245 ff) wurden ihm Protokolle über die Aussagen von Mitbeschuldigten und Zeugen sowie weitere Ermittlungsergebnisse auszugsweise vorgehalten (ON 243 S 247 ff). Danach äußerte der Beschuldigte die Ansicht, dass ihm „im Zuge der heutigen Einvernahme bis um 16:30 Uhr nicht sämtliche ihn belastenden Aussagen und Unterlagen vorgehalten wurden“, weshalb er sich „außer Stande sieht, eine Verantwortung als Beschuldigter zu dem gegenständlichen Geschäftsfall abzugeben“ (ON 243 S 253).
Mit Eingabe vom 9. Februar 2011 erhob der Beschuldigte Einspruch wegen Rechtsverletzung, weil ihm - soweit für den Erneuerungsantrag von Relevanz - der Vorhalt sämtlicher ihn betreffender Zeugenaussagen „hinsichtlich des Geschäftsfalles 'Ho*****'“ verweigert worden sei (ON 1655).
Mit Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt vom 25. März 2011 (ON 1929) wurde der Einspruch in diesem Punkt abgewiesen.
Der dagegen erhobenen Beschwerde des Mag. S***** gab das Oberlandesgericht Graz als Beschwerdegericht mit Beschluss vom 13. Juli 2011, AZ 9 Bs 148/11z (ON 2404 des HR-Aktes), nicht Folge. Inhaltlich führte das Beschwerdegericht im Wesentlichen aus, eine zwingende Vorbefassung mit „sämtlichen relevanten Zeugenaussagen sowie allenfalls sonstigen Urkunden“ sei entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers aus der StPO nicht ableitbar, der Beschuldigte erst im Anschluss an eine zusammenhängende Äußerung seinerseits (§ 164 Abs 3 StPO) im Rahmen der vom Vernehmenden gestellten ergänzenden Fragen spätestens mit allen vorliegenden Verdachtsgründen zu konfrontieren (Kirchbacher, WK-StPO § 164 Rz 33).
Mit dem vorliegenden Erneuerungsantrag releviert Mag. S***** die Verletzung seiner Rechte nach § 164 Abs 3 StPO sowie „nach Art 6 MRK“, weil - kurz zusammengefasst - seine schriftliche Stellungnahme vom 18. Jänner 2011 als „allumfassende“ zusammenhängende Äußerung im Sinn des § 164 Abs 3 StPO anzusehen sei, in deren Anschluss dem Beschuldigten „vorneweg die belastenden Dokumente, Unterlagen und Zeugenaussagen (also mit anderen Worten: alle Verdachtsgründe)“ vorzuhalten gewesen wären. Indem dies unterlassen worden sei, widerspreche die „Vorgehensweise im Zuge der Einvernahme am 2. Februar 2011 […] auch der ständigen Judikatur des EGMR zu dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art 6 MRK“. Danach habe „(bereits) die Staatsanwaltschaft der Verteidigung alles Beweismaterial mitzuteilen“, das ihr vorliege, zwischen dem Vertreter der Anklage und dem Beschuldigten müsse „Waffengleichheit“ bestehen und müssten beide „in gleicher Weise von dem Vortrag der Gegenseite und Beweismitteln unterrichtet werden“; die Anklagebehörde müsse „den Beschuldigten über alle in ihrer Hand befindlichen Beweismittel für oder gegen den Beschuldigten informieren“.
Rechtliche Beurteilung
Der Erneuerungsantrag ist zulässig (RIS-Justiz RS0122228 [insbes T2]), aber nicht berechtigt.
Ohne ausdrücklich auf Art 6 Abs 3 lit a MRK Bezug zu nehmen lässt der Antrag mit noch hinreichender Deutlichkeit erkennen, dass sich der Beschuldigte in der Verletzung des in dieser Bestimmung jedem „Angeklagten“ eingeräumten Rechts beschwert erachtet, in möglichst kurzer Frist und in einer für ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden.
Unter gerade noch ausreichender Bezugnahme auf „Art 6 MRK“ in seiner Beschwerde an das Oberlandesgericht Graz hat der Beschuldigte Mag. S***** dem Erfordernis der horizontalen Rechtswegerschöpfung im Instanzenzug entsprochen (RIS-Justiz RS0122737 [T13]; Grabenwarter, EMRK4 § 13 Rz 31).
Gemäß Art 6 Abs 3 lit a MRK hat jeder Angeklagte das Recht, in möglichst kurzer Frist in einer für ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden. Obwohl Art 6 MRK vom „Angeklagten“ spricht, ist seine Anwendung im Ermittlungsverfahren nicht ausgeschlossen, nimmt doch der EGMR eine Anklage auch dann an, wenn eine offizielle Benachrichtigung an den Beschuldigten über den Tatvorwurf erfolgt und dadurch die Situation des Beschuldigten wesentlich beeinflusst worden ist. Das ist zwar immer bei einer Anklage der Fall, eine solche ist aber nicht zwingend erforderlich (Kühne in IntKomm EMRK Art 6 Rz 487; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention2 Rz 506).
Das Recht auf Information über Art und Grund der Beschuldigung hängt mit dem Recht auf Verteidigung nach Art 6 Abs 3 lit b MRK zusammen, denn ohne genaue Kenntnis der Beschuldigung ist eine angemessene Verteidigung nicht möglich. Daraus folgt, dass der Beschuldigte über die Tat, die ihm vorgeworfen wird und auch über die rechtliche Bewertung der Tatsachen im Einzelnen unterrichtet werden muss (Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar³, Art 6 Rz 89; Kühne in IntKomm EMRK Art 6 Rz 489 mwN).
