OGH 14Os108/10d

OGH14Os108/10d28.9.2010

Der Oberste Gerichtshof hat am 28. September 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Mag. Hautz in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Reichly als Schriftführerin in der Strafsache gegen Julius M***** wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 334 HR 436/08g des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Beschuldigten Erwin L***** auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Bei der Staatsanwaltschaft Wien ist zur Zahl 608 St 1/08w ein Ermittlungsverfahren gegen Julius M*****, mehrere Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der M*****, der M***** Ltd, der Julius M***** AG und der M***** AG und andere Beschuldigte unter anderem wegen des Verdachts des Verbrechens der Untreue nach §§ 153 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall, 12 StGB zum Nachteil der M***** bzw deren Zertifikatsinhaber anhängig, welches durch nicht ordnungsgemäß veröffentlichten Zertifikatsrückkauf, Ankauf eigener Zertifikate zu überhöhtem Preis, Zurverfügungstellung von Geldern an die M***** AG im Rahmen des Placement- und Market Maker Agreements und Zahlung bezughabender Gebühren sowie Beitragshandlungen dazu begangen worden sein soll.

Am 15. April 2009 wurde der seit 1. Februar 1995 bei der M***** AG beschäftigte Erwin L***** als Zeuge vernommen (ON 270). Gegenstand dieser Vernehmung war unter anderem der Aufgabenbereich des Zeugen im Zusammenhang mit der von der M***** AG gegenüber der Wiener Börse übernommenen Aufgabe als „Market Maker“. Im Zuge der Vernehmung wurde dem Zeugen eine Dienstanweisung vom 1. Juni 2006 vorgehalten, wonach die M***** AG seit Juli 2004 auf Basis eines Vertrags für und auf Rechnung der M***** tätig sei. Die Aufgabe des Zeugen habe seinen eigenen Angaben zufolge unter anderem darin bestanden, die Volatilität (Kursschwankungen) der „ADCs“ (Zertifikate der M*****, Austrian Depository Certificates) durch Käufe und Verkäufe gering zu halten, wobei es jedoch nicht Aufgabe eines Market Maker sei, den Kurs zu beeinflussen. Über Vorhalt einer graphischen Darstellung der Verkäufe/Käufe vom 27. Juli 2007, aus welcher (so der Vorhalt) hervorgehe, dass (hier) keine Kurspflege durch den „Market Maker“, sondern Kursbeeinflussung betrieben worden sei, gab der Zeuge an, sich an konkrete Ereignisse von diesem Tag nicht mehr erinnern zu können. Über weiteren Vorhalt, dass die von der M***** AG erworbenen ADCs insbesondere im Monat Mai 2007 nicht mehr geeignet waren, die Volatilität gering zu halten, sondern vielmehr den Kurs zu beeinflussen, äußerte der Zeuge weiters, sich strikt an die Dienstanweisung gehalten zu haben und dass es keine darüber hinausgehenden Weisungen seitens der M***** AG, insbesondere Herrn W*****, welchen er täglich über Käufe/Verkäufe informiert habe, gegeben habe. Da nach Ansicht des vernehmenden Staatsanwalts der Verdacht bestand, „dass der Zeuge in die strafbaren Handlungen verwickelt ist“, wurde die Zeugenvernehmung abgebrochen und als Beschuldigtenvernehmung fortgesetzt.

Nachdem Erwin L***** über seine Rechte als Beschuldigter informiert worden war, ersuchte dieser im Hinblick darauf, dass die von ihm der Vernehmung beigezogene Vertrauensperson nicht als Verteidiger zur Verfügung stehe, um „Vertagung der Beschuldigteneinvernahme“, welchem Begehren entsprochen wurde (ON 270 S 13).

Mit Schriftsatz vom 18. Mai 2009 beantragte der Erneuerungswerber, die Staatsanwaltschaft möge ihn über den gegen ihn bestehenden Tatverdacht informieren.

