OGH 10ObS172/01v

OGH10ObS172/01v4.9.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Schenk (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Stattmann (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Jakob H*****, Schüler, *****, vertreten durch den Vater Maximilian H*****, ebendort, dieser vertreten durch Dr. Jörg Hobmeier, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 13. März 2001, GZ 25 Rs 28/01f-18, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 20. Dezember 2000, GZ 44 Cgs 121/00a-13, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 21. 5. 1992 geborene Kläger leidet seit Geburt an Mukoviszidose (Cystische Fibrose) mit chronischer Bronchitis und Pankreasinsuffizienz. Er wohnt mit seinem Vater und seinem Bruder in einer städtischen Dreizimmerwohnung. Eine Bushaltestelle und ein Lebensmittelgeschäft sind in unmittelbarer Nähe; Arzt und Apotheke sind etwas weiter entfernt.

Der Kläger kann sich selbständig an- und ausziehen. Er benötigt eine hochkalorische und eiweißreiche Nahrung. Für diese Speisenzubereitung ist im Vergleich zu gesunden gleichaltrigen Kindern, die sich auch nicht selbstständig Speisen zubereiten können, ein erhöhter Aufwand erforderlich, weil der Kläger nicht mit den anderen mitessen kann; für ihn muss extra gekocht werden, was bei einem gesunden achtjährigen Kind nicht notwendig ist. Der Kläger muss auch aufgefordert werden, vermehrt zu trinken (täglicher Zeitaufwand 2 - 3 Minuten). Eine selbständige Einnahme der aufgrund der Schwere der Erkrankung lebensnotwendigen Medikamente ist dem Kläger nicht möglich. Überdies müssen mehrmals täglich Inhalationen vorgenommen werden. Berücksichtigt man die Hilfe beim Inhalieren, benötigt er für die Einnahme der Medikamente insgesamt 5 Stunden Hilfe monatlich. Aufgrund krankheitsbedingt vermehrter Transpiration muss der Kläger häufig duschen oder baden (Aufwand 4 Stunden monatlich). Der Kläger sucht die Toilette selbstständig auf. Infolge einer Stuhlinkontinenz ist eine oftmalige Reinigung der Bettwäsche und der Kleidung notwendig (Mehraufwand 10 Stunden monatlich). Weiters benötigt der Kläger Mobilitätshilfe im weiteren Sinn. Behördenwege sind dem Kläger zwar nicht möglich; es besteht aber kein erhöhter Aufwand im Vergleich zu gesunden Achtjährigen.

Der beschriebene Zustand besteht zumindest seit 1. 2. 2000.

Mit Bescheid vom 12. 4. 2000 hat die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 22. 10. 1999 auf Gewährung von Pflegegeld zu der seit 11. 10. 1999 gebührenden Waisenpension unter Hinweis darauf abgelehnt, dass der Kläger unter Berücksichtigung seiner Lebensumstände die dauernd wiederkehrenden lebensnotwendigen Verrichtungen selbst besorgen könne.

Das Erstgericht sprach dem Kläger Pflegegeld der Stufe 1 "in der gesetzlichen Höhe" ab 1. 11. 1998 zu. In Anbetracht der Leiden des Klägers und der daraus folgenden Hilfsbedürftigkeit bestehe ein Pflegebedarf, der 50 Stunden im Monat, nicht jedoch 75 Stunden überschreite, sodass die Voraussetzungen des Bezugs von Pflegegeld der Stufe 1 ab dem 1.11.1999 als erfüllt anzusehen seien. Der Pflegebedarf setze sich aus folgenden Hilfstätigkeiten zusammen:

