VwGH Ra 2020/20/0306

VwGHRa 2020/20/030620.10.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Juli 2020, W257 2181867‑1/33E, betreffend Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: J J in T), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3
VwGG §41
VwGG §42 Abs2 Z2
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020200306.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem Spruchpunkt A) I. wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts und in seinen Spruchpunkten A) II. bis A) IV. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 2. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Mit Bescheid vom 23. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag sowohl hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), legte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).

3 Mit Erkenntnis vom 17. September 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten ab.

4 Im Umfang der Bestätigung der Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheides vom 23. November 2017 erhob der Mitbeteiligte gegen dieses Erkenntnis Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Mit Erkenntnis vom 10. März 2020, E 3601/2019‑12, gab der Verfassungsgerichtshof dieser Beschwerde statt, erkannte, dass der Mitbeteiligte durch das Erkenntnis des BVwG vom 17. September 2019 in seinem Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden sei und hob dieses im angefochtenen Umfang auf.

5 Der Verfassungsgerichtshof verwies zur Begründung auf die ständige Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zum Erfordernis der Berücksichtigung aktueller Länderberichte ‑ und im Besonderen auch der Richtlinien des UNHCR und der Berichte von EASO ‑ bei der Beurteilung der Lage im Herkunftsland im Rahmen der Prüfung der Frage, ob einem Fremden im Fall der Abschiebung die reale Gefahr einer Verletzung von (u.a.) Art. 2 oder 3 EMRK drohe.

6 Das BVwG habe ‑ gestützt auf die UNHCR‑Richtlinien, denen zufolge „Zivilisten, die in Kabul tagtäglich ihren wirtschaftlichen oder sozialen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer der allgegenwärtigen in der Stadt [Kabul] bestehenden Gefahr zu werden“ ‑ eine Ansiedlung des Mitbeteiligten in Kabul mit der Begründung für möglich und zumutbar gehalten, dass Kabul relativ sicher sei und der Mitbeteiligte auf Reintegrationsmaßnahmen, Rückkehrhilfe und finanzielle Unterstützung seiner Eltern zurückgreifen könne.

7 Damit habe das BVwG allerdings außer Acht gelassen, dass nach den UNHCR‑Richtlinien „angesichts der gegenwärtigen Sicherheits‑, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar“ sei, obwohl das BVwG diese Richtlinien im Erkenntnis ausdrücklich zitiert habe. Auf aktuelle EASO‑Berichte sei das BVwG in diesem Zusammenhang nicht eingegangen und habe daher übersehen, dass zum Entscheidungszeitpunkt eine spezifische Information betreffend Fälle wie jenen des Mitbeteiligten, der im Iran geboren und aufgewachsen sei, vorliege.

8 Aus der „Country Guidance: Afghanistan Common Note and common analysis“ des EASO auf dem Stand Juni 2019 gehe hervor, dass für diese Gruppe von Rückkehrern eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könnte, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Berücksichtigung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw. Verbindungen zu Afghanistan, sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund (insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung, Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans).

9 Indem sich das BVwG weder mit der aktuellen Versorgungs- und Sicherheitslage in Kabul unter Bezugnahme auf aktuelle Länderberichte hinreichend auseinandergesetzt noch den Umstand, dass der Mitbeteiligte im Iran geboren und aufgewachsen sei, in seine Beurteilung miteinbezogen habe, habe es seine Entscheidung mit Willkür belastet.

10 Im fortgesetzten Verfahren gewährte das BVwG dem Mitbeteiligten unter Mitteilung aktualisierter Länderberichte Parteiengehör.

11 Mit Erkenntnis vom 5. Juli 2020 wies das BVwG die Beschwerde „gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides“ als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I.), gab der Beschwerde „hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides“ statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A) II.), erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt A) III.) und hob die Spruchpunkte III. bis VI. des Bescheides vom 23. November 2017 ersatzlos auf (Spruchpunkt A) IV.). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für unzulässig.

