OGH 10ObS412/02i

OGH10ObS412/02i14.1.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Eveline Umgeher (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Thomas Albrecht (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj. Laura Elisabeth F*****, geboren am 28. Mai 1990, *****, vertreten durch die Mutter Walpurga F*****, ebendort, diese vertreten durch Dr. Franz P. Oberlercher, Rechtsanwalt in Spittal an der Drau, gegen die beklagte Partei Land Kärnten, vertreten durch das Amt der Kärntner Landesregierung, Arnulfplatz 2, 9021 Klagenfurt, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12. September 2002, GZ 7 Rs 186/02f-16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 8. Februar 2002, GZ 34 Cgs 233/01p-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 28. 5. 1990 geborene Klägerin hat am 19. 10. 1997 durch ein umstürzendes Fußballtor ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten, das zahlreiche Funktionen des Gehirns maßgebend beeinträchtigt hat. Sie bezieht vom beklagten Land Kärnten aufgrund des Bescheides vom 12. 12. 1999 seit 1. 6. 1998 Pflegegeld der Stufe 3. Die Klägerin bedarf der Hilfe beim An- und Auskleiden, der täglichen Körperpflege, der Zubereitung der Mahlzeiten, der Einnahme der Mahlzeiten, der Verrichtung der Notdurft, der Reinigung bei Inkontinenz, der Katheterpflege, der Herbeischaffung der Bedarfsgüter, der Reinigung der Wohnung, der Pflege der Wäsche, der Heizung sowie der Mobilitätshilfe im engeren und weiteren Sinn. Mit Bescheid vom 15. 5. 2001 wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 28. 3. 2001 auf Gewährung eines über die Stufe 3 hinausgehenden Pflegegelds ab.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene, auf Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 5 ab 1. 3. 2001 gerichtete Klage ab. Entsprechend der Einstufungsverordnung zum Kärntner Pflegegeldgesetz bestehe folgender Pflegebedarf der Klägerin:

An- und Auskleiden 20 Stunden/Monat

Tägliche Körperpflege 25 Stunden/Monat

Einnehmen von Mahlzeiten 30 Stunden/Monat

Verrichtung der Notdurft 30 Stunden/Monat

(Reinigung im Fall von) Inkontinenz 20 Stunden/Monat

Katheterpflege 5 Stunden/Monat

Mobilitätshilfe im engeren Sinn 15 Stunden/Monat

Mobilitätshilfe im weiteren Sinn 10 Stunden/Monat

155 Stunden/Monat

Für das Einnehmen (gemeint wohl: Zubereitung) von Mahlzeiten, die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflegeder Leib- und Bettwäsche sowie die Beheizung des Wohnraums könne kein Pflegebedarf angerechnet werden, weil es sich hiebei um Verrichtungen handle, die auch von gesunden Kindern im Alter der Klägerin nicht selbständig vorgenommen werden könnten.

Der festgestellte Pflegebedarf entspreche einer Einstufung in die Pflegegeldstufe 3.

Das Berufungsgericht gab der auf Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 4 gerichteten Berufung der Klägerin nicht Folge. Nach § 4 Abs 3 KrntPGG sei bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen grundsätzlich nur jenes Maß an Pflege zu berücksichtigen, das über das erforderliche Ausmaß bei gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgehe. Zwar könnten 10 bis 15-Jährige sicher einzelne Teiltätigkeiten beim Zubereiten von Mahlzeiten, beim Einkaufen, bei der Wohnungsreinigung, bei der Wäschepflege und bei der Beheizung durchführen, aber im Regelfall nicht alle dazu gehörigen Maßnahmen. Es sei gerichtsbekannt, dass für Minderjährige dieses Alters gekocht werde, dass sie nicht alle erforderlichen Hilfsgüter selbst einkaufen, dass sie die Wohnung nicht selbst reinigen (mögen sie auch ihr Zimmer fallweise aufräumen), dass sie die Wäsche nicht waschen und bügeln und auch die Wohnung nicht heizen, weshalb durch die Unfähigkeit zu diesen Verrichtungen kein Pflegeaufwand begründet werden könne. Im Übrigen bestehe kein Anlass, bei einer einmal täglich erforderlichen Katheterisierung vom Richtwert für die Katheterpflege (der auch die Katheterisierungen selbst umfasse) abzugehen. Das Verfahren habe auch keinen Anhaltspunkt für einen auf 39 Stunden pro Monat vermehrten Bedarf nach Körperpflege ergeben. Mit dem begehrten Ausmaß von 35 Stunden pro Monat für die Notdurft werde nicht einmal eine erhebliche Überschreitung des Mindestwerts (von 30 Stunden/Monat) behauptet. Abgesehen davon erscheine die Anerkennung des Mindestwerts für die Hilfe bei der Notdurftverrichtung ohnehin großzügig, zumal die Klägerin katheterisiert werden müsse und auch noch 20 Stunden für die Reinigung bei Inkontinenz zugestanden worden seien. Auch wenn das KrntPGG - anders als das BPGG - in seinem § 4a die diagnosebezogene Einstufung von Rollstuhlfahrern weder auf bestimmte Diagnosen noch auf ein bestimmtes Alter beschränke, könne diese auf die bei Antragstellung 10-jährige und nunmehr 12-jährige Klägerin nicht angewandt werden, weil der Gedanke der Altersbezogenheit altersbedingter Pflege nicht außer Acht gelassen werden dürfe, weshalb zum Thema des selbständigen Gebrauchs des Rollstuhls genauere Aufklärungen bzw Feststellungen unterbleiben könnten. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne eines Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 4. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. Weiters wird angeregt, der Oberste Gerichtshof "möge im Rahmen der Normenkontrolle den § 4 a Abs. 1 des Bundespflegegeldgesetzes Bundesgesetzblatt Nr. 111 / 1998 auf seine Verfassungsmäßigkeit beim Verfassungsgerichtshof überprüfen lassen".