Die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art 6 Abs 3 lit a MRK werden in § 6 Abs 2 StPO als strafprozessualer Grundsatz hervorgehoben sowie in §§ 49 Z 1, 50 und 164 Abs 1 erster Satz StPO inhaltlich konkretisiert und ergänzt. Danach ist jeder Beschuldigte durch die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft sobald wie möglich über das gegen ihn geführte Ermittlungsverfahren und den gegen ihn bestehenden Tatverdacht sowie über seine wesentlichen Rechte im Verfahren zu informieren. Diese Mitteilung kann unter der Voraussetzung unterbleiben, dass besondere Umstände die Gefährdung des Ermittlungszwecks befürchten lassen (Achammer, WK-StPO § 50 Rz 6).
Vor seiner Vernehmung zur Sache ist der Beschuldigte jedenfalls über den gegen ihn bestehenden Tatverdacht, seine Rechte und sämtliche Verdachtsgründe aufzuklären, damit er diese durch eine zusammenhängende Erklärung entkräften kann (Achhammer, WK-StPO § 50 Rz 7; Kirchbacher, WK-StPO § 164 Rz 9, 10).
Besondere Anforderungen an die Art und Weise der Unterrichtung stellt auch Art 6 Abs 3 lit a MRK nicht, im Vorverfahren genügt eine mündliche Mitteilung der Beschuldigungen (Kühne in IntKomm EMRK Art 6 Rz 492).
Dieser Informations- und Belehrungspflicht ist die Staatsanwaltschaft - dem ungerügt gebliebenen Protokoll zufolge - bereits zu Beginn der Vernehmung des Beschuldigten nachgekommen (ON 243 S 3). Anschließend wurde Mag. S***** zu den jeweiligen Faktenkomplexen gesondert vernommen. Noch ehe er zu den Geschäftsfällen „Ho***** d.o.o.“ und „P***** d.o.o.“ befragt wurde, legte er eine diesen Sachverhalt betreffende schriftliche Stellungnahme, datiert mit 18. Jänner 2011, vor. Bereits darin wies er darauf hin, dass ihm sämtliche gegen ihn vorliegende Beweise vorzuhalten wären (ON 243 S 217).
Diese schriftliche Stellungnahme ist - dem Standpunkt des Erneuerungswerbers zuwider - nicht als eine zusammenhängende Darstellung im Sinn des § 164 Abs 3 zweiter Satz StPO aufzufassen. Vielmehr sieht das Gesetz grundsätzlich eine mündliche Vernehmung des Beschuldigten vor. Nur bei schwierigen Fragen, die besondere Sachkunde voraussetzen oder eine Beurteilung durch einen Sachverständigen erfordern, ist dem Beschuldigten die Möglichkeit einer (seine mündliche Vernehmung nicht zur Gänze ersetzenden, sondern bloß) ergänzenden schriftlichen Äußerung einzuräumen (§ 164 Abs 3 dritter Satz StPO; vgl Kirchbacher, WK-StPO § 164 Rz 34).
Im Zuge der anschließenden Vernehmung des Beschuldigten zu den Fakten der schriftlichen Stellungnahme wurden ihm sukzessive die Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und Zeugen ebenso vorgehalten wie sonstige Ermittlungsergebnisse (ON 243 S 245 ff; vgl Kirchbacher, WK-StPO § 164 Rz 33). Welche darüber hinaus allenfalls vorhandenen Beweisergebnisse vorzuhalten gewesen wären, legt der Antragsteller nicht dar.
Ebenso wenig wird der Einwand erhoben, ihm oder seinem Verteidiger wäre das Recht auf vollständige Akteneinsicht verweigert worden.
Davon ausgehend sowie mit Blick darauf, dass die Opfereigenschaft nach Art 34 MRK nur dann anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer substanziiert und schlüssig vorträgt, in einem bestimmten Konventionsrecht verletzt zu sein, wird mit der bloßen Behauptung, dem Beschuldigten wären „die ihn allenfalls belastenden“ - im Erneuerungsantrag nicht näher bezeichneten - „Zeugenaussagen nicht vorgehalten“ worden, weshalb „auch keine sinnvolle und faire Verteidigung möglich“ gewesen sei, eine Grundrechtsverletzung nicht ausreichend deutlich und bestimmt bezeichnet (RIS-Justiz RS0124359).
Im Übrigen richtet sich der Umfang der dem Beschuldigten bzw dem Angeklagten zu vermittelnden Informationen stets nach dem Verfahrensstand (Villiger, Handbuch der EMRK2 Rz 507). Es muss daher berücksichtigt werden, dass eine gemäß Art 6 Abs 3 lit a MRK erforderliche Information über alle Einzelheiten in der Regel gerade zu Beginn, zum Teil - in abgeschwächter Form - aber auch noch im Laufe des Ermittlungsverfahrens kaum möglich ist (14 Os 108/10d).
Die vom Erneuerungswerber angesprochene Judikatur des EGMR zum Grundsatz der Waffengleichheit als Teilaspekt eines fairen Verfahrens gemäß Art 6 Abs 1 MRK bezieht sich hingegen - ganz im Sinn der obigen Ausführungen - auf das Haupt- bzw (überwiegend) auf das Rechtsmittelverfahren (vgl EGMR 24. 6. 2003, Dowsett gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 39482/98, Z 41 ff, insbes Z 46; zu EGMR 28. 8. 1991, Brandstetter gegen Österreich, Nr 37/1990/228/292-994, RIS-Justiz RS0105619).
Der Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens war daher in Übereinstimmung zur Stellungnahme der Generalprokuratur (§ 363b Abs 1 StPO), jedoch entgegen der Äußerung des Mag. S***** schon bei nichtöffentlicher Beratung als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).
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