12 In Bezug auf Spruchpunkt I. des Bescheids des BFA vom 23. November 2017 (hinsichtlich dessen das BVwG mit Spruchpunkt A) I. des angefochtenen Erkenntnisses die Beschwerde abwies) wies das BVwG in seiner rechtlichen Würdigung darauf hin, dass der Verfassungsgerichtshof das im ersten Rechtsgang erlassene Erkenntnis des BVwG nur insoweit aufgehoben habe, als dadurch über die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Rückkehrentscheidung sowie die Festlegung einer Frist zur freiwilligen Ausreise entschieden worden sei, weshalb das BVwG im fortgesetzten Verfahren nur mehr darüber zu entscheiden habe.

13 In dem mit „Feststellungen“ überschriebenen Abschnitt seines Erkenntnisses führte das BVwG aus, der ledige und kinderlose Mitbeteiligte sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, bekenne sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam, sei im Iran geboren und aufgewachsen und habe nie in Afghanistan gewohnt. Er habe zehn Jahre lang die Schule im Iran besucht, sei dort in der Landwirtschaft und als Hilfsarbeiter an Baustellen beschäftigt gewesen und absolviere (in Österreich) eine Lehre als Restaurantfachmann. Der Mitbeteilige pflege mit seiner im Iran lebenden Familie (Eltern, fünf Brüder und zwei Schwestern) regelmäßigen Kontakt. In Kabul oder anderen afghanischen Großstädten verfüge er „über keine tragfähigen familiären und sozialen Anknüpfungspunkte“. Wirtschaftlich gehe es der Familie im Iran mittelmäßig. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan könne der Mitbeteiligte finanzielle Unterstützung „durch seine im Iran befindlichen Eltern erfahren“.

14 Der Mitbeteiligte leide an einer Hautkrankheit, stehe aber nicht in Behandlung. Zudem leide er an Schlafstörungen und an Anpassungsstörungen im Sinne von Angst und zeige eine depressive Reaktion. Er selbst bezeichne sich generell als gesund und sei arbeitsfähig. Die Muttersprache des Mitbeteiligten sei „Farsi/Dari“; er spreche außerdem Deutsch.

15 Anschließend daran traf das BVwG (ebenfalls in dem mit „Feststellungen“ überschriebenen Abschnitt seiner Entscheidung) zu einer möglichen Rückkehr des Revisionswerbers in den Herkunftsstaat die folgenden Aussagen:

„Dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Der Beschwerdeführer liefe Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten“.

16 In weiterer Folge traf das BVwG Feststellungen in Form einer zusammenfassenden Wiedergabe von Inhalten des aktuellen Länderinformationsblatts der Staatendokumentation des BFA (zum Thema „Allgemeine Wirtschaftslage“, „Medizinische Versorgung“, „Ethnische Minderheiten“, „Allgemeine Menschenrechtslage“, „Bewegungsfreiheit und Meldewesen“, „Regierungsfeindliche Gruppierungen“, sowie zur Lage in Kabul, zur „Situation für Rückkehrer/innen“ und zum Thema „Religionen“).

17 Im Anschluss daran enthält das Erkenntnis unter der Überschrift „UNHCR‑Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.8.2018, Seite 119 in der deutschen Fassung“ folgende Ausführungen:

„Eine Bewertung der Möglichkeiten für eine Neuansiedlung setzt eine Beurteilung der Relevanz und der Zumutbarkeit der vorgeschlagenen internen Schutzalternative voraus.

Folgendes kann nicht festgestellt werden (aus der gleichen UNHCR‑Richtlinie, Seite 129 in deutscher Fassung):

Kabul: UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits‑, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist.“

18 Unter der Überschrift „EASO Bericht Juni 2018“ gibt das BVwG sodann den folgenden Wortlaut der im genannten Dokument angeführten Kriterien zur Beurteilung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Fall von Personen, die außerhalb Afghanistans geboren und/oder eine lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, wieder:

„For applicants who were born and/or lived outside Afghanistan for a very long period of time, IPA may not be reasonable if they do not have a support network which would assist them in accessing means of basic subsistence. The following elements should be taken into account in this assessment:

- Support network: a support network would be of particular importance in the assessment of the reasonableness of IPA for such applicants.

