OGH 10ObS248/98p

OGH10ObS248/98p15.9.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Hopf als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann und Dr. Dietmar Strimitzer (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Edeltraud V*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Punz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, Wiedner Hauptstraße 84-86, 1051 Wien, vertreten durch Dr. Paul Bachmann ua, Rechtsanwälte in Wien, wegen Erwerbsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 2. März 1998, GZ 7 Rs 297/97s-29, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 15. Juli 1997, GZ 2 Cgs 183/96g-25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Rechtliche Beurteilung

Die Begründung des Berufungsgerichtes, daß die Klägerin gemäß § 133 Abs 2 GSVG auf andere Handelstätigkeiten verwiesen werden kann, ist zutreffend, sodaß hierauf verwiesen werden kann (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). Den Ausführungen der Revisionswerberin ist folgendes entgegenzuhalten:

Nach der hier anzuwendenden Gesetzesbestimmung des § 133 Abs 2 GSVG idF der 19. GSVGNov BGBl 1993/336 (Stichtag 1. 5. 1996) wird das Verweisungsfeld durch die selbständigen Erwerbstätigkeiten gebildet, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die vom Versicherten zuletzt ausgeübten erfordern. Die Verweisungstätigkeit muß keineswegs der bisher ausgeübten Tätigkeit in allen Punkten entsprechen. Das Gesetz stellt nicht auf die konkret ausgeübte selbständige Tätigkeit und die bisherige Betriebsstruktur ab (dies sind Umstände, die im Falle des § 131c GSVG von Bedeutung wären), sondern nur auf die Kenntnisse und Fähigkeiten, die für die durch 60 Kalendermonate ausgeübte selbständige Tätigkeit erforderlich waren. Dem Versicherten soll bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 133 Abs 2 GSVG nicht zugemutet werden, völlig neue Kenntnisse zu erwerben oder nunmehr einer unselbständigen Tätigkeit nachzugehen (SSV-NF 9/22, 9/56).

Im vorliegenden Fall geht es um die Verweisung einer 53jährigen Einzelhandelskauffrau, die ein Obst- und Gemüsegeschäft mit einem Beschäftigten betrieb. Die Klägerin kann diese Beschäftigung nicht mehr ausüben, weil dabei das ihr zumutbare Kalkül mittelschwerer Arbeiten mit Trageleistungen bis 15 kg überschritten würde. Ohne Kalkülsüberschreitung könnte sie aber beispielsweise noch als Einzelhandelskauffrau ein Süßwarengeschäft, ein Souvenirgeschäft oder eine Parfumerie betreiben.

Einzelhandelskaufleute führen in Einzelhandelsbetrieben (Fachgeschäften, Kaufhäusern, Einkaufszentren etc) den Einkauf, die Lagerung und den Verkauf von Waren sowie die damit verbundenen kaufmännisch-administrativen Tätigkeiten (Bürotätigkeiten) durch. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit ist der Verkauf von Waren an die Endabnehmer (vgl Berufslexikon Bd I "Lehrberufe", herausgegeben vom Arbeitsmarktservice, Österreich 1997, 111). Nach den bei der Klägerin aufgrund ihrer bisherigen Beschäftigung vorauszusetzenden Kenntnissen und Fähigkeiten ist ihre Verweisbarkeit im Rahmen des § 133 Abs 2 GSVG nicht auf den Beruf eines Obst- und Gemüsehändlers beschränkt. Wie der Oberste Gerichtshof in ähnlich gelagerten Fällen erst kürzlich entschieden hat (30. 9. 1997, 10 ObS 256/97p; 27. 1. 1998, 10 ObS 10/98p), kann die Klägerin als Einzelhandelskauffrau auf alle vergleichbaren (selbständigen) Einzelhandelstätigkeiten (Handelsgewerbe im Sinne des § 124 Z 11 GewO) verwiesen werden, die mit ihrem medizinischen Leistungskalkül zu vereinbaren sind, also im wesentlichen auf Tätigkeiten, die ohne das Erfordernis schwerer Arbeiten ausgeübt werden können. Bereits die Entscheidung 10 ObS 28/97h bejahte etwa die Verweisbarkeit einer Marktfahrerin auf den stationären Textilhandel mit einem solchen Warensortiment, welches das Heben und Tragen schwerer Lasten nicht erfordert. Für die Beurteilung des Verweisungsfeldes nach § 133 Abs 2 GSVG kommt es, wie der Senat in der Entscheidung 10 ObS 73/97a (betreffend die Verweisbarkeit einer Taxiunternehmerin) begründet hat, nicht auf das Vorliegen eines "Arbeitsmarktes" und insbesondere auch nicht auf die Zahl jener Unternehmen an, die das betreffende Gewerbe betreiben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die selbständig ausgeübte Verweisungstätigkeit unter Berücksichtigung des Marktes eine wirtschaftlich vertretbare Betriebsführung ermöglicht (10 ObS 256/97p; 10 ObS 382/97t).

