OGH 10ObS73/97a

OGH10ObS73/97a6.3.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag.Dr.Jörg Krainhöfner und Dr.Manfred Dafert (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Johanna M*****, Taxiunternehmerin, ***** vertreten durch Dr.Wolfgang Aigner, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1053 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, vertreten durch Dr.Paul Bachmann und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Erwerbsunfähigkeitspension, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26.November 1996, GZ 10 Rs 324/96g-34, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 16.Juli 1996, GZ 2 Cgs 135/95x-28, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten der Revisionsbeantwortung sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Die am 30.3.1942 geborene Klägerin ist seit 1976 selbständige Taxiunternehmerin ohne Beschäftigte; sie fuhr stets alleine mit dem Taxi und beschäftigte nie einen Chauffeur. Aufgrund verschiedener krankheitsbedingter Einschränkungen ist die Klägerin nur mehr für leichte, halbzeitig mittelschwere körperliche Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen ohne Heben und Tragen von mehr als 15 kg, ohne Heben des rechten Armes über Kopf, ohne Arbeiten überwiegend in gebückter Haltung geeignet. Arbeiten in Nässe und Kälte sollen vermieden werden. Die normale Arbeitszeit mit den üblichen Pausen kann eingehalten werden. Unbestritten ist, daß die Klägerin aufgrund der geschilderten Leistungseinschränkungen nicht mehr in der Lage ist, als selbständige Taxiunternehmerin tätig zu sein, weil dabei die Gewichtsbelastung von 15 kg jedenfalls bei dem erforderlichen Ein- und Ausladen von Gepäcksstücken überschritten wird.

Mit Bescheid vom 6.7.1995 wies die beklagte Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft den Antrag der Klägerin vom 8.2.1995 auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitspension ab.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt und erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin eine Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.3.1995 zu gewähren. Es stellte weiters fest, daß es "am allgemeinen Arbeitsmarkt" keine Verweisungstätigkeiten für die Klägerin gebe, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzen. Denkbar wäre die Verweisungstätigkeit als selbständige Schulbusunternehmerin (Schülertransporte). Solche Unternehmen würden in größeren Städten aber überhaupt nicht existieren, sondern nur auf dem Land in dünn besiedelten Gebieten, in denen es keine ausreichenden öffentlichen Verkehrsmittel für Schüler gebe. "Reine" Schulbusunternehmen existierten in Österreich nicht in der ausreichenden Zahl, es seien dies weniger als 100. Ein "reines" Schulbusunternehmen hätte überdies einen viel zu geringen Ertrag und die Betreibung eines solchen Unternehmens wäre überdies für die Klägerin mit einem Standortwechsel weit außerhalb von Wien in dünn besiedelte Gebiete verbunden. Die Tarife der Schulbusunternehmen beruhten in ihrer Kalkulation darauf, daß solche Unternehmen im Regelfall im Nebenerwerbsgeschäft von Landwirten oder Mietwagenunternehmen betrieben würden. Die gezahlten Tarife seien nicht kostendeckend. Schulbusunternehmungen würden daher in Österreich nur im Nebenbetrieb neben einem Hauptbetrieb, wie Landwirtschaft oder Mietwagengewerbe geführt und seien für sich allein nicht existenzfähig. Es bestehe daher für die Klägerin kein Verweisungsberuf. Die Klägerin sei erwerbsunfähig nach § 133 Abs 2 GSVG: Sie habe das 50. Lebensjahr vollendet, ihre persönliche Arbeitsleistung sei zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig gewesen und sie sei infolge von Krankheit außerstande, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie jene Erwerbstätigkeit erfordere, die sie zuletzt durch mindestens 60 Monate ausgeübt habe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen und hielt der Rechtsrüge entgegen, daß sie nicht gesetzmäßig ausgeführt sei, weil sie nicht vom festgestellten Sachverhalt, nämlich dem Vorliegen von weniger als 100 "reinen" Schulbusunternehmen in Österreich ausgehe, sondern von einer verfehlten Hochrechnung der steirischen Schulbusunternehmen auf ganz Österreich.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes wendet sich die Revision der Beklagten aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Sie beantragt die Abänderung dahin, daß das Klagebegehren abgewiesen werde und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

Die Klägerin beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne ihres Aufhebungsantrages berechtigt.