- Local knowledge: particular consideration should be given to whether the applicant has local knowledge and maintained any ties with Afghanistan. Afghan nationals who resided outside of the country over a prolonged period of time may lack essential local knowledge necessary for accessing basic subsistence means and basic services. The support network could also provide the applicant with such local knowledge.

- Social and economic background: the background of the applicant, including their educational and professional experience and connections, as well as whether they were able to live on their own outside Afghanistan, could be relevant considerations.“

19 Unter der Überschrift „Beweiswürdigung“ führt das BVwG aus: „Nachdem der Beschwerdeführer noch nie in Afghanistan gelebt hat und so dort keine sozialen Anknüpfungspunkte hat, wählte das Gericht die Hauptstadt von Afghanistan als theoretische Möglichkeit[,] sich dort niederzulassen“. Sodann setzt sich das BVwG mit der zitierten UNHCR‑Richtlinie auseinander und zieht daraus den Schluss, dass dem Mitbeteiligten als alleinstehendem, leistungsfähigen Mann im erwerbsfähigen Alter ohne besondere Gefährdungsfaktoren eine Neuansiedelung in Kabul grundsätzlich möglich und zumutbar sei, wobei zu berücksichtigen wäre, dass die Familie des Mitbeteiligten im Iran in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen lebe, sodass davon ausgegangen werden könne, dass ihm ‑ abgesehen von einer allfälligen Rückkehrunterstützung der vor Ort tätigen Hilfsorganisationen ‑ finanzielle Unterstützung durch seine Familie zur Verfügung stehe, um sich eine Existenz aufbauen zu können.

20 Dennoch sei ‑ so das BVwG in der Beweiswürdigung weiter ‑ „unter Beachtung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 10. März [2020], E 3601/2019“, und der „Country Guidance: Afghanistan ‑ Guidance note and common analysis“ des EASO auf dem Stand Juni 2018, davon auszugehen, dass dem Mitbeteiligten eine reale Gefahr im Falle der Rückkehr drohe. Der Mitbeteiligte habe nie in Afghanistan gelebt und dort keine sozialen Anknüpfungspunkte. Vor diesem Hintergrund könne „nicht mit der maßgeblichen Sicherheit“ davon ausgegangen werden, dass ihm in Afghanistan keine Gefahr drohe.

21 Die Revision erklärte das BVwG nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG für unzulässig.

22 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vorbringt, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Beurteilung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen (Hinweise auf VwGH 12.12.2019, Ra 2019/01/0243; 26.2.2020, Ra 2019/18/0017). In Ansehung der (mit Spruchpunkt A) I. des angefochtenen Erkenntnisses erfolgten) Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA vom 23. November 2017 begründet die Revision ihre Zulässigkeit damit, dass das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu dem aus der Rechtskraft erfließenden Grundsatz der Unwiederholbarkeit abgewichen sei (Hinweise auf VwGH 24.5.2016, Ra 2016/03/0050; 13.9.2016, Ro 2015/03/0045).

23 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Revision sowie der Verfahrensakten durch das BVwG das Vorverfahren eingeleitet. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

24 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

25 Die Revision ist aus den vorgebrachten Gründen zulässig. Sie ist auch begründet.

Zu Spruchpunkt A) I. des angefochtenen Erkenntnisses:

26 Mit der an den Verfassungsgerichtshof gegen das (im ersten Rechtsgang erlassene) Erkenntnis des BVwG vom 17. September 2019 erhobenen Beschwerde wurde dieses Erkenntnis nur im Umfang der Bestätigung der Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheides vom 23. November 2017 angefochten; auch das aufhebende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes war auf diesen Umfang beschränkt. Im Umfang der Bestätigung des Spruchpunktes I. des Bescheides ist das Erkenntnis des BVwG vom 17. September 2019 daher im Rechtsbestand verblieben.