Inkontinenzreinigung 10 Stunden/Monat

Aufforderung zum Trinken 1,25 Stunden/Monat

Duschen und Baden 4 Stunden/Monat

Zubereitung von Mahlzeiten 30 Stunden/Monat

Einnahme von Medikamenten 5 Stunden/Monat

50,25 Stunden/Monat

Die erforderliche Stundenanzahl für die Zubereitung von Mahlzeiten sei im Ausmaß von 30 Stunden zu bestimmen, da es sich um einen Mindestwert handle.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil im klagsabweisenden Sinn ab. Bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern sei nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern hinausgehe. Ein Pflegebedarf von Kleinkindern sei insoweit nicht anspruchsbegründend, als es sich um notwendige Verrichtungen handle, die auch von einem gesunden Kind dieses Alters nicht selbstständig vorgenommen werden könnten. Bei Kindern im Alter des Klägers stellten daher weder das An- und Auskleiden, die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn, die Reinigung der Wohnung und persönlichen Gebrauchsgegenstände sowie die Pflege der Leib- und Bettwäsche noch die (tägliche) Körperpflege, die Zubereitung der Mahlzeiten und die Einnahme der Medikamente einschließlich der Durchführung der Atemtherapie einen Pflegebedarf dar. Da der vom Erstgericht festgestellte (Mehr-)Aufwand an Pflege beim minderjährigen Kläger auf dessen Alter und nicht auf eine körperliche, geistige oder psychische Behinderung zurückzuführen sei - ein an der festgestellten Stoffwechselerkrankung leidender Erwachsener könnte sich zB auch eine hochkalorische und eiweißreiche Nahrung selbst zubereiten - stehe dem Kläger kein Anspruch auf Pflegegeld zu. Mangels eines behinderungsbedingten Pflegeaufwandes erübrige sich auch eine Klärung des Pflegebedarfs betreffend die in der Berufung (Aufforderung zum Trinken) und in der Berufungsbeantwortung (Inkontinenzreinigung) angesprochenen Verrichtungen.

Gegen dieses Urteil erhebt der Kläger Revision wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass das Ersturteil wieder hergestellt wird.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen berechtigt.

Nach den Revisionsausführungen bestehe beim Kläger ein monatlicher Pflegebedarf von insgesamt 60,25 Stunden für folgende Verrichtungen:

Inkontinenzreinigung 20 Stunden/Monat

Aufforderung zum Trinken 1,25 Stunden/Monat

Duschen und Baden 4 Stunden/Monat

Zubereitung von Mahlzeiten 30 Stunden/Monat

Einnahme von Medikamenten 5 Stunden/Monat

60,25 Stunden/Monat

a) Das Berufungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass es sich beim Kläger nicht um ein Kleinkind handle. Der Kläger leide nicht an einer alters-, sondern krankheitsbedingten Stuhlinkontinenz. Dafür sei der in § 1 Abs 3 EinstVO normierte Richtwert von 20 Stunden monatlich heranzuziehen, da schon bei Vorliegen bloßer Harninkontinenz der volle Richtwert zu berücksichtigen sei, daher umso mehr bei Stuhlinkontinenz. Für eine Abweichung von dem in § 1 Abs 3 EinstVO vorgesehenen Richtwert bestünden keine Anhaltspunkte, abgesehen davon, dass der zeitliche Aufwand nicht durch den Einsatz von Hilfsmitteln reduziert werden könne.

b) Ein normal entwickelter gesunder 8 bis 9jähriger Bub müsse nicht dauernd zum Trinken aufgefordert werden. Hingegen bestehe beim Kläger eine medizinische Notwendigkeit, vermehrt Flüssigkeit zu konsumieren.

c) Ebenso sei klar, dass sich ein normal entwickelter 8 bis 9-jähriger selbstständig duschen und baden könne, während beim Kläger aufgrund seiner krankheitsbedingt vermehrten Transpiration ein diesbezüglicher Pflegeaufwand notwendig sei, der bei Gleichaltrigen nicht erforderlich sei.

