OGH 11Os55/04

OGH11Os55/0427.7.2004

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Juli 2004 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Mayrhofer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Danek, Dr. Schwab und Dr. Lässig als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Finster als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Michael H***** wegen der Verbrechen nach § 28 Abs 2 vierter Fall SMG und § 15 StGB, § 28 Abs 2 vierter Fall SMG sowie anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Schöffengericht vom 16. Februar 2004, GZ 30 Hv 99/03i-10, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil - teilweise auch aus deren Anlass gemäß § 290 Abs 1 StPO - aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Michael H***** der Verbrechen nach § 28 Abs 2 vierter Fall SMG und § 15 StGB, § 28 Abs 2 vierter Fall SMG (I) sowie der Vergehen nach § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall SMG (II) schuldig erkannt.

Danach hat er von April bis Dezember 2001 in Salzburg und anderen Orten den bestehenden Vorschriften zuwider

I. durch Verkauf von insgesamt 480 Ecstasy-Tabletten (mit 36 Gramm Reinsubstanz MDMA, MDA und MDE) an im Urteil genannte Suchtgiftabnehmer ein Suchtgift in einer großen Menge in Verkehr gesetzt (zu ergänzen: und in Verkehr zu setzen versucht);

II. unbekannte Mengen an Ecstasy-Tabletten, Speed und Kokain erworben und bis zum Eigenkonsum besessen.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die ausdrücklich nur den Schuldspruch I bekämpfende, auf § 281 Abs 1 Z 5 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten; sie ist im Recht. Zutreffend zeigt die Mängelrüge (Z 5) auf, dass die für die Annahme einer großen Menge Suchtgiftes (§ 28 Abs 6 SMG) und damit für die vorgenommene Subsumtion der zu I genannten Tat entscheidenden Feststellungen offenbar unzureichend begründet sind. Denn die Tatrichter haben ihre Konstatierungen, wonach das durchschnittliche Gewicht der in Verkehr gesetzten (480) Ecstasy-Tabletten 0,25 Gramm und der durchschnittliche Wirkstoffgehalt 30% betrug (sodass hieraus eine die Grenzmenge von 30 Gramm übersteigende Menge von 36 Gramm resultierte), auf als gerichtsnotorisch bezeichnete Erkenntnisse "aus einer Vielzahl von Suchtgiftprozessen am Landesgericht Salzburg" gestützt (US 9).

Notorische sowie (bloß) gerichtskundige Tatsachen bedürfen keiner Beweisaufnahme (Platzgummer8, 19; EvBl 1996/30). Erstere sind solche, deren Kenntnis bei jedermann mit durchschnittlichem Interesse am menschlichen Wissensschatz vorausgesetzt werden kann, letztere hingegen solche, die nur bei - jedenfalls sämtlichen erkennenden (vgl Fabrizy StPO9 § 118 Rz 1) - Richtern (gewonnen aus amtlicher Tätigkeit) vorliegen.

Ein Angeklagter hat aber ein Recht darauf, nicht von einer ihm uU unbekannten (bloßen) Gerichtskundigkeit im Tatsachenbereich überrascht zu werden. Liegt nämlich eine Tatsache nicht für Gericht und Parteien gleichermaßen auf der Hand, kann von einem den Garantien des Art 6 EMRK entsprechenden Verfahren nicht die Rede sein (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 463; Mayerhofer StPO5 § 258 E 167; 11 Os 142/01). Ein Verstoß gegen das Fair-trial-Gebot liegt aber dann nicht vor, wenn die gerichtskundige Tatsache bereits in der in der Hauptverhandlung vorgetragenen Anklageschrift dargestellt wurde (12 Os 49/04; hier S 137, 152; vgl auch S 154, 156) oder sonst eine Erörterung in der Hauptverhandlung (zB im Rahmen des § 238 Abs 2 StPO oder des § 262 StPO) stattfand.

Darüber hinausgehendes dienstliches Wissen einzelner Berufsrichter über Inhalt und Ergebnisse anderer Verfahren darf das erkennende Gericht aber nicht ohne Beweisaufnahme verwerten und zur Grundlage von Feststellungen machen (Mayerhofer StPO5 § 258 E 167; 11 Os 142/01).

Was als allgemein notorisch, als gerichtsnotorisch, oder bloß als richterliches Einzelwissen anzusehen ist, ist eine Wertungsfrage, die der Oberste Gerichtshof im Einzelfall zu lösen hat (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 463).

Während nach der Judikatur der durchschnittliche Reinheitsgehalt der seit Jahrzehnten bekannten Drogen Haschisch (EvBl 1999/166; 12 Os 49/04) und Heroin (15 Os 6/91; 12 Os 90/92) als gerichtsnotorisch anzusehen ist, kann hievon hinsichtlich der Annahme eines durchschnittlichen Wirkstoffgehalts von 30 % der in Salzburg in Verkehr gesetzten - nach den bisherigen Wahrnehmungen des Obersten Gerichtshofs grundsätzlich mit recht unterschiedlichen Wirkstoffen und Reinheitswerten versehenen - Ecstasy-Tabletten nicht die Rede sein.