Anlässlich der am 26. Mai 2009 fortgesetzten Beschuldigtenvernehmung wurde Erwin L*****, wie er selbst einräumt, mitgeteilt, dass Gegenstand der Vernehmung „Wertpapierrückkäufe“ seien und der Verdacht bestehe, dass er dadurch einen „Beitrag zur Untreue“ geleistet habe. Über ausdrücklichen Wunsch des Beschuldigten, welcher keine weiteren Angaben in der Sache machen wollte, wurde protokolliert, dass „das Verfahren gegen mich wegen Beitragtäterschaft zur Untreue“ geführt werde (ON 402 S 3).

Mit Eingabe vom 29. Mai 2009 erhob der Beschuldigte einen Einspruch wegen Rechtsverletzung, weil er - soweit hier von Bedeutung - über den gegen ihn bestehenden Tatverdacht nicht hinreichend iSd § 50 StPO belehrt worden sei. Zur Begründung führte er aus, dass aus der ihm erteilten Information nicht entnehmbar sei, wer als unmittelbarer Täter verdächtig sei, noch welcher Schaden durch eine solche Vorgangsweise im Vermögen des Machthabers eingetreten sein sollte, aber auch nicht, wie er durch von ihm im Rahmen einer Dienstanweisung vorgenommene Wertpapierzukäufe einen ungesetzlichen Beitrag zu einer undefinierten Untreuehandlung gesetzt haben sollte (ON 445).

Mit Beschluss vom 30. Juli 2009 wies die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien diesen Einspruch ab (ON 594).

Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht mit Beschluss vom 4. März 2010, AZ 22 Bs 308/09v, mit der - zusammengefasst wiedergegebenen - Begründung nicht Folge, dass die Informationspflicht iSd § 50 StPO und des Art 6 Abs 3 lit a MRK zwangsläufig durch den jeweiligen Ermittlungsstand begrenzt sei. Fallbezogen sei daher der Beschwerdeführer ganz zu Beginn des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens, nämlich bereits am 15. April 2009, sowie neuerlich am 26. Mai 2009 über den gegen ihn bestehenden Verdacht und die rechtliche Qualifikation belehrt worden, wobei die zuvor durchgeführte Befragung (als Zeuge) indiziere, dass diesem der Sachverhalt „dem Beginn des Ermittlungsverfahrens gegen ihn entsprechend“ bekannt geworden sei.

Mit dem gegenständlichen Antrag begehrt Erwin L***** mit der unter inhaltlicher Wiederholung seines bisherigen Beschwerdevorbringens erhobenen Behauptung einer Verletzung im Grundrecht nach Art 6 Abs 3 lit a MRK die Erneuerung des Beschwerdeverfahrens vor dem Oberlandesgericht Wien.

Rechtliche Beurteilung

Der Antrag ist zulässig (RIS-Justiz RS0122228, [insbesondere T2]), aber nicht berechtigt.

Gemäß Art 6 Abs 3 lit a MRK hat jeder Angeklagte das Recht, in möglichst kurzer Frist in einer für ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden. Obwohl Art 6 MRK vom „Angeklagten“ spricht, ist seine Anwendung im Ermittlungsverfahren nicht ausgeschlossen, nimmt doch der EGMR eine Anklage auch dann an, wenn eine offizielle Benachrichtigung an den Beschuldigten über den Tatvorwurf erfolgt und dadurch die Situation des Beschuldigten wesentlich beeinflusst worden ist. Das ist zwar immer bei einer Anklage der Fall, eine solche ist aber nicht zwingend erforderlich (Kühne in IntKomm EMRK Art 6 Rz 487; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention Rz 506).

Das Recht auf Information über Art und Grund der Beschuldigung hängt mit dem Recht auf Verteidigung nach Art 6 Abs 3 lit b MRK zusammen, denn ohne genaue Kenntnis der Beschuldigung ist eine angemessene Verteidigung nicht möglich. Daraus folgt, dass der Beschuldigte über die Tat, die ihm vorgeworfen wird und auch über die rechtliche Bewertung der Tatsachen im Einzelnen unterrichtet werden muss (Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar², Art 6 Rz 89; Kühne in IntKomm EMRK Art 6 Rz 489 mwN).