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die Revisionswerberin meint, "auf den gegenständlichen Fall könne für die Mahlzeitenzubereitung, Wohnungsreinigung, Bedarfsgüterbeschaffung, Wäsche, Pflege sowie Heizung ein geringer Stundensatz von zumindest je 5 Stunden angesetzt werden, woraus sich bereits ein Gesamtbetreuungsaufwand von 175 Stunden" ergebe, womit die Pflegegeldstufe 4 erreicht werde.

Dabei lässt die Klägerin außer Betracht, dass die Vorinstanzen bei der Beurteilung des Pflegebedarfs bei den angesprochenen Verrichtungen ohnedies von den Richt- und Mindestwerten ausgegangen sind, obwohl der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, dass bei der Beurteilung des Pflegegeldanspruchs von Kindern im Hinblick auf das Erfordernis des Vergleichs mit einem gleichaltrigen gesunden Kind eine verpflichtende Übernahme von zeitlichen Mindestwerten nicht in Betracht kommt. Vielmehr ist der tatsächliche Mehraufwand im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgeblich (in diesem Sinne 10 ObS 172/01v, 10 ObS 403/01i und 10 ObS 272/02a). Es ist daher davon auszugehen, dass im Regelfall bei einem Kind nicht die auf die Situation Erwachsener zugeschnittenen Richt- oder Mindestwerte zur Anwendung gelangen, sondern im Hinblick auf die Relevanz des tatsächlichen Mehraufwands (im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind) niedrigere Werte.

Darüber hinaus sind Abweichungen von Mindestwerten nur dann zu berücksichtigen, wenn der tatsächliche Pflegeaufwand diese Mindestwerte erheblich überschreitet (RIS-Justiz RS0058292 [T2]). Abweichungen von Richtwerten bedürfen einer Begründung dahingehend, warum in einem Einzelfall ein spezifischer Betreuungsaufwand an- oder wegfällt, sodass ein Abweichen in einem konkret zu bestimmenden Ausmaß geboten ist (vgl RIS-Justiz RS0053147). Dafür bieten die Verfahrensergebnisse aber keine Grundlage. Anhand der Feststellungen ist nicht nachvollziehbar, wie die Revisionswerberin für die Körperpflege auf ein Stundenausmaß von zumindest 39 Stunden, für das An- und Auskleiden ("in der Berufung irrtümlich unterblieben") von 25 Stunden und für die Verrichtung der Notdurft von 35 Stunden, jeweils pro Monat, gelangt.

Anders als das Bundespflegegeldgesetz und anders als die Pflegegeldgesetze der übrigen Bundesländer enthält des KrntPGG in seinem § 4a Abs 1 bis 3 keine altersmäßige Untergrenze in der Form, dass nur Personen, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, für dort angeführten diagnosebezogenen Mindesteinstufungen in Betracht kommen. Bei vergleichbarer Rechtslage hat der Oberste Gerichtshof zu § 8 der EinstV zum BPGG (idF vor der Novelle BGBl I 1998/111 bzw der Verordnung BGBl II 1999/37) ausgesprochen, dass zur Vermeidung gleichheitswidriger Ergebnisse bei Kindern, die überwiegend auf den Gebrauch eines Rollstuhls angewiesen sind, keine diagnosebezogene, sondern im Ergebnis eine funktionsbezogene Einstufung vorzunehmen ist (SSV-NF 10/96). Dies kann auch damit erklärt werden, dass die Pflegegeldgesetze diagnosebezogene Einstufungen für bestimmte Behindertengruppen mit weitgehend gleichartigem Pflegebedarf vorsehen (Pfeil, BPGG 99). Ein solcherart typisierter gleichartiger Bedarf kann dann angenommen werden, wenn die betroffene Person ein Alter erreicht hat, in dem gesunde Personen keinen regelmäßigen Pflegebedarf haben, sodass auch der in § 4 Abs 3 KrntPGG (entspricht § 4 Abs 3 BPGG) vorgesehene Vergleich zwischen der betroffenen Person und einem gleichaltrigen nicht behinderten Kind nicht mehr vorzunehmen ist. In diesem Sinn ist die in § 4a Abs 1 BPGG (und den Landes-Pflegegeldgesetze mit Ausnahme des KrntPGG) enthaltene Wertung verallgemeinerungsfähig, dass eine diagnosebezogene Einstufung aufgrund der Angewiesenheit auf den Gebrauch eines Rollstuhls bei einer Person im Alter der Klägerin noch nicht in Betracht kommt. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob bei der Klägerin eine der in § 4a Abs 1 KrntPGG enthaltene Diagnosen oder eine gleichzuhaltende Diagnose vorliegt (vgl 10 ObS 111/01y = infas 2002, S 20; dazu Heckenast, Zur analogen Anwendung von § 4a BPGG, DRdA 2002, 172). Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit. b ASGG.

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