Hat das Berufungsgericht - wie im vorliegenden Fall - die rechtliche Beurteilung der Sache abgelehnt, weil die Berufung seiner Meinung nach eine dem Gesetz gemäß ausgeführte Rechtsrüge nicht enthielt, so muß dies in der Revision als Mangelhaftigkeit des Verfahrens gemäß § 503 Z 2 ZPO bekämpft werden (SSV-NF 5/18). Die Beklagte macht in ihrer Revision eine solche Mängelrüge zutreffend geltend. Sie hatte in ihrer Berufung ausgeführt, daß nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs eine Verweisung von unselbständigen Arbeitnehmern im Bereich des ASVG nur dann möglich sei, wenn ein Arbeitsmarkt existiere, also wenigstens 100 dem freien Wettbewerb zugängliche Stellen österreichweit zur Verfügung stünden; die Zahl 100 sei somit für die Verweisungsmöglichkeit im unselbständigen Tätigkeitsbereich als Kriterium eines ausreichenden Arbeitsmarktes herangezogen worden. Diese Überlegung sei aber nach Ansicht der Berufungswerberin nicht jedenfalls auf das Verweisungsfeld eines selbständigen Erwerbstätigen anzuwenden. Mit diesen Ausführungen hat die Beklagte den Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache dem Gesetz gemäß dargestellt, sodaß die Ablehnung der Behandlung dieser Rechtsrüge durch das Berufungsgericht einen Mangel des Berufungsverfahrens im Sinne des § 503 Z 2 ZPO darstellt, der aus den sogleich darzulegenden weiteren Gründen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führt.

Die vom Erstgericht vertretene Rechtsauffassung, bei Prüfung des Verweisungsfeldes eines Gewerbebetreibenden sei ausschlaggebend, ob es österreichweit wenigstens 100 derartige Betriebe gebe, ist nämlich unzutreffend. Nach der Rechtsprechung des Senates haben bei der Beurteilung der Verweisbarkeit von Arbeitern und Angestellten solche Tätigkeiten außer Betracht zu bleiben, die auf dem allgemeinen österreichischen Arbeitsmarkt nicht mehr oder fast nicht mehr vorkommen. Sind demnach in Österreich in den der Arbeitsfähigkeit des Versicherten angemessenen Verweisungsberufen nicht wenigstens 100 Stellen vorhanden, kann nicht vom Bestehen eines Arbeitsmarktes gesprochen und der Versicherte nicht auf diese Tätigkeiten verwiesen werden (SSV-NF 6/4 = DRdA 1992, 367 mwN; SSV-NF 6/56 mwN; SSV-NF 7/37 mit Stellungnahme zur teilweise kritischen Besprechung der erstangeführten Entscheidung durch Harrer in DRdA 1992, 368). Die von der Rechtsprechung genannte Mindestzahl von - offenen oder besetzten - Stellen dient vor allem dazu, auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt fast nicht mehr vorkommende Tätigkeiten als Verweisungsberufe auszuscheiden (SSV-NF 8/43). Von Bedeutung ist dabei auch die Überlegung, daß von einem "Arbeitsmarkt" nicht mehr gesprochen werden kann, wenn es nicht wenigstens 100 - offene oder besetzte - Stellen in den betreffenden Beruf gibt. Je mehr solcher Stellen es gibt, desto größer also der betreffende Arbeitsmarkt ist, umso eher wird es auch den Versicherten möglich sein, unbesetzte oder in der Folge freiwerdende Stellen zu erlangen.

Diese Überlegungen lassen sich aber auf selbständige Gewerbetreibende nicht übertragen. Nach § 133 Abs 2 GSVG idF der 19. GSVG-Novelle gilt als erwerbsunfähig der Versicherte, der das 50. Lebensjahr vollendet hat und dessen persönliche Arbeitsleistung zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war, wenn er infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte dauernd außerstande ist, einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, die eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die Erwerbstätigkeit erfordert, die der Versicherte zuletzt durch mindestens 60 Kalendermonate ausgeübt hat. Der Gesetzgeber verfolgte mit der Novellierung dieser Bestimmung die Absicht, daß ab dem 50. Lebensjahr für Kleingewerbetreibende zur Beurteilung der dauernden Erwerbsunfähigkeit nur mehr eine qualifizierte Verweisung zulässig sein soll, so wie das auch bei erlernten oder angelernten Berufen unselbständig Erwerbstätiger schon vor dem 50. Lebensjahr der Fall ist (§ 255 Abs 1 und 2 ASVG). Ein Tätigkeitsschutz soll allerdings zwischen dem 50. und dem 55. Lebensjahr weiterhin nicht bestehen. Es ist daher zu prüfen, welche selbständigen Tätigkeiten, die eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten wie die zuletzt ausgeübte Erwerbstätigkeit erfordern, für eine Verweisung in Frage kommen. Das Gesetz stellt nicht auf die konkret ausgeübten selbständigen Tätigkeiten und die bisherige Betriebsstruktur ab (dies sind Umstände, die im Falle der vorzeitigen Alterspension nach § 131 c GSVG von Bedeutung wären), sondern nur auf die Kenntnisse und Fähigkeiten, die für die durch 60 Monate ausgeübte selbständige Tätigkeit erforderlich waren. Dem Versicherten soll bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 133 Abs 2 GSVG nicht zugemutet werden, völlig neue Kenntnisse zu erwerben oder nunmehr einer unselbständigen Tätigkeit nachzugehen (SSV-NF 9/22; vgl auch SSV-NF 8/114 und 9/56).

