Normen
EURallg
VerfGG 1953 §87 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2023180037.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem Spruchpunkt I. wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts und in seinen Spruchpunkten II. bis IV. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 8. Jänner 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Erkenntnis vom 6. Juni 2017 rechtskräftig abwies. Dem Mitbeteiligten wurde kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG) erteilt, gegen ihn wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und die Abschiebung nach Afghanistan für zulässig erklärt. Außerdem wurde festgestellt, dass der Mitbeteiligte ‑ infolge näher dargestellter schwerer Straffälligkeit ‑ sein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verloren habe, es wurde ein unbefristetes Einreiseverbot gegen ihn erlassen und keine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
2 Am 15. Juli 2020 stellte der Mitbeteiligte aus der Strafhaft den gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz.
3 Mit Bescheid vom 1. September 2020 wies das BFA den Folgeantrag wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurück und erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005. Die dagegen erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten wies das BVwG mit Erkenntnis vom 23. August 2021 als unbegründet ab.
4 Mit Erkenntnis vom 15. Dezember 2021, E 3632/2021‑16, hob der Verfassungsgerichtshof das verwaltungsgerichtliche Erkenntnis vom 23. August 2021 in Bezug auf die Zurückweisung des Folgeantrags hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 auf. Im Übrigen lehnte er die Behandlung der Beschwerde ab.
5 Zur Begründung der Aufhebung führte der Verfassungsgerichtshof wörtlich aus:
„Der Verfassungsgerichtshof ist der Auffassung, dass auf Grundlage des Länderinformationsblattes vom 11. Juni 2021 sowie der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 (und der zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes verfügbaren, breiten medialen Berichterstattung) spätestens ab 20. Juli 2021 ‑ daher bereits auch zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes ‑ von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war (VfGH 30.9.2021, https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Vfgh&GZ=E3445/2021&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True ), sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, die den Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art 2 und 3 EMRK aussetzt (zur Bedeutung dieses Umstandes für die Beurteilung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinne des Art 2 und 3 EMRK siehe statt vieler VfSlg https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Vfgh&Sammlungsnummer=19466&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True , https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Vfgh&Sammlungsnummer=20296&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True , https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Vfgh&Sammlungsnummer=20358&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True; VfGH 6.10.2020, https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Vfgh&GZ=E2406/2020&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=False&SucheNachText=True ).
... Indem das Bundesverwaltungsgericht von einer im Hinblick auf Art 2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers in Afghanistan ausgegangen ist, ohne dass es sich mit der oben genannten ‑ zum Zeitpunkt seiner Entscheidung relevanten ‑ Berichtslage auseinandergesetzt hat, hat es sein Erkenntnis, soweit es sich auf die Zurückweisung des Antrages hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs 1 AVG wegen entschiedener Sache und gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§ 57 AsylG 2005) bezieht, mit Willkür belastet.“
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG im fortgesetzten Verfahren die Beschwerde des Mitbeteiligten bezüglich des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab (Spruchpunkt I.). Der Beschwerde bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gab es statt und erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum einem näher bezeichneten Zeitpunkt zu (Spruchpunkte II. und III.). Die Entscheidung des BFA betreffend den Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 behob das BVwG ersatzlos (Spruchpunkt IV.) und es erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof für nicht zulässig.
7 Dagegen wendet sich die vorliegende Amtsrevision, die zur Zulässigkeit und in der Sache geltend macht, das BVwG habe in mehrfacher Weise die Rechtslage verkannt.
