OGH 9Ob76/06a

OGH9Ob76/06a27.9.2006

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling, Dr. Hradil, Dr. Hopf sowie Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Alexandru N*****, Sänger, *****, vertreten durch Prof. Dr. Kurt Dellisch und Dr. Josef Kartusch, Rechtsanwälte in Klagenfurt, gegen die beklagte Partei L*****gesellschaft, *****, vertreten durch Dr. Ernst Maiditsch Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Klagenfurt, wegen EUR 65.796,11 sA und Feststellung (Streitwert EUR 4.360,37; Gesamtstreitwert EUR 70.156,48), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 15. Dezember 2005, GZ 4 R 185/05s-106, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung

Rechtliche Beurteilung

Zur ärztlichen Aufklärungspflicht liegt eine umfangreiche Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vor (vgl Übersicht bei Harrer in Schwimann, ABGB³ Rz 45 ff zu § 1300 ua), deren Grundsätze vom Berufungsgericht richtig wiedergegeben wurden. Der Arzt muss den Patienten, um ihm eine selbstbestimmte Entscheidung zu ermöglichen, über mehrere zur Wahl stehende diagnostische oder therapeutische adäquate Verfahren informieren und das Für und Wider mit ihm abwägen, wenn jeweils unterschiedliche Risiken entstehen können und der Patient eine echte Wahlmöglichkeit hat (3 Ob 229/04d; 5 Ob 121/06i; RIS-Justiz RS0026426 ua). Die Aufklärungspflicht hängt von der vitalen Bedeutung des Eingriffs für den Patienten ab (10 Ob 503/93 mwN ua). Sie ist um so umfassender, je weniger dringlich der Eingriff ist (8 Ob 33/01p; 9 Ob 30/03g; RIS-Justiz RS0026772 ua). Umgekehrt braucht die Aufklärung um so weniger umfassend zu sein, je notwendiger der Eingriff für die Gesundheit des Patienten ist (3 Ob 545/82, SZ 55/114 ua). Bei einem dringenden Eingriff, der für den Patienten vitale Bedeutung hat, darf die Aufklärungspflicht des Arztes nicht überspannt werden (vgl 6 Ob 318/00h; RIS-Justiz RS0026375 ua). Es ist zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und der ärztlichen Hilfeleistungspflicht abzuwägen (vgl 7 Ob 15/04p ua).

Richtig ist, dass bei Eingriffen, die nicht der Heilung oder der Rettung des Patienten, sondern „nur" der Diagnose dienen, strenge Anforderungen an das Ausmaß der Aufklärung zu stellen sind (vgl 6 Ob 683/84 ua). Dies liegt aber durchaus auf der allgemeinen Linie der Rechtsprechung, dass es auf die Dringlichkeit bzw Lebensnotwendigkeit des Eingriffs ankommt. Die sichere Diagnose vor einem vermuteten dringlichen Eingriff ist nicht weniger dringlich als der Eingriff selbst. Letztlich ist der konkrete Umfang der Aufklärungspflicht - gleichgültig ob Diagnose oder Operation - stets eine Frage des Einzelfalls, die von den jeweiligen Umständen abhängt und daher regelmäßig keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO darstellt (RIS-Justiz RS0026529 ua). Entgegen der Auffassung des Revisionswerbers kommt es bezüglich der Beurteilung der Erheblichkeit der Rechtsfrage auch nicht darauf an, ob „in einem der größten Krankenhäuser Österreichs" Patienten im Fall einer Angiographie „generell" nicht aufgeklärt werden, sondern allein darauf, ob im Fall des Klägers das Ausmaß der ärztlichen Aufklärungspflicht vom Berufungsgericht vertretbar beurteilt wurde. Nach den getroffenen Feststellungen wurde der Kläger am 4. 2. 1999 vor Mitternacht mit einer spontanen Subarachnoidalblutung („Gehirnblutung") in das Krankenhaus der Beklagten eingeliefert. Derartige Blutungen sind in knapp 80 % der Fälle auf eine plötzliche Zerreißung eines Aneurysmas der Hirnbasisarterien zurückzuführen. Bei jeder spontanen Subarachnoidalblutung handelt es sich um ein lebensbedrohendes neurologisches Zustandsbild. Die Prognose für den Patienten ist schlecht: 25 % der Patienten sterben innerhalb der ersten Woche. Ohne Operation liegt die Sterblichkeit bei 70 % in fünf Jahren. Jede weitere Blutung verringert die Überlebensaussichten des Patienten exponentiell. Es bestand die Gefahr einer Fülle von jederzeit möglichen Komplikationen, welche jede für sich sehr rasch auftreten und für den Kläger hätte lebensbedrohlich sein können. Weder die Klassifizierung der Subarachnoidalblutung noch ein guter klinischer Zustand des Klägers sagten etwas über die Prognose der Blutung aus. Beim Kläger lag ein echter Notfall vor, der eine dringende Abklärung durch Angiographie zwingend notwendig machte. Eine andere gleichwertige Untersuchungsmethode stand im Februar 1999 nicht zur Verfügung. Es musste daher so rasch wie möglich noch in der Nacht um 2 Uhr 20 eine Angiographie vorgenommen werden, um die Blutungsquelle klären und diese raschest operieren zu können. Im vorliegenden Fall bestand sohin mangels medizinischer Alternative keine echte Wahlmöglichkeit für den in Lebensgefahr schwebenden Patienten. Stellt man nun auch auf die besondere Situation des Klägers ab, der sich in den ärztlichen Eingriff zwar fügte, jedoch trotz eklatanter Dringlichkeit seine lebensbedrohende Situation negierte bzw verdrängte, so kann in der Verneinung einer (weiteren) ärztlichen Aufklärungspflicht hinsichtlich einer extrem seltenen Komplikation in Gestalt einer allfälligen länger anhaltenden homonymen Hemianopsie („Gesichtsfeldeinschränkung"), deren konkrete Ursache nicht einmal in der (hier fachgerecht durchgeführten) Angiographie liegen muss, sondern schon in einem Gefäßspasmus auf Grund der Subarachnoidalblutung an sich liegen kann, im konkreten Einzelfall keine vom Obersten Gerichtshof wahrzunehmende unvertretbare Beurteilung des Berufungsgerichts erblickt werden (vgl RIS-Justiz RS0026313 ua).

Die Befürchtung des Revisionswerbers, das Berufungsgericht wäre von dem vom Erstgericht mit großer Sorgfalt festgestellten Sachverhalt abgewichen, ist unbegründet. Entgegen der Annahme des Revisionswerbers lassen sich auch keine allgemeinen Richtlinien darüber aufstellen, ab welchem Häufigkeitsgrad eines Eingriffsrisikos in welchem Umfang aufgeklärt werden muss (RIS-Justiz RS0026437 ua). Die außerordentliche Revision des Klägers ist mangels Aufzeigens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

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