27 Das BVwG wies zwar im Rahmen der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses darauf hin, dass es über die Beschwerde nur mehr in dem Umfang zu entscheiden habe, in dem der Verfassungsgerichtshof das im ersten Rechtsgang erlassene Erkenntnis aufgehoben habe, jedoch lässt die eindeutige Formulierung des Spruchpunktes A) I. des angefochtenen Erkenntnisses („Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgwiesen“) keinen Raum für Zweifel daran, dass das BVwG über Spruchpunkt I. des Bescheides des BFA vom 23. November 2017 (neuerlich) entschieden hat (zur Unerheblichkeit eines Widerspruchs zwischen Begründung und Spruch, wenn nach dem Wortlaut des Spruchs der Entscheidung über deren Inhalt kein Zweifel herrschen kann, vgl. VwGH 13.5.2005, 2004/02/0354; 25.10.2018, Ra 2018/09/0110; 28.5.2019, Ra 2018/05/0195, jeweils mwN). Angesichts dessen sind die gegenteiligen Ausführungen in der Begründung nicht ausschlaggebend.

28 Das BFA macht daher zu Recht geltend, dass das BVwG mit Spruchpunkt A) I. des angefochtenen Erkenntnisses neuerlich über die Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz im Umfang der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten entschieden hat.

29 Die Entscheidung eines Verwaltungsgerichts wird mit ihrer Erlassung rechtskräftig (vgl. VwGH 26.11.2015, Ro 2015/07/0018), wobei alle Parteien eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens einen Rechtsanspruch auf Beachtung der eingetretenen Rechtskraft haben (VwGH 19.1.2016, Ra 2015/01/0070; 13.9.2016, Ro 2015/03/0045). Im Zusammenhang mit diesem Grundsatz ist die einschlägige Rechtsprechung zu § 68 AVG in sinngemäßer Weise heranziehbar. Daraus ist abzuleiten, dass über ein und dieselbe Rechtssache nur einmal rechtskräftig zu entscheiden ist (ne bis in idem). Mit der Rechtskraft ist die Wirkung verbunden, dass die mit der Entscheidung unanfechtbar und unwiderruflich erledigte Sache nicht neuerlich entschieden werden kann (Wiederholungsverbot). Einer nochmaligen Entscheidung steht das Prozesshindernis der entschiedenen Sache (res iudicata) entgegen (vgl. VwGH 24.4.2015, 2011/17/0244, mwN).

30 Indem das BVwG über die Beschwerde des Mitbeteiligten gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides neuerlich abgesprochen hat, obwohl darüber bereits mit Erkenntnis des BVwG vom 17. September 2019 entschieden worden war (und dieses Erkenntnis durch das nachfolgende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 10. März 2020, E 3601/2019‑12, unberührt geblieben ist) hat das BVwG das angefochtene Erkenntnis im Umfang seines Spruchpunkts A) I. mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit belastet.

Zu Spruchpunkten A) II. bis A) IV. des angefochtenen Erkenntnisses

31 Voranzustellen ist in diesem Zusammenhang, dass der Verwaltungsgerichtshof bei der Prüfung des angefochtenen Erkenntnisses gemäß § 41 VwGG auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Entscheidung abzustellen hat.

32 Das BVwG ging in rechtlicher Hinsicht davon aus, dass dem Mitbeteiligten die „reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK“ im Fall einer „Rückkehr“ nach Kabul drohe. Zu dieser rechtlichen Schlussfolgerung des BVwG finden sich in den Feststellungen zwar pauschale Aussagen, wonach dem Mitbeteiligten „bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen“ würde und er Gefahr liefe, „grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten“. Diese Aussagen finden jedoch insoweit keine Deckung in den Feststellungen und der Beweiswürdigung, als Kabul darin als eine „relativ sichere Stadt“ und der Mitbeteiligten als „leistungsfähiger und alleinstehender Mann“ bezeichnet wurde, dem dort eine Neuansiedelung „grundsätzlich möglich und zumutbar“ sei. Die Schlussfolgerung, dass dem Mitbeteiligten „unter Beachtung des Erk[enntnisses] des VfGH [vom 10.3.2020, E 3601/2019] ... eine reale Gefahr im Falle der Rückkehr“ drohe, gewann das BVwG im Rahmen seiner Beweiswürdigung ausschließlich aus einer Bezugnahme auf jene Passage des EASO‑Berichts vom Juni 2018, wonach im Fall von Rückkehrern, die außerhalb Afghanistans geboren seien und/oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt hätten, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht zumutbar sein könnte, und wonach für diese Personengruppe die Prüfung näher genannter Kriterien erforderlich erscheine.