8 Es habe mit Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses zu Unrecht neuerlich über den rechtskräftig erledigten Folgeantrag des Mitbeteiligten in Bezug auf den Status des Asylberechtigten entschieden. Mit den Spruchpunkten II. bis IV. des angefochtenen Erkenntnisses habe das BVwG die „Sache“ des Beschwerdeverfahrens überschritten, indem es nach dem aufhebenden Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes selbst über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die Frage der Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 entschieden habe, statt sich richtig auf die bloße Prüfung der Rechtmäßigkeit der Zurückweisungsentscheidung des BFA zu beschränken. Ungeachtet dessen habe das BVwG die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung fallbezogen abweichend von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung ermittelt und die Verwirklichung eines Ausschlussgrundes gemäß § 8 Abs. 3a in Verbindung mit § 9 Abs. 2 AsylG 2005 durch den Mitbeteiligten unberücksichtigt gelassen. Letzteres hätte dazu führen müssen, dass dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen seiner schweren Straftaten jedenfalls nicht zu erteilen gewesen wäre.
9 Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der er die Zurückweisung der Revision, hilfsweise deren Abweisung beantragt.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig und begründet.
Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses:
12 Zu Recht macht die Revision geltend, dass über die Beschwerde des Mitbeteiligten betreffend die Zurückweisung seines Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten mit verwaltungsgerichtlichem Erkenntnis vom 23. August 2021 abschließend entschieden worden ist. Die Aufhebung dieses Erkenntnisses durch den Verfassungsgerichtshof bezog sich darauf nicht. Mit der Rechtskraft des Erkenntnisses vom 23. August 2021 in diesem Spruchpunkt ist die Wirkung verbunden, dass darüber nicht neuerlich entschieden werden durfte (Wiederholungsverbot). Einer nochmaligen Entscheidung steht das Prozesshindernis der entschiedenen Sache (res iudicata) entgegen. Indem das BVwG über die Beschwerde des Mitbeteiligten gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses neuerlich abgesprochen hat, hat es das angefochtene Erkenntnis im Umfang des Spruchpunktes I. mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit belastet (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 20.10.2021, Ra 2020/20/0306, mwN).
Zu den Spruchpunkten II. bis IV. des angefochtenen Erkenntnisses:
13 In Hinblick auf wiederholte Anträge auf internationalen Schutz entspricht es der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhalts die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung ‑ nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen ‑ berechtigen und verpflichten kann, der rechtlich für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen Relevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen „glaubhaften Kern“ aufweisen, dem Relevanz zukommt.
14 In jenem Fall, in dem das BFA den verfahrenseinleitenden Antrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen hat, ist insoweit „Sache des Beschwerdeverfahrens“ vor dem Verwaltungsgericht die Frage, ob diese Zurückweisung zu Recht erfolgt ist.
15 Das Verwaltungsgericht hat diesfalls nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu prüfen, ob die Behörde auf Grund des von ihr zu berücksichtigenden Sachverhalts zu Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen früheren Asylverfahren keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist. Die Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags auf Grund geänderten Sachverhalts hat ‑ von allgemein bekannten Tatsachen abgesehen ‑ im Beschwerdeverfahren nur anhand der Gründe, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens vorgebracht wurden, zu erfolgen (vgl. zum Ganzen etwa jüngst VwGH 22.3.2023, Ra 2021/01/0050, mwN).
16 Im gegenständlichen Fall wurde der Folgeantrag des Mitbeteiligten in Bezug auf den Status des Asylberechtigten vom BVwG mit Erkenntnis vom 23. August 2021 rechtskräftig abgewiesen und die dagegen erhobene Beschwerde vom Verfassungsgerichtshof abgelehnt. Einer neuerlichen Entscheidung über diesen (trennbaren) Spruchpunkt stand das Prozesshindernis der entschiedenen Sache entgegen, weshalb das angefochtene Erkenntnis in seinem Spruchpunkt I. mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit belastet ist.