In Umsetzung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben und in Konkretisierung der Grundsatzbestimmung des § 6 Abs 2 StPO bestimmt § 50 erster Satz StPO, dass jeder Beschuldigte durch die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft sobald wie möglich über das gegen ihn geführte Ermittlungsverfahren und den gegen ihn bestehenden Tatverdacht sowie über seine wesentlichen Rechte im Verfahren (§§ 49, 164 Abs 1) zu informieren ist. Die Information kann mündlich oder schriftlich - auch unter Verwendung eines individualisierten Formblattes - erteilt werden (Achhammer, WK-StPO § 50 Rz 10; Fabrizy StPO10 § 50 Rz 1; ErläutRV 25 BlgNr 22. GP 43 f). Der Beschuldigte ist jedenfalls vor seiner Vernehmung zur Sache über den gegen ihn bestehenden Tatverdacht, seine Rechte und über sämtliche Verdachtsgründe aufzuklären, damit er durch eine zusammenhängende Erklärung diese entkräften kann (Achhammer, WK-StPO § 50 Rz 7).

Besondere Anforderungen an die Art und Weise der Unterrichtung stellt auch Art 6 Abs 3 lit a MRK nicht, im Vorverfahren genügt eine mündliche Mitteilung der Beschuldigungen (Kühne in IntKomm EMRK Art 6 Rz 492).

Wie bereits das Oberlandesgericht zutreffend ausführte, ist beim Umfang der Informationspflicht auf den Verfahrensstand abzustellen (vgl Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention Rz 507) und es ist zu berücksichtigen, dass eine von Art 6 Abs 3 lit a MRK geforderte Information über alle Einzelheiten in der Regel zu Beginn des Ermittlungsverfahrens kaum möglich ist (Kühne in IntKomm EMRK Art 6 Rz 494). Eine vollständige detaillierte Information betreffend die Anschuldigungen gegen den Beschuldigten und die rechtliche Qualifikation, welche das Gericht in der Angelegenheit voraussichtlich vornehmen wird, ist zwar eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass ein Verfahren fair ist, doch wird eine entsprechende Unterrichtung in der Regel erst im Zeitpunkt der Einbringung der Anklage möglich und auch notwendig sein (vgl ErläutRV 25 BlgNR 22. GP S 46 f, FN 138 unter Bezugnahme auf EGMR 19. 12. 1989 Kamasinski gegen Österreich [ÖJZ 1990/10]).

Diesen Kriterien wird die dem Erneuerungswerber am 15. April 2009 und am 26. Mai 2009 (und somit zu Beginn des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens) erfolgte Information insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass sie im Zusammenhang mit der bereits zuvor erfolgten, umfangreichen Vernehmung des Erwin L***** als Zeuge, in deren Rahmen ihm der Gegenstand der ihn (zunächst als Zeugen betreffenden) Ermittlungen, insbesondere auch der Umstand, dass im Zusammenhang mit Wertpapier(-rück-)käufen der Vorwurf der Kursbeeinflussung bestehe, bereits bekannt wurde und konkrete Vorhalte erfolgten, gerecht. Die rechtliche Qualifikation des Vorwurfs wurde ihm ausdrücklich (schriftlich) zur Kenntnis gebracht.

Ob die dem Beschuldigten mitgeteilten Umstände die vorgenommene rechtliche Qualifikation zu tragen vermögen, ist unter dem Aspekt des Art 6 Abs 3 lit a MRK unerheblich.

Im Übrigen legt der Erneuerungswerber nicht dar, weshalb die ihm erteilte Information eine sinnvolle Verteidigung nicht ermöglichen sollte.

Mit der hypothetischen, offenbar aus der Ansicht des Antragstellers, dass die ihm „bisher eröffneten Umstände keine Tat darstellen, die mit gerichtlicher Strafe bedroht ist“, abgeleiteten Behauptung, die Staatsanwaltschaft hätte nicht alle ihr bekannten Einzelheiten und Umstände des gegen ihn bestehenden Tatverdachts angegeben, wird eine Grundrechtsverletzung nicht deutlich und bestimmt bezeichnet (RIS-Justiz RS0124359).

Der Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens war daher der Stellungnahme der Generalprokuratur folgend (§ 363b Abs 1 StPO) schon bei nichtöffentlicher Beratung als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 StPO).

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