33 Damit verkannte das BVwG, dass sich die genannte Berichtspassage auf die Frage bezieht, unter welchen Umständen einem afghanischen Staatsangehörigen im Fall der Rückkehr die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zumutbar ist. Wenn das BVwG ‑ entgegen seinen Ausführungen, wonach Kabul „relativ sicher sei“ und sich der Mitbeteiligte dort niederlassen könne ‑ allein aus der genannten Passage das Vorhandensein einer die Schwelle des Art. 3 EMRK erreichenden Gefahr ableitet, erweist sich seine Beurteilung als in solchem Maß unschlüssig, dass sich die angefochtene Entscheidung einer inhaltlichen Überprüfbarkeit entzieht.

34 Bei der Prüfung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Afghanistan (bezogen auf den im vorliegenden Revisionsfall relevanten Zeitpunkt) hat sich das BVwG auch mit den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 sowie den Vorgaben der EASO Country Guidance Notes zu Afghanistan in adäquater Weise auseinanderzusetzen (VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, mwN).

35 Der Verwaltungsgerichtshof hat zu der vom BVwG herangezogenen Passage der EASO‑Leitlinien (im Erkenntnis 17. September 2019, Ra 2019/14/0160, Rn. 46) ausgeführt, dass auch EASO in den zitierten Ausführungen nicht davon ausgeht, jenen afghanischen Staatsangehörigen, die außerhalb Afghanistans geboren wurden und/oder für längere Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, wäre die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in ihrem Heimatland schlechthin unzumutbar. Vielmehr hält EASO fest, eine solche könnte bei Fehlen eines sie unterstützenden Netzwerks nicht zumutbar sein („may not be reasonable“). Im Weiteren empfiehlt EASO bei der vorzunehmenden Bewertung den im Einzelnen genannten Umständen Beachtung zu schenken. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Umstände, deren Existenz sämtlich bejaht oder verneint werden müsste. Zudem sind diese Ausführungen des EASO im Kontext seiner gesamten Ausführungen zur innerstaatlichen Fluchtalternative zu verstehen (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, zu den EASO‑Leitlinien vom Juni 2018, weiters zum gleichen Ergebnis hinsichtlich der EASO‑Leitlinien vom Juni 2019 ferner etwa VwGH 10.8.2021, Ra 2021/18/0121, mwN).

36 Indem das BVwG keine Bewertung anhand aller relevanten beim Mitbeteiligten vorliegenden Umstände vorgenommen, sondern bloß unter Heranziehung der in Rn. 18 wiedergegebenen Passage der EASO‑Leitlinien vom Juni 2018 ‑ gleichsam automatisch, ausschließlich aufgrund des Umstandes, dass der Mitbeteiligte „nie in Afghanistan gelebt“ und dort „keine Verwandten und sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte“ habe ‑ zu der (auch durch die dem angefochtenen Erkenntnis vorangehende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes nicht vorweggenommenen und daher auch danach einer der Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles bedürftigen) Schlussfolgerung gelangt ist, dass dem Mitbeteiligten die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul nicht zumutbar sei, verkannte es die dazu ergangene Rechtsprechung und belastete das angefochtene Erkenntnis im Umfang der Entscheidung über die Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheides des BFA vom 23. November 2017 schon aus diesem Grund mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Darauf, dass das BVwG in seiner Begründung auf die EASO‑Leitlinien vom Juni 2018 und nicht auf die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits veröffentlichte aktuellere Fassung dieser Leitlinien vom Juni 2019 abgestellt hat, muss daher an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.

37 Das angefochtene Erkenntnis war daher in seinem Spruchpunkt A) I. gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts und in seinen Spruchpunkten A) II. bis A) IV. gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Wien, am 20. Oktober 2021

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