17 Hinsichtlich der weiteren Spruchpunkte des angefochtenen Erkenntnisses, insbesondere der inhaltlichen Entscheidung über den Status des subsidiär Schutzberechtigten, ist zunächst zu beachten, dass die Verwaltungsgerichte und die Verwaltungsbehörden in der betreffenden Rechtssache gemäß § 87 Abs. 2 VfGG verpflichtet sind, unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verfassungsgerichtshofes in einem aufhebenden Erkenntnis entsprechenden Rechtszustand mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln herzustellen. Bei Prüfung der vom Verwaltungsgericht erlassenen Ersatzentscheidung ist auch der Verwaltungsgerichtshof an die Rechtsauffassung des Verfassungsgerichtshofes gebunden. Nur dann, wenn das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes bindende Vorgaben des Unionsrechts außer Acht gelassen hätte, könnte es geboten sein, die in § 87 Abs. 2 VfGG normierte Bindungswirkung wegen des Vorranges des Unionsrechts unangewendet zu lassen (vgl. dazu VwGH 6.3.2019, Ro 2018/03/0031 bis 0038, Ro 2019/03/0007 bis 0009, Rn. 64 bis 70).
18 Im gegenständlichen Fall hat der Verfassungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis vom 15. Dezember 2021 für das fortgesetzte Verfahren gemäß § 87 Abs. 2 VfGG die Rechtsauffassung überbunden, dass das BVwG eine relevante Lageänderung im Herkunftsstaat, die zur Gewährung von subsidiärem Schutz führen könnte, bezogen auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung über den Folgeantrag zu beurteilen hat. Die Übereinstimmung dieser Rechtsansicht mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist im Hinblick auf die Bindungswirkung des aufhebenden Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes gegenständlich nicht weiter zu überprüfen, zumal auch keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes bindende Vorgaben des Unionsrechts außer Acht gelassen hätte (vgl. Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes [Neufassung]).
19 Die vom Verfassungsgerichtshof eingeforderte Ex‑nunc‑Prüfung der Lage in Afghanistan zur Beurteilung des subsidiären Schutzes im Beschwerdeverfahren über den zurückgewiesenen Folgeantrag führt aber nicht dazu, dass das BVwG deshalb über den Folgeantrag hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten inhaltlich zu entscheiden gehabt hätte. Derartiges lässt sich dem aufhebenden Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes nicht entnehmen.
20 „Sache“ des Beschwerdeverfahrens blieb weiterhin die Frage der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung durch das BFA (vgl. zur ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in diesem Zusammenhang auch VwGH 5.6.2019, Ra 2018/18/0507; VwGH 10.6.2020, Ra 2019/18/0516; VwGH 30.7.2020, Ra 2019/20/0301; VwGH 19.10.2021, Ro 2019/14/0006; VwGH 21.6.2022, Ra 2020/19/0234, u.a.). Die „Sache“ des Beschwerdeverfahrens ist nämlich nach der ständigen, auch über den Bereich des Asylrechts hinausgehenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nur jene Angelegenheit, die den Inhalt des Spruchs des Bescheides der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde gebildet hat (vgl. etwa VwGH 14.4.2023, Ra 2023/06/0020). Dieser stellt den äußersten Rahmen dar, durch den die Angelegenheit begrenzt wird (vgl. etwa VwGH 13.4.2023, Ra 2021/05/0121). Hat die belangte Behörde einen Antrag zurückgewiesen und wird dagegen Beschwerde erhoben, ist „Sache“ des Beschwerdeverfahrens vor dem Verwaltungsgericht lediglich die Frage der Rechtmäßigkeit dieser Zurückweisung. Das Verwaltungsgericht hat allein zu prüfen, ob die inhaltliche Behandlung des Antrags zu Recht verweigert worden ist (vgl. etwa VwGH 4.5.2023, Ra 2020/11/0227, mwN). Mit einer meritorischen Entscheidung über den Antrag überschreitet das Verwaltungsgericht hingegen die „Sache“ des Beschwerdeverfahrens (vgl. etwa VwGH 9.5.2023, Ra 2020/04/0012).
21 Ausgehend davon hat das BVwG mit seiner inhaltlichen Entscheidung über den Folgeantrag hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten (und der darauf aufbauenden abweisenden Entscheidung über den Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005) die „Sache“ des Beschwerdeverfahrens überschritten.
22 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf Spruchpunkt I. wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG und in Bezug auf die Spruchpunkte II. bis IV. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 4. Juli 2023
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