Das Erstgericht wäre daher verpflichtet gewesen, seine Erkenntnisse "aus einer Vielzahl von Suchtgiftprozessen am Landesgericht Salzburg" durch entsprechende Beweisaufnahme in das gegenständliche Verfahren einzubringen. Gerade im vorliegenden Fall ist die Feststellung des Reinheitsgehaltes von besonderer Relevanz, weil bereits bei einem solchen von unter 25 % (oder einem entsprechend geringeren Gewicht der in Verkehr gesetzten Tabletten) die große Menge nicht erreicht wäre. Da sich das Urteil somit in einem entscheidungswesentlichen Punkt auf Umstände stützt, die in den vorliegenden Verfahrensergebnissen keine Deckung finden, ist es unzureichend begründet.

Der Schuldspruch I war daher infolge Begründungsmängeln aufzuheben und die Verfahrenserneuerung anzuordnen (§ 285e StPO). Damit war aber gemäß § 290 Abs 1 StPO auch der Schuldspruch II (wegen der Vergehen nach § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall SMG) zu kassieren, weil deren Strafbarkeit nach der Zeit ihrer Begehung für sich allein infolge Verjährung erloschen wäre, war doch die hier einjährige Verjährungsfrist bei Einleitung des Verfahrens am 8. April 2003 (S 2) bereits verstrichen. Eine Ablaufhemmung dieser Frist gemäß § 58 Abs 2 StGB käme nur hinsichtlich jener Vergehen des § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall SMG in Betracht, die vor Abschluss einer als Verbrechen nach § 28 Abs 2 vierter Fall beurteilten Delinquenz begangen wurden (Foregger in WK2 § 58 Rz 6).

Im zweiten Rechtsgang wird das Schöffengericht durch geeignete Beweisaufnahmen in der Hauptverhandlung (zB durch Einholung eines Sachverständigengutachtens und/oder Verlesung der Ergebnisse aus anderen Verfahren) zu klären haben, ob dem Angeklagten tatsächlich das Inverkehrsetzen einer großen Menge Suchtgiftes zur Last zu legen ist.

Dabei wird zu beachten sein, dass bei sukzessivem Inverkehrsetzen mehrerer, für sich allein die Grenzmenge nicht erreichender Suchtgiftquanten diese nur dann jeweils zu großen Mengen zusammenzurechnen sind, wenn der Wille (§ 5 StGB) des Täters - und nicht bloß ein zeitlich nicht klar eingeordnetes Bewusstsein (vgl jedoch US 6) - von vornherein die kontinuierliche Begehung und den daran geknüpften Additionseffekt mitumfasst (13 Os 10/03). Nur im Fall, dass erneut Feststellungen in objektiver und subjektiver Hinsicht zum Inverkehrsetzen einer großen Menge Suchtgiftes getroffen werden können, ist ein Schuldspruch möglich, andernfalls wird von der zu I angeklagten Tat (aus den oben bereits zu II genannten Gründen) infolge Verjährung (§ 57 StGB) freizusprechen sein. Im Übrigen wird - in Hinblick auf die durch das Erstgericht vorgenommene rechtliche Beurteilung der über die große Menge von 30 Gramm hinausgehenden Quantität von 6 Gramm als versuchtes Verbrechen nach § 15 StGB, § 28 Abs 2 vierter Fall SMG - gegebenenfalls auch zu beachten sein, dass bezüglich der - eine große Menge Suchgifts überschreitenden - Restmenge entweder ein (oder mehrere) Vergehen nach § 27 Abs 1 sechster oder siebenter Fall SMG oder ein im Versuchsstadium gebliebenes weiteres Verbrechen nach § 28 Abs 2 vierter Fall SMG vorliegen kann. Ob hinsichtlich der Restmenge statt § 27 Abs 1 sechster oder siebenter Fall SMG ein solches im Versuchsstadium gebliebenes weiteres Verbrechen anzunehmen ist, hängt fallbezogen davon ab, ob der Täter seinen Entschluss, erneut eine große Menge in Verkehr zu setzen, schon durch eine der Ausführung unmittelbar vorangehende Handlung betätigt hat (vgl 13 Os 10/03 = EvBl 2003/133; 14 Os 166/03; 14 Os 29/04). Das Verbrechen nach § 28 Abs 2 vierter Fall SMG wird dadurch ausgeführt, dass eine große Menge eines Suchtgiftes (§ 28 Abs 6 SMG), über welche der Täter tatsächlich verfügt, in Verkehr gesetzt wird. Geschieht das Inverkehrsetzen mehraktig, liegt demnach eine Ausführungshandlung erst dann vor, wenn sich diese tatsächliche Verfügungsgewalt über eine insgesamt große Menge zur Gänze realisiert hat. Ausführungshandlung beim mehraktigen Inverkehrsetzen einer insgesamt großen Menge Suchtgift kann demnach nur jener Akt sein, der beim in Verkehr gesetzten Suchtgift zum Erreichen der Grenzmenge führt, gleichsam "das Fass zum Überlaufen bringt" (vgl auch Kirchbacher/Presslauer in WK2 § 146 Rz 124). Hievon kann aber dann nicht die Rede sein, wenn der Täter über die für eine weitere große Menge erforderliche Quantität noch gar nicht verfügt, sodass diesfalls (nur) ein - hier uU verjährtes - Vergehen nach § 27 Abs 1 sechster oder siebenter Fall SMG vorläge (vgl 13 Os 40/04). Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.

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