d) Auch wenn es zutreffen möge, dass sich Kinder im Alter des Klägers ihre Mahlzeiten nicht selbst zubereiten könnten, sei zu bedenken, dass der Kläger nicht dieselbe Nahrung wie andere Kinder seines Alters zu sich nehmen könne und sich somit nicht an den "normalen" Familienmahlzeiten beteiligen könne. Vielmehr müsse für ihn nicht nur extra gekocht, sondern spezielle hochkalorische und sehr eiweißreiche Nahrung zubereitet werden. Bei den 30 Stunden Pflegebedarf handle es sich um den - im Vergleich zu gesunden gleichaltrigen Kindern - Mehraufwand für die zusätzliche Zubereitung von speziellen Mahlzeiten neben den allgemeinen Mahlzeiten der übrigen Familienmitglieder. Außerdem stehe nicht fest, dass sich ein an der beim Kläger festgestellten Stoffwechselerkrankung leidender Erwachsener diese Kost selbst zubereiten könne.

e) Einem 8 bis 9-jährigen könne grundsätzlich zugemutet werden, selbstständig Medikamente einzunehmen. Demgegenüber benötige der Kläger der Hilfe beim Einnehmen von Medikamenten einschließlich des Inhalierens.

Diesen Ausführungen kommt Berechtigung im Sinne der beschlossenen Aufhebung zu.

1. Das Pflegegeld hat den Zweck, in Form eines Beitrages pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten (RIS-Justiz RS0106555). Bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen ist nur jenes Maß an Pflege zu berücksichtigen, das über das erforderliche Maß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht (§ 4 Abs 3 BPGG).

Diese Bestimmung wurde durch die Novelle BGBl I 1998/111 in das BPGG aufgenommen. In den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage (RV 1186 BlgNR XX. GP, 11 f) heißt es dazu: "Durch die vorgeschlagene Ergänzung soll die schon bisher übliche und der Judikatur des Obersten Gerichtshofes entsprechende Vorgangsweise aus Gründen der Rechtssicherheit in das Gesetz aufgenommen werden. Das Pflegegeld hat den Zweck, in Form eines Beitrages pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten. Da Kinder und Jugendliche auch ohne Behinderung bestimmte Verrichtungen nicht selbständig durchführen können, wird bei der Beurteilung des Pflegebedarfes nur jenes Ausmaß an Betreuung und Hilfe berücksichtigt, das über das altersmäßig erforderliche Ausmaß hinausgeht. So können etwa auch nichtbehinderte Kinder und Jugendliche üblicherweise sämtliche Hilfsverrichtungen - mit Ausnahme der Mobilitätshilfe im weiteren Sinn - bis etwa zum 14. Lebensjahr nicht selbständig durchführen, weshalb ein Hilfsbedarf bei diesen Verrichtungen in der Regel erst nach diesem Zeitpunkt zu berücksichtigen sein wird. Selbstverständlich muß jedoch im Einzelfall eine verzögerte Entwicklung durch körperliche, geistige oder psychische Defizite bei der Beurteilung des Pflegebedarfes berücksichtigt werden."

Aus der angesprochenen Judikatur des Obersten Gerichtshofes ist die Entscheidung SSV-NF 10/96 = SZ 69/210 hervorzuheben, in der zu § 8 Z 3 EinstV zum Oö PGG unter Berufung auf Pfeil, Die Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 172 und 340, ausgesprochen wurde, dass bei der Beurteilung des Pflegebedarfs bei Kindern nur jenes Ausmaß an Betreuung und Hilfe zu berücksichtigen ist, welches über das altersmäßig erforderliche Ausmaß hinausgeht. Der "natürliche", wenngleich altersabhängige und entwicklungsabhängige Pflegeaufwand kann keinen Anspruch auf Pflegegeld begründen, sondern ist familienrechtlich von den jeweils obsorgeberechtigten Personen alleine zu tragen.

In dieser Entscheidung wird auf § 3 Abs 3 der EinstV zum Nö PGG (LGBl 1993/76) und § 3 Abs 3 der EinstV zum Wr PGG (LGBl 1993/45) Bezug genommen, die jeweils wortgleich anordneten, dass Pflegebedarf bei Personen zwischen dem dritten und fünfzehnten Lebensjahr insoweit nicht anzunehmen sei, als die notwendigen Verrichtungen auch von Personen, die sich auf der dem jeweiligen Lebensalter entsprechenden Entwicklungsstufe befinden, nicht selbständig vorgenommen werden können. Auch wenn in der EinstV zum Oö PGG - ebenso wie in den Einstufungsverordnungen zu den übrigen Landes-Pflegegeldgesetzen - eine derartige Einschränkung fehlte, hat der Oberste Gerichtshof diese Einschränkung bereits aus den verba legalia "pflegebedingter Mehraufwand" abgeleitet, sodass kein inhaltlicher Unterschied zwischen den Regelungen der einzelnen Einstufungsverordnungen des Bundes und der Bundesländer zu sehen war; vielmehr wird die genannte Regelung in § 3 Abs 3 der EinstV zum Nö PGG und § 3 Abs 3 der EinstV zum Wr PGG als Ausdruck eines allgemeinen Prinzips der gesetzlichen Pflegegeldregelungen des Bundes und der Länder gesehen (ebenso Gruber/Pallinger, Bundespflegegeldgesetz [1994], § 4 Rz 46).

Ebenso wie der Oberste Gerichtshof ziehen Gruber/Pallinger, Bundespflegegeldgesetz [1994], § 1 Rz 16 und § 4 Rz 46, sowie Pfeil, Bundespflegegeldgesetz [1996], 37, 79, 105 f, daraus, dass nur pflegebedingte Mehraufwendungen abgegolten werden sollen, die Folgerung, dass bei Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern nur jenes Ausmaß an Betreuung und Hilfe zu berücksichtigen ist, das über das altersmäßig erforderliche Ausmaß hinausgeht.

Seit den Novellierungen im Jahre 1999 enthalten nunmehr alle Landespfleggegeldgesetze mit Ausnahme Tirols eine dem § 4 Abs 3 BPGG mehr oder minder wortgleich entsprechende Bestimmung des Inhalts, dass bei der Beurteilung des Pflegebedarfes von Kindern und Jugendlichen nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen ist, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht (§ 4 Abs 3 Bgl PGG idF 1999/8; § 4 Abs 3 Ktn PGG; § 4 Abs 3 Oö PGG idF LGBl 1999/8; § 4 Abs 3 Nö PGGs idF LGBl 1999/6; § 4 Abs 2 Sbg PGG idF LGBl 1999/13; § 4 Abs 5a Stm PGG idF Lgbl 1999/26; § 4 Abs 4 Vbg PGG idF LGBl 1999/18; § 4 Abs 3 Wr PGG idF LGBl 1999/44).

Wie bereits oben dargestellt wurde, wollte der Bundesgesetzgeber anläßlich der BPGG-Novelle 1999 aus Gründen der Rechtssicherheit die Judikatur des Obersten Gerichtshofes zum pflegebedingten Mehraufwand bei Kindern und Jugendlichen im Gesetz festschreiben. Der Oberste Gerichtshof wiederum hat die genannten Regelungen in § 3 Abs 3 der EinstV zum Nö PGG und in § 3 Abs 3 der EinstV zum Wr PGG lediglich als Ausdruck des allgemeinen Prinzips gesehen, dass bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern nur jenes Ausmaß an Betreuung und Hilfe zu berücksichtigen ist, das über das altersmäßig erforderliche Ausmaß hinausgeht. Gemeint war damit, dass ein Vergleich zwischen behinderten Minderjährigen mit gleichaltrigen nicht behinderten Kindern bzw Jugendlichen anzustellen ist und nur der bei behinderten Minderjährigen auftretende "pflegebedingte Mehraufwand" durch Gewährung von Pflegegeld auszugleichen ist; der altersbedingte Pflegeaufwand ist demgegenüber bei der Beurteilung des Pflegegeldanspruchs auszuscheiden.

Wird die Bestimmung des § 4 Abs 3 BPGG entsprechend der Gesetzesgenese in diesem Sinne interpretiert, ergibt sich daraus für den vorliegenden Fall, dass zu prüfen ist, inwieweit bei dem am 21. Mai 1992 geborenen Kläger - im Vergleich zu einem gleichaltrigen Kind - ein pflegebedingter Mehraufwand im hier maßgeblichen Zeitraum ab 1. 11. 1999 auftritt.

2. So ist die Stuhlinkontinenz nicht alters-, sondern krankheitsbedingt; bei einem gleichaltrigen nicht behinderten Kind wäre eine Reinigung bei Stuhlinkontinenz nicht erforderlich. Dafür sieht § 1 Abs 3 EinstVO einen Richtwert von 4 x 10 Minuten täglich bzw 20 Stunden monatlich vor. Das Erstgericht hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass der Kläger alleine auf die Toilette gehen könne, dass aber eine Stuhlinkontinenz bestehe, die eine Reinigung der Bettwäsche und der Kleidung erfordere, wofür zehn Stunden anzusetzen seien.

Nach ständiger Rechtsprechung sollen die in § 1 Abs 3 EinstV zum BPGG bei der Feststellung des zeitlichen Betreuungsaufwandes auf einen Tag bezogenen Richtwerte im Wesentlichen nur als Orientierungshilfe für die Rechtsanwendung dienen und können daher im Einzelfall auch unterschritten oder überschritten werden (SSV-NF 10/97 mwN ua; RIS-Justiz RS0053147). Es handelt sich bei diesen Richtwerten jedoch um auf der Arbeit einer Expertengruppe, der unter anderem Pflegepersonal, ärztliche Sachverständige und Behindertenvertreter angehörten, beruhende zeitliche Vorgaben für jene "durchschnittliche" Zeit, die für die betreffende Verrichtung im Regelfall aufzuwenden ist (vgl Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge, 183).

Die Feststellungen des Erstgerichts reichen jedoch nicht aus, um beurteilen zu können, ob beim Kläger ein - wie das Erstgericht angenommen hat - mit 10 Stunden pro Monat anzunehmender Betreuungsaufwand für die Inkontinenzreinigung erforderlich ist oder ob der tatsächlich anfallende Aufwand höher ist. Hiezu ist es notwendig, Feststellungen zu treffen, welcher Aufwand konkret für die inkontinenzbedingte Reinigung der Bettwäsche und der Kleidung erforderlich ist.

3. In Bezug auf die Zubereitung von speziellen Mahlzeiten ist nicht klar, inwieweit hier - wiederum im Vergleich zu einem gleichaltrigen gesunden Kind, für das altersbedingt ebenfalls noch Mahlzeiten durch Betreuungspersonen zubereitet werden müssen - tatsächlich ein pflegebedingter Mehraufwand vorhanden ist (vgl BMAS 13. 5. 1996, 48.100/25-9/96, Pflegegeld für Kinder unter drei Jahren, ARD 4765/36/96). Da § 4 Abs 3 BPGG darauf abstellt, dass das bei gleichaltrigen gesunden Kindern erforderliche Pflegeausmaß nicht zu berücksichtigen ist, kommt die Heranziehung des in § 1 Abs 4 EinstVO vorgesehenen Mindestwerts von einer Stunde täglich nicht in Betracht, sondern es ist der tatsächliche Mehraufwand im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgeblich. Bei der Bemessung ist aber im Hinblick auf die pauschalierte Abgeltung von Mehraufwendungen auch nicht zu berücksichtigen, dass für den Kläger "extra" gekocht werden muss, weil dann unrichtigerweise dem jeweiligen familiären Umfeld und damit einer subjektiven Besonderheit entscheidende Bedeutung zukäme. Der im Sachverständigengutachten angesprochene Mehraufwand liegt im konkreten Fall darin, dass Synergieeffekte durch ein gemeinsames Kochen für mehrere Familienmitglieder wegfallen.

Ausschlaggebend ist jedoch nur, ob und inwieweit das Erfordernis der Zubereitung von mehr Mahlzeiten sowie von Spezialmahlzeiten einen Mehraufwand gegenüber der Zubereitung von Mahlzeiten für ein gesundes gleichaltriges Kind bewirkt; (nur) ein solcher Mehraufwand wäre als pflegebedingter Mehraufwand anzusehen.

4. Anders als die in § 2 EinstV taxativ aufgezählten Hilfsvorrichtungen ist die Anführung der Verrichtungen der Betreuung in § 1 EinstV demonstrativ, weshalb grundsätzlich auch andere Bedarfslagen im Rahmen des Pflegebedarfes Anerkennung finden können (RIS-Justiz RS0107533). Bei der Aufforderung zum vermehrten Trinken (mit einem Zeitaufwand von täglich 2 - 3 Minuten) handelt es sich jedoch um eine - vom zeitlichen Aufwand her gesehen - geringfügige Betreuungsmaßnahme, die möglicherweise auch mit anderen Verrichtungen verbunden werden kann und dann zeitlich nicht gesondert ins Gewicht fällt, sodass kein betreuungsrelevanter Mehraufwand vorliegt (RIS-Justiz RS0086671). Ist dies der Fall - was noch zu klären ist - kann die Zeit dafür nicht eigens angesetzt werden.

5. Für die tägliche Körperpflege sieht § 1 Abs 4 EinstV einen Mindestwert vor. Nach den Feststellungen transpiriert der Kläger vermehrt, weshalb er häufig duschen oder baden muss. Die Sachverständige hat hiefür einen Zeitaufwand von "4 h" angesetzt. Es ist zwar anzunehmen, dass es sich dabei um den monatlichen Mehraufwand im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind handelt. Trifft dies zu - dies ist noch näher abzuklären - handelt es sich um einen pflegebedingten Mehraufwand.

6. Für das Einnehmen von Medikamenten sieht § 1 Abs 3 EinstV einen Richtwert von 6 Minuten täglich (3 Stunden monatlich) vor. In den mit 5 Stunden monatlich angenommenen (Mehr-)Aufwand hat das Erstgericht das Erfordernis von Inhalationen eingerechnet. Nach dem Gutachten der Sachverständigen könnte ein gesundes gleichaltriges Kind derartige Inhalationen unter Anleitung alleine vornehmen, während der Kläger dazu Hilfe benötigt. Im Verhältnis zu einem gesunden Kind liegt der pflegebedingte Mehraufwand auch darin, dass ein solches zwar nicht zur selbständigen Medikamenteneinnahme in der Lage ist, aber nicht regelmäßig Medikamente einnehmen muss. In diesem Sinn liegt ein pflegebedingter Mehraufwand vor, dessen zeitliches Ausmaß von 5 Stunden monatlich auch vom Kläger nicht in Frage gestellt wird.

7. Letztlich ist noch zu berücksichtigen, dass der Zustand des Klägers nach den erstgerichtlichen Feststellungen "zumindest seit 1. Februar 2000" besteht. Ungeachtet dessen hat das Erstgericht den Pflegegeldanspruch ab dem 1. November 1999 als gegeben erachtet. Der Grundsatz der Amtswegigkeit der Beweisaufnahme (§ 87 Abs 1 ASGG) ändert nichts daran, daß den Kläger die objektive Beweislast für den rechtserzeugenden Sachverhalt trifft. Die Feststellung, dass der (allenfalls anspruchsbegründende) Zustand des Klägers zumindest seit 1. Februar 2000 besteht, lässt nicht den zwingenden Schluss zu, dass er bereits ab 1. November 1999 besteht. Der Zustand im Zeitraum 1. November 1999 bis 31. Jänner 2000 bedarf daher noch näherer Klärung.

8. Da es zur Abklärung dieser Feststellungsmängel (Punkte 2., 3., 5. und 7.) einer Verhandlung erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, waren die Urteile der Vorinstanzen in dem noch strittigen Umfang aufzuheben und die Sache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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