BVwG W265 2211873-1

BVwGW265 2211873-115.12.2021

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:W265.2211873.1.00

 

Spruch:

W265 2211873-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 06.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 07.12.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er unter anderem an, afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim zu sein sowie aus der Provinz Laghman zu stammen. Zu seinem Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer aus, er habe seine Heimat aufgrund der Taliban verlassen. In Afghanistan habe er für die afghanische Nationalarmee in der Küche Hilfsarbeiten durchgeführt. Die Taliban hätten ihn aufgefordert, giftige Stoffe in das Essen beizumengen. Er habe sich geweigert und habe Drohbriefe erhalten. Aus Angst um sein Leben habe er die Flucht ergriffen. Sein Leben sei aufgrund der Taliban in Gefahr. Er fürchte den Tod.

3. Am 26.09.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinen persönlichen Umständen ergänzend im Wesentlichen an, er sei im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Laghman geboren und habe dort bis zu seiner Ausreise gelebt. Er habe keine Schule besucht und sei Analphabet. Er habe in der Landwirtschaft seiner Familie, zwei Jahre als Autolackierer und drei Jahre in der Küche bei der Armee gearbeitet. Seine Ehefrau, seine Mutter, zwei Brüder und eine Schwester würden noch im Heimatdorf leben. Auch zwei Onkel und drei Tanten väterlicherseits sowie drei Onkel mütterlicherseits seien in Afghanistan. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer Integrationsunterlagen, medizinische Befunde afghanische Dokumente und Drohbriefe vor.

Zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, er habe bei einer speziellen Einheit namens Special Force in Kabul gearbeitet. Diese Einheit habe nachts die Taliban angegriffen, es seien auch Amerikaner dabei gewesen. Er und sein Vater hätten gemeinsam gearbeitet, sie seien immer freitags nachhause gekommen und samstags wieder arbeiten gegangen, ansonsten seien sie die ganze Woche bei der Arbeit gewesen. Sein Vater sei Offizier gewesen und habe in der Lohnverrechnung gearbeitet. Ca. ein Jahr lang habe niemand gewusst, dass sie für diese spezielle Einheit arbeiten würden. Dann hätten die Spione der Taliban und die Dorfbewohner dies mitbekommen. Beim Freitagsgebet habe der Mullah mit ihnen gesprochen und gesagt, dass alle schon wissen würden, dass sie mit den Amerikanern kooperieren und bei der Spezialeinheit im Einsatz seien. Er habe gesagt, dass sie von ihm Giftstoff bekommen würden und diesen in das Essen der Spezialeinheit mischen sollen. Der Beschwerdeführer habe zum Mullah gesagt, dass das nicht in Frage komme. Die afghanischen Soldaten der Spezialeinheit seien auch Muslime und würden fünfmal am Tag beten. Dann hätten sie zweimal Drohbriefe der Taliban erhalten. Als sie den zweiten Brief bekommen hätten, hätten sie große Angst bekommen. Danach hätten sie ihr Haus angegriffen. Sein Vater sie ziemlich alt gewesen und habe nicht flüchten können, er sei von den Taliban mitgenommen worden. Der Beschwerdeführer habe es geschafft, nach Jalalabad zu flüchten. Er habe dann von dort aus weitergearbeitet. Für ihn sei es in dieser Einheit sicherer gewesen als zuhause. Ein Monat habe er dann weitergearbeitet, während er seine Ausreise organisiert habe. Sein Vater sei nach wie vor in Gefangenschaft der Taliban.

4. Am 20.04.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erneut zu seinem Gesundheitszustand und seinen persönlichen Umständen einvernommen. Dabei gab er im Wesentlichen an, dass er mit Hepatitis B infiziert sei und in ärztlicher Behandlung stehe. Im Rahmen der Einvernahme legte er medizinische Befunde und Integrationsunterlagen vor.

5. Am 26.09.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erneut zu seinem Gesundheitszustand und zu seinen persönlichen Umständen einvernommen. Die Behörde teilte ihm mit, dass ihrer Ansicht nach in Afghanistan ausreichende Behandlungsmöglichkeiten für Hepatitis B zur Verfügung stünden. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer medizinische Befunde vor.

6. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit oben genanntem Bescheid vom 16.11.2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.), gegenüber ihm gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für eine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers, wonach er von den Taliban aufgrund seiner Tätigkeit in der afghanischen Armee verfolgt werde, sei nicht glaubhaft. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er in Afghanistan je einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen sei bzw. eine solche zukünftig zu befürchten hätte. Er könne nach Afghanistan, insbesondere in die Stadt Kabul, zurückkehren. Sowohl seine Hepatitis-B-Infektion als auch seine Depression und chronische Gastritis seien in Afghanistan behandelbar. Der Beschwerdeführer sei arbeitswillig und arbeitsfähig, habe den Großteil seines Lebens in Afghanistan verbracht und verfüge über langjährige Arbeitserfahrung im landwirtschaftlichen Bereich, als Autolackierer und als Hilfskoch für die afghanische Armee. Er verfüge über ein familiäres Netzwerk in Afghanistan, zumal seine Eltern, seine Geschwister, fünf Onkel und drei Tanten, zu denen er kein zerrüttetes Verhältnis behaupte, in Afghanistan leben würden. Es sei ihm möglich, in Kontakt mit seiner Verwandtschaft zu treten. Der Beschwerdeführer sei dazu imstande, sich mit Hilfe der eigenen Arbeitsleistung und der Unterstützung seiner Angehörigen und Bezugspersonen im Herkunftsland den Lebensunterhalt zu sichern. Es sei in einer Gesamtschau davon auszugehen, dass er bei seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht in eine Notlage entsprechend Art. 2 bzw. Art. 3 EMRK gelange.

7. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 14.12.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, er habe seine Heimat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung seitens nichtstaatlicher Akteure, nämlich der Taliban, aufgrund einer ihm unterstellten politischen Gesinnung und mangels der Fähigkeit seines Heimatstaates, ihn vor dieser Verfolgung zu schützen, verlassen. Sofern die belangte Behörde das Vorbringen des Beschwerdeführers als zu oberflächlich erachte, wäre es ihre Aufgabe gewesen, ihn durch gezieltes Nachragen näher zu befragen, denn woher sollte dieser wissen, welche Aspekte nach Ansicht der Behörde näherer Erläuterung bedürfen könnten. Dies ergebe sich auch aus § 18 AsylG. Wenn die Behörde weiters die Glaubwürdigkeit der Aussagen mit einem Widerspruch hinsichtlich der vorgelegten Drohbriefe verneine, lasse sie völlig außer Acht, dass der Beschwerdeführer Analphabet sei und sich daher nur auf die Aussage seines Vaters beziehen habe können. Weitere Widersprüche seien nicht aufgezeigt worden und rechtserhebliche Tatsachen wie der Ausweis und die Arbeitsbestätigung der afghanischen Nationalarmee bzw. die Drohbriefe der Taliban seien nicht gewürdigt worden. Die Verfolgungsgefahr in Afghanistan sei damit im Falle des Beschwerdeführers definitiv gegeben. Zur innerstaatlichen Fluchtalternative wurde ausgeführt, dass er von seiner Geburt bis einen Monat vor seiner Ausreise in seinem Heimatdorf in der Provinz Laghman gelebt habe und dann in den Bezirk Jalalabad geflüchtet sei. Außerhalb dieser Distrikte habe er keine Familienangehörigen, er habe somit kein soziales oder familiäres Netzwerk, dass ihn bei einer Niederlassung in einer anderen Stadt, wie z. B. Kabul, unterstützen könnte. Der Beschwerdeführer wäre somit komplett auf sich alleine gestellt und würde in eine existenzbedrohende Situation unter exzeptionellen Umständen geraten. Die Behörde setze sich auch unzureichend mit seiner gesundheitlichen Verfassung und den Behandlungsmöglichkeiten auseinander. Er würde sich die von ihm benötigten Medikamente nicht leisten können. Eine Rückkehr in den Herkunftsstaat würde den Beschwerdeführer daher besonders schwer treffen. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre ihm daher jedenfalls subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen. Ergänzend werde auf Länderberichte zur Sicherheitslage in Afghanistan verwiesen. Mit der Beschwerde wurden afghanische Dokumente, Fotos und medizinische Befunde vorgelegt.

8. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Schreiben vom 21.12.2018 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt, wo sie am 28.12.2018 einlangten.

9. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 29.06.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der zuvor zuständigen Gerichtsabteilung W166 abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung W265 zugewiesen.

10. Mit Eingabe vom 01.12.2021 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass er einige Jahre als Koch für die afghanische Nationalarmee gearbeitet habe. Sein Vater habe dort ebenfalls gearbeitet, dieser sei als Polizist durch das afghanische Innenministerium dorthin entsandt worden. Sein Vater sei von den Taliban entführt worden und seitdem verschwunden. Aus dem aktuellen Länderinformationsblatt und der EASO Country Guidance ergebe sich, dass die Taliban (ehemalige) Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte sowie deren Familienmitglieder verfolgen würden. Dem Beschwerdeführer drohe daher im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan die Gefahr, aufgrund seiner Arbeit für die afghanische Nationalarmee am Stützpunkt der Spezialeinheit asylrelevanter Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung ausgesetzt zu sein. Selbst wenn die ursprüngliche Bedrohung durch die Taliban für nicht glaubhaft befunden werden sollte, sei durch die Machtübernahme der Taliban ein neues Sachverhaltselement hinzugekommen, dass die asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers wahrscheinlich mache. Erschwerend komme die Tätigkeit auch seines Vaters für die Spezialeinheit hinzu, weswegen auch dem Beschwerdeführer eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellt werde. Die Gefahr der Verfolgung drohe ihm auch aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Rückkehrer aus westlichen Ländern. Die Sicherheitslage in Afghanistan sei überdies derzeit unberechenbar und hochgradig volatil. Schon allein deshalb würde dem Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr eine ernsthafte Gefahr der Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 und 3 EMRK drohen, wie auch aus der jüngsten Rechtsprechung des VfGH hervorgehe. Eine ausreichend stabile Verbesserung der Sicherheitslage sei seither nicht zu erkennen. Ebenso sei die Versorgungslage katastrophal, weshalb er bei einer Rückkehr in eine aussichtslose und existenzbedrohende Lage geraten würde. Mit der Stellungnahme wurden ein afghanisches Dokument, medizinische Befunde und Integrationsunterlagen vorgelegt.

11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 07.12.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer im Beisein seiner Rechtsvertretung zu seinen Fluchtgründen, seinen persönlichen Umständen in Afghanistan und seiner Integration in Österreich befragt wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Die Verhandlungsniederschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.

Das Bundesverwaltungsgericht brachte aktuelle Länderberichte in das Verfahren ein und räumte den Verfahrensparteien die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers verwies auf die zuletzt erstattete Stellungnahme und verzichtete auf die Abgabe einer weiteren.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, des genannten Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Stellungnahme, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers, zu seinen persönlichen Umständen in Afghanistan, zu seiner Ausreise und zu seinem Gesundheitszustand:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari und ein wenig Deutsch.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Laghman, wo er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan gelebt hat. Er hat keine Schule besucht und ist in seiner Muttersprache Analphabet. Er hat zunächst in der Landwirtschaft seiner Familie, dann ca. drei Jahre lang als Autolackierer und schließlich ca. zwei Jahre lang als Küchenhilfe bei der afghanischen Armee gearbeitet.

Der Beschwerdeführer ist seit ca. sechseinhalb Jahren verheiratet und hat keine Kinder. Seine Ehefrau lebt in seinem Heimatdorf in Afghanistan.

Die Familie des Beschwerdeführers besteht noch aus seinen Eltern, zwei Brüdern und einer Schwester. Diese leben im Heimatdorf, er hat gelegentlich Kontakt mit ihnen. Auch drei Onkel mütterlicherseits leben im Heimatdorf, drei Tanten väterlicherseits in einem Nachbardorf und zwei Onkel väterlicherseits in der Stadt Jalalabad.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan 2015 alleine und stellte am 06.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer leidet an einer Hepatitis-B-Erkrankung. Er ist deshalb in ärztlicher Behandlung und nimmt Medikamente.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1. Der Vater des Beschwerdeführers ist und war kein Offizier der afghanischen Armee oder Polizei. Sein Vater und er wurden von den Taliban nicht aufgefordert, Gift in das Essen von Soldaten zu mischen. Sie haben keine Drohbriefe erhalten. Sein Vater wurde von den Taliban auch nicht entführt. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht konkret und individuell die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt durch die Taliban oder andere Personen.

1.2.2. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht alleine aufgrund der Tatsache, dass mehrere Jahre in Europa verbracht hat, konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt. Ebenso wenig ist jeder Rückkehrer aus Europa alleine aufgrund dieses Merkmals in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Fassung vom 16.09.2021 (LIB), in der UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan vom August 2021 (UNHCR 2021) und in den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.3.1. Politische Lage - Letzte Änderung: 16.09.2021

Afghanistan war [vor der Machtübernahme der Taliban] ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB).

Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Ghani gab auf seiner Facebook-Seite eine Erklärung ab, in der er den Sieg der Taliban vor Ort anerkannte. Diese Erklärung wurde weithin als Rücktritt interpretiert, obwohl nicht klar ist, ob die Erklärung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rücktritt des Präsidenten erfüllt. Amrullah Saleh, der erste Vizepräsident Afghanistans unter Ghani, beanspruchte in der Folgezeit das Amt des Übergangspräsidenten für sich. Er ist Teil des Widerstands gegen die Taliban im Panjshir-Tal. Ein so genannter Koordinationsrat unter Beteiligung des früheren Präsidenten Hamid Karzai, Abdullah Abdullah (dem früheren Außenminister und Leiter der Delegation der vorigen Regierung bei den letztendlich erfolglosen Friedensverhandlungen) und Gulbuddin Hekmatyar führte mit den Taliban informelle Gespräche über eine Regierungsbeteiligung, die schließlich nicht zustande kam Denn unabhängig davon, wer nach der afghanischen Verfassung das Präsidentenamt innehat, kontrollieren die Taliban den größten Teil des afghanischen Staatsgebiets. Sie haben das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen und am 7.9.2021 eine neue Regierung angekündigt, die sich größtenteils aus bekannten Taliban-Figuren zusammensetzt (LIB).

Die Taliban lehnen die Demokratie und ihren wichtigsten Bestandteil, die Wahlen, generell ab. Sie tun dies oftmals mit Verweis auf die Mängel des demokratischen Systems und der Wahlen in Afghanistan in den letzten 20 Jahren, wie auch unter dem Aspekt, dass Wahlen und Demokratie in der vormodernen Periode des islamischen Denkens, der Periode, die sie als am authentischsten „islamisch“ ansehen, keine Vorläufer haben. Sie halten einige Methoden zur Auswahl von Herrschern in der vormodernen muslimischen Welt für authentisch islamisch - zum Beispiel die Shura Ahl al-Hall wa’l-Aqd, den Rat derjenigen, die qualifiziert sind, einen Kalifen im Namen der muslimischen Gemeinschaft zu wählen oder abzusetzen. Ende August 2021 kündigten die Taliban an, eine Verfassung auszuarbeiten, jedoch haben sie sich zu den Einzelheiten des Staates, den ihre Führung in Afghanistan errichten möchte, bislang bedeckt gehalten (LIB).

Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung. Darin vertreten sind Mitglieder der alten Talibanelite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Rollen besetzte, ergänzt mit Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Die allermeisten sind Paschtunen. Angeführt wird die neue Regierung von Mohammad Hassan Akhund. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Taliban-Führungszirkels, der sogenannten Rahbari-Shura, besser bekannt als QuettaShura. Einer seiner Stellvertreter ist Abdul Ghani Baradar, der bisher das politische Büro der Taliban in Doha geleitet hat und so etwas wie das öffentliche Gesicht der Taliban war, ein weiterer Stellvertreter ist Abdul Salam Hanafi, der ebenfalls im politischen Büro in Doha tätig war. Mohammad Yakub, Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar und einer der Stellvertreter des Taliban-Führers Haibatullah Akhundzada, ist neuer Verteidigungsminister. Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerks, wurde zum Innenminister ernannt. Das Haqqani-Netzwerk wird von den USA als Terrororganisation eingestuft. Der neue Innenminister steht auf der Fahndungsliste des FBI und auch der Vorsitzende der Minister, Akhund, befindet sich auf einer Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates (LIB).

Ein Frauenministerium findet sich nicht unter den bislang angekündigten Ministerien, auch wurden keine Frauen zu Ministerinnen ernannt [Anm.: Stand 7.9.2021]. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen. Die höchste Instanz der Taliban in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten, der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“ Mullah Haibatullah Akhundzada wird sich als „Oberster Führer“ Afghanistans auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren. Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (LIB).

Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige Anführer der Gruppe die Grenzen ihrer Fähigkeit erkennen, den Regierungsapparat in technisch anspruchsvolleren Bereichen zu bedienen. Zwar haben die Taliban seit ihrem Erstarken in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einigen ländlichen Gebieten Afghanistans eine so genannte Schattenregierung ausgeübt, doch war diese rudimentär und von begrenztem Umfang, und in Bereichen wie Gesundheit und Bildung haben sie im Wesentlichen die Dienstleistungen des afghanischen Staates und von Nichtregierungsorganisationen übernommen (LIB).

Bis zum Sturz der alten Regierung wurden ca. 75% bis 80% des afghanischen Staatsbudgets von Hilfsorganisationen bereitgestellt, Finanzierungsquellen, die zumindest für einen längeren Zeitraum ausgesetzt sein werden, während die Geber die Entwicklung beobachten. So haben die EU und mehrere ihrer Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit mit der Einstellung von Hilfszahlungen gedroht, falls die Taliban die Macht übernehmen und ein islamisches Emirat ausrufen sollten, oder Menschen- und Frauenrechte verletzen sollten. Die USA haben rund 9,5 Milliarden US-Dollar an Reserven der afghanischen Zentralbank sofort [nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul] eingefroren, Zahlungen des IWF und der EU wurden ausgesetzt. Die Taliban verfügen weiterhin über die Einnahmequellen, die ihren Aufstand finanzierten, sowie über den Zugang zu den Zolleinnahmen, auf die sich die frühere Regierung für den Teil ihres Haushalts, den sie im Inland aufbrachte, stark verließ. Ob neue Geber einspringen werden, um einen Teil des Defizits auszugleichen, ist noch nicht klar (LIB).

Die USA zeigten sich angesichts der Regierungsbeteiligung von Personen, die mit Angriffen auf US-Streitkräfte in Verbindung gebracht werden, besorgt und die EU erklärte, die islamistische Gruppe habe ihr Versprechen gebrochen, die Regierung „integrativ und repräsentativ“ zu machen. Deutschland und die USA haben eine baldige Anerkennung der von den militant-islamistischen Taliban verkündeten Übergangsregierung Anfang September 2021 ausgeschlossen. China und Russland haben ihre Botschaften auch nach dem Machtwechsel offengehalten (LIB).

Vertreter der National Resistance Front (NRF) haben die internationale Gemeinschaft darum gebeten, die Taliban-Regierung nicht anzuerkennen. Ahmad Massoud, einer der Anführer der NRF, kündigte an, nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB).

1.3.2. Friedensverhandlungen und Abzug der internationalen Truppen - Letzte Änderung: 16.09.2021

1.3.2.1. Friedensverhandlungen

2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan Konflikts zur Beendigung des Krieges statt. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet - die damalige afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthielt das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollten abgezogen werden. Dafür hatten die Taliban beispielsweise zugesichert, zu verhindern, dass „irgendeiner ihrer Mitglieder, andere Individuen oder Gruppierungen, einschließlich Al-Qaida, den Boden Afghanistans nutzt, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu bedrohen“ (LIB).

Die Verhandlungen mit den USA lösten bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs aus. Indem sie mit den Taliban verhandelten, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt [Anm.: das mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk wird von den USA mit Stand 7.9.2021 weiterhin als Terrororganisation eingestuft]. Gleichzeitig unterminierten die Verhandlungen aber auch die damalige afghanische Regierung, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (LIB).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohl Menschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (LIB).

Die Gewalt ließ jedoch nicht nach, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (LIB).

Mitte Juli 2021 kam es zu einem weiteren Treffen zwischen der ehemaligen afghanischen Regierung und den Vertretern der Taliban in Katar. In einer Erklärung, die nach zweitägigen Gesprächen veröffentlicht wurde, erklärten beide Seiten, dass sie das Leben der Zivilbevölkerung, die Infrastruktur und die Dienstleistungen schützen wollen. Ein Waffenstillstand wurde allerdings nicht beschlossen (LIB).

1.3.2.2. Abzug der Internationalen Truppen

Im April 2021 kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen - etwa 2.500 - 3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“, allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen. Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der „Bruch“ des Doha-Abkommens „öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat“. Am 31.8.2021 zog schließlich der letzte US-amerikanische Soldat aus Afghanistan ab. Schon zuvor verließ der bis dahin amtierende afghanische Präsident Ashraf Ghani das Land und die Taliban übernahmen die Hauptstadt Kabul am 15.8.2021 kampflos (LIB).

US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte, während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen „Besatzungstruppen“ gearbeitet hätten, „irregeführt“ worden seien und „Reue“ für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem „Verrat“ am Islam und an Afghanistan gleichkämen (LIB).

1.3.3. Sicherheitslage Letzte Änderung: 16.09.2021

Jüngste Entwicklungen – Machtübernahme der Taliban

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu, aber auch schon zuvor galt die Sicherheitslage in Afghanistan als volatil. Laut Berichten war der Juni 2021 der bis dahin tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in. Gemäß einer Quelle veränderte sich die Lage seit der Einnahme der ersten Provinzhauptstadt durch die Taliban - Zaranj in Nimruz - am 6.8.2021 in „halsbrecherischer Geschwindigkeit“, innerhalb von zehn Tagen eroberten sie 33 der 34 afghanischen Provinzhauptstädte. Auch eroberten die Taliban mehrere Grenzübergänge und Kontrollpunkte, was der finanziell eingeschränkten Regierung dringend benötigte Zolleinnahmen entzog. Am 15.8.2021 floh Präsident Ashraf Ghani ins Ausland und die Taliban zogen kampflos in Kabul ein. Zuvor waren schon Jalalabad im Osten an der Grenze zu Pakistan gefallen, ebenso wie die nordafghanische Metropole Mazar-e Scharif. Ein Bericht führt den Vormarsch der Taliban in erster Linie auf die Schwächung der Moral und des Zusammenhalts der Sicherheitskräfte und der politischen Führung der Regierung zurück. Die Kapitulation so vieler Distrikte und städtischer Zentren ist nicht unbedingt ein Zeichen für die Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung, sondern unterstreicht vielmehr die tiefe Entfremdung vieler lokaler Gemeinschaften von einer stark zentralisierten Regierung, die häufig von den Prioritäten ihrer ausländischen Geber beeinflusst wird, auch wurde die weit verbreitete Korruption, beispielsweise unter den Sicherheitskräften, als ein Problem genannt (LIB).

Im Panjshir-Tal, rund 55 km von Kabul entfernt, formierte sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul Mitte August 2021 Widerstand in Form der National Resistance Front (NRF), welche von Amrullah Saleh, dem ehemaligen Vizepräsidenten Afghanistans und Chef des National Directorate of Security [Anm.: NDS, afghan. Geheimdienst], sowie Ahmad Massoud, dem Sohn des verstorbenen Anführers der Nordallianz gegen die Taliban in den 1990ern, angeführt wird. Ihr schlossen sich Mitglieder der inzwischen aufgelösten Afghan National Defense and Security Forces (ANDSF) an, um im Panjshir-Tal und umliegenden Distrikten in Parwan und Baghlan Widerstand gegen die Taliban zu leisten. Sowohl die Taliban, als auch die NRF betonten zu Beginn, ihre Differenzen mittels Dialog überwinden zu wollen. Nachdem die US-Streitkräfte ihren Truppenabzug aus Afghanistan am 30.8.2021 abgeschlossen hatten, griffen die Taliban das Pansjhir-Tal jedoch an. Es kam zu schweren Kämpfen und nach sieben Tagen nahmen die Taliban das Tal nach eigenen Angaben ein, während die NRF am 6.9.2021 bestritt, dass dies geschehen sei. Mit Stand 6.9.2021 war der Aufenthaltsort von Saleh und Massoud unklar, jedoch verkündete Massoud, in Sicherheit zu sein sowie nach Absprachen mit anderen Politikern eine Parallelregierung zu der von ihm als illegitim bezeichneten Talibanregierung bilden zu wollen (LIB).

Weitere Kampfhandlungen gab es im August 2021 beispielsweise im Distrikt Behsud in der Provinz Maidan Wardak und in Khedir in Daikundi, wo es zu Scharmützeln kam, als die Taliban versuchten, lokale oder ehemalige Regierungskräfte zu entwaffnen. Seit der Beendigung der Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Streitkräften ist die Zahl der zivilen Opfer deutlich zurückgegangen (LIB).

1.3.4. Erreichbarkeit - Letzte Änderung: 16.09.2021

Die Infrastruktur bleibt ein kritischer Faktor für Afghanistan, trotz der seit 2002 erreichten Infrastrukturinvestitionen und -optimierungen. Seit dem Fall der ersten Taliban wurde das afghanische Verkehrswesen in städtischen und ländlichen Gebieten grundlegend erneuert. Beachtenswert ist die Vollendung der „Ring Road“, welche Zentrum und Peripherie des Landes sowie die Peripherie mit den Nachbarländern verbindet. Investitionen in ein integriertes Verkehrsnetzwerk werden systematisch geplant und umgesetzt. Dies beinhaltet beispielsweise Entwicklungen im Bereich des Schienenverkehrs und im Straßenbau (z.B. Vervollständigung und Instandhaltung der Kabul Ring Road, des Salang-Tunnels, des Lapis Lazuli Korridors etc.), aber auch Investitionen aus dem Ausland zur Verbesserung und zum Ausbau des Straßennetzes und der Verkehrswege (LIB).

1.3.4.1. Internationale Flughäfen in Afghanistan

In Afghanistan gab es [vor der Machtübernahme der Taliban] insgesamt vier internationale Flughäfen; alle vier werden für militärische und zivile Flugdienste genutzt. Trotz jahrelanger Konflikte verzeichnete die afghanische Luftfahrtindustrie einen zahlenmäßigen Anstieg ihrer wettbewerbsfähigen Flugrouten. Daraus folgt ein erleichterter Zugang zu Flügen für die afghanische Bevölkerung. Die heimischen Flugdienste sehen sich mit einer wachsenden Konkurrenz durch verschiedene Flugunternehmen konfrontiert. Flugrouten wie Kabul - Herat und Kabul - Kandahar, die früher ausschließlich von Ariana Afghan Airlines angeboten wurden, wurden nun auch von internationalen Fluggesellschaften abgedeckt (LIB).

1.3.4.2. Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021

Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan oder über den Grenzübergang Islam Kala in den Iran geflohen. Der Grenzübergang Torkham - neben Chaman der wichtigste Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan - war zeitweilig geschlossen, wurde Mitte September 2021 nach Angaben eines pakistanischen Behördenvertreters für Fußgänger jedoch wieder geöffnet. Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte Anfang September 2021, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (LIB).

1.3.5. Zentrale Akteure - Letzte Änderung: 16.09.2021

In Afghanistan sind unterschiedliche Gruppierungen aktiv, welche der [bis August 2021 im Amt befindlichen] Regierung feindlich gegenüber standen - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan war eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP), Al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und Eastern Turkistan Movement (LIB).

Die Geschichte Afghanistans ist seit langem von der Interaktion lokaler Kräfte mit dem Staat geprägt - von der Kooptation von Stammeskräften durch dynastische Herrscher über die Entstehung von Partisanen- und Mudschaheddin-Kräften nach der sowjetischen Invasion bis hin zu den anarchischen Milizkämpfen, die in den 1990er Jahren an die Stelle der Politik traten. Das Erbe der letzten Jahrzehnte der Mobilisierung und Militarisierung, der wechselnden Loyalitäten und der Umbenennung (sog. „re-hatting“: wenn eine bewaffnete Gruppe einen neuen Schirmherrn oder ein neues Etikett erhält, aber ihre Identität und Kohärenz beibehält) ist auch heute noch einer der stärksten Faktoren, die die afghanischen Kräfte und die damit verbundene politische Dynamik prägen. Die unmittelbar nach 2001 durchgeführten Reformen des Sicherheitssektors und die Demobilisierungswellen haben diese nie wirklich aufgelöst. Stattdessen wurden sie zu neuen Wegen, um die Parteinetzwerke und Klientelpolitik zu rehabilitieren oder zu legitimieren, oder in einigen Fällen neue sicherheitspolitische Akteure und Machthaber zu schaffen. Angesichts des Truppenabzugs der US-Streitkräfte haben verschiedene Machthaber Afghanistans, wie zum Beispiel Mohammad Ismail Khan (von der Partei Jamiat-e Islami), Abdul Rashid Dostum (Jombesh-e Melli Islami), Mohammad Atta Noor (Vorsitzender einer Jamiat-Fraktion), Mohammad Mohaqeq (Hezb-e Wahdat-e Mardom) und Gulbuddin Hekmatyar (Hezb-e Islami), im Sommer 2021 zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Männer außerhalb der afghanischen Armee- und Regierungsstrukturen gesprochen. Während die Präsenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren eine lokale Tatsache ist, wurde [in der Ära der afghanischen Regierungen 2001 -15.8.2021] doch noch nie so deutlich öffentlich die Notwendigkeit einer Mobilisierung gesprochen oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, geäußert (LIB).

1.3.5.1. Taliban - Letzte Änderung: 14.09.2021

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde. Nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. 2018 begannen die USA Verhandlungen mit einer Taliban-Delegation in Doha, im Februar 2020 wurde der Vertrag, in welchem sich die US-amerikanische Regierung zum Truppenabzug verpflichtete, unterschrieben, wobei die US-Truppen bis Ende August 2021 aus Afghanistan abzogen. Nachdem der bisherige Präsident Ashraf Ghani am 15.8.2021 aus Afghanistan geflohen war, nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein. Die Taliban-Führung kehrte daraufhin aus Doha zurück, wo sie erstmals 2013 ein politisches Büro eröffnet hatte. Im September 2021 kündigten sie die Bildung einer „Übergangsregierung“ an. Entgegen früherer Aussagen handelt es sich dabei nicht um eine „inklusive“ Regierung unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure, sondern um eine reine Talibanregierung (LIB).

Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten. Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Aufgrund der schnellen und