Die Revisionswerberin bestreitet nicht, noch gesundheitlich in der Lage zu sein, ein Süßwarengeschäft, ein Souvenirgeschäft oder eine Parfumerie zu betreiben, meint jedoch, es sei ihr nicht zumutbar, sich "in Schulden zu stürzen", ausschließlich zwecks Schaffung einer Erwerbsmöglichkeit Fremdkapital aufzunehmen und damit ihre bürgerliche Existenz zu gefährden. Diesen Aspekt der Wirtschaftlichkeit hätte das Berufungsgericht außer acht gelassen. Auch von unselbständig Erwerbstätigen würden keine finanziellen Aufwendungen und Investitionen zur Erhaltung seiner Arbeitskraft verlangt. Dies von selbständig Erwerbstätigen zu verlangen, wäre eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung.

Dem ist zu erwidern, daß § 133 Abs 2 GSVG, wie bereits dargestellt, darauf abstellt, ob der Versicherte noch gesundheitlich in der Lage ist, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die hinsichtlich Ausbildung, Kenntnissen und Fähigkeiten bestimmten Voraussetzungen genügt. Der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit gemäß § 133 GSVG wird sohin durch eine gesundheitliche Beeinträchtigung des Versicherten begründet. Wirtschaftliche Probleme des Versicherten vermögen diesen Versicherungsfall nicht zu begründen. In ständiger Rechsprechung wird nur gepüft, wie ebenfalls schon erwähnt, ob die selbständig ausgeübten Verweisungstätigkeiten unter Berücksichtigung des Marktes eine wirtschaftlich vertretbare Betriebsführung ermöglichen. Dies wird von der Revisionswerberin hinsichtlich der vorstehend genannten, für sie noch gesundheitlich in Frage kommenden Verweisungstätigkeiten auch gar nicht bestritten. Hingegen kommt es entgegen der Auffassung der Revisionswerberin nicht darauf an, ob der selbständig Erwerbstätige weiterhin geneigt ist, das wirtschaftliche Wagnis eines Betriebes auf sich zu nehmen und ob er in der Lage oder gewillt ist, diese selbständige Erwerbsgelegenheit zu finanzieren. Ein Abstellen auf die konkrete Einkommens- und Vermögenslage des Versicherten hätte zur Folge, daß der überschuldete Unternehmer besser gestellt würde als ein Unternehmer, auf den dies nicht zutrifft. Der Versicherte könnte durch eine entsprechende Verschuldung die Voraussetzungen für die Erwerbsunfähigkeitspension mitbestimmen (vgl SSV-NF 5/114).

Die Verweisung hat also in diesem Sinne abstrakt zu erfolgen. Es kommt demnach nicht darauf an, ob eine Verweisungstätigkeit im Einzelfall auch faktisch erlangt werden kann oder ob dem faktische oder rechtliche Gesichtspunkte entgegenstehen (SSV-NF 10/56; RIS-Justiz RS0105187; vgl auch ZASB 1989, 15; SSV 17/4). Ähnlich wie sich Unselbständige auf ihnen zumutbare Berufe am gesamten österreichischen Arbeitsmarkt grundsätzlich ohne Rücksicht darauf verweisen lassen müssen, ob ein entsprechender Dienstposten zu finden ist, ist bei Selbständigen die Möglichkeit einer Unternehmensorganisation unter Ausblendung von konjunkturellen, regionalen oder sonstigen arbeitsmarktbedingten Kriterien zu beurteilen (SSV-NF 10/122).

Der Gesetzgeber stellte in den Materialien zur 19. GSVG-Novelle, BGBl 1993/336, ausdrücklich darauf ab, daß ab dem 50. Lebensjahr für Kleingewerbetreibende zwar nur mehr eine qualifizierte Verweisung zulässig sein soll, so wie dies bei erlernten oder angelernten Berufen unselbständig Erwerbstätiger schon vor dem 50. Lebensjahr der Fall ist, daß aber zwischen dem 50. und 55. Lebensjahr ein Tätigkeitsschutz weiterhin nicht bestehen soll (Teschner/Widlar, GSVG, Anm 2, III zu § 133).

Daß der Berufsschutz nach dem GSVG in anderer Weise geregelt ist als nach dem ASVG und die Voraussetzungen hiefür allenfalls strenger sind, erweckt - wie der Oberste Gerichtshof ebenfalls bereits mehrfach ausgesprochen hat - keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung des § 133 Abs 2 GSVG. Selbständig Erwerbstätige unterscheiden sich von unselbständig beschäftigten Personen eben gerade dadurch wesentlich, daß sie ihr Unternehmen selbständig und eigenverantwortlich leiten, dessen Aufgaben planen und durchführen und deshalb auch ihren Betrieb selbständig organisieren können (SSV-NF 2/70; 10 ObS 257/89, 10 ObS 272/90, 10 ObS 107/98b ua) und zu finanzieren haben. Bei den Versicherungen nach dem ASVG, dem GSVG und den anderen Sozialversicherungsgesetzen handelt es sich jeweils um geschlossene Systeme, die Regelungen für die in die einzelnen Gesetze einbezogenen Riskengemeinschaften treffen; auch die Finanzierung des Aufwandes ist unterschiedlich. Ein Vergleich der Lage der nach dem GSVG Versicherten mit den nach dem ASVG Versicherten in bezug auf einzelne Rechtsfolgen ist nur unter besonderen Umständen zulässig. Solche Umstände treten bei der Statuierung der Voraussetzungen für den Berufsschutz im § 133 Abs 2 GSVG nicht zutage (SSV-NF 5/55, 6/51, 7/31; RIS-Justiz OGH RS0108283). Im übrigen trifft die Behauptung der Revisionswerberin, daß bei Unselbständigen finanzielle Aufwendungen im Zusammenhang mit einer weiteren beruflichen Tätigkeit niemals verlangt werden, nicht zu. Bereits vorstehend wurde erwähnt, daß sich Unselbständige auf ihnen zumutbare Berufe am gesamten österreichischen Arbeitsmarkt verweisen lassen müssen. Von einem ASVG-Versicherten kann auch, wenn im Bereich seines Wohnortes keine entsprechenden Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, eine Verlegung des Wohnortes verlangt werden (SSV-NF 1/20, 2/105, 3/142, 4/78 ua), was naturgemäß mit beträchtlichen Aufwendungen verbunden ist, ohne daß diesen Aufwendungen für die Frage der Verweisbarkeit Relevanz zugemessen würde.

Der Revision ist daher ein Erfolg zu versagen.

Eine Prüfung der Voraussetzungen des § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG konnte mangels Kostenverzeichnung entfallen.

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