Für die Beurteilung des Verweisungsfeldes nach § 133 Abs 2 GSVG kommt es aber nicht auf das Vorliegen eines "Arbeitsmarktes" und insbesondere auch nicht auf die Zahl jener Unternehmen an, die das betreffende Gewerbe betreiben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die selbständig ausgeübte Verweisungstätigkeit unter Berücksichtigung des Marktes eine wirtschaftlich vertretbare Betriebsführung ermöglicht. Die Möglichkeit, aus einer Unternehmertätigkeit ein Einkommen zu erzielen, hängt zwar indirekt auch von der Anzahl der Mitbewerber und der dadurch bestehenden Konkurrenzsituation ab, doch schließt dies nicht aus, daß ein Gewerbe gerade dann im Rahmen einer wirtschaftlich vertretbaren Betriebsführung ausgeübt werden kann, wenn auf dem gesamtösterreichischen Markt nur ganz wenige - unter Umständen sogar gar keine - gleichartige Unternehmungen tätig sind, weil in einem solchen Fall der einzelne Unternehmer mangels Konkurrenzierung unter Umständen sogar größere Gewinnchancen hat. Konkret bedeutet dies, daß die gesamtösterreichische Anzahl jener Taxiunternehmer, die sich ausschließlich mit Schülertransporten beschäftigten, entgegen der Auffassung der Vorinstanzen für die Entscheidung der vorliegenden Rechtsfragen völlig unerheblich ist. Nach den Feststellungen kann die Klägerin noch als Schulbusunternehmerin erwerbstätig sein. Daß es im städtischen Bereich, namentlich in Wien als dem Wohnort der Klägerin im Hinblick auf die öffentlichen Verkehrsmittel keinen Bedarf nach Schülertransporten gibt, ist nicht entscheidend, weil es auf die abstrakte Möglichkeit der Ausübung eines Gewerbes ankommt und vom Versicherten auch verlangt werden müßte, sein Gewerbe dort auszuüben, wo ein entsprechender Bedarf besteht. Entscheidend ist allerdings, ob die Führung eines Taxiunternehmens, das sich ausschließlich mit dem Schülertransport beschäftigt, ein die Existenz sicherndes Einkommen oder mit anderen Worten einen die Lebenshaltung des Unternehmers ermöglichenden Gewinn abwirft. Dazu fehlen ausreichende Feststellungen. Die Annahme des Erstgerichtes, ein "reines" Schulbusunternehm hätte einen "viel zu geringen Ertrag" und sei nicht existenzfähig, nimmt ohne Tatsachengrundlage die rechtliche Beurteilung vorweg und ist ohne Aussagekraft, weil daraus der tatsächlich erzielbare Ertrag nicht entnommen werden kann, andererseits aber auch ein Gewerbetreibender im Rahmen einer Verweisung nach § 133 Abs 2 GSVG gewisse Einkommenseinbußen hinnehmen muß und nicht darauf beharren kann, im Verweisungsberuf dasselbe Einkommen zu beziehen wie bisher. Es ist daher auch nicht maßgebend, ob Schulbusunternehmen "im Regelfall" im Nebenerwerbsgeschäft von Landwirten oder Mietwagenunternehmen betrieben werden, wie das Erstgericht annahm. Die entscheidungswesentlichen Fragen wurden von der Beklagten in ihrer Berufung aufgezeigt, vom Berufungsgericht jedoch, ausgehend von seiner unzutreffenden Ansicht, die Berufung sei nicht gesetzmäßig ausgeführt, nicht näher erörtert. Es liegen daher auch Feststellungsmängel vor, die zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht führen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO in Verbindung mit § 2 Abs 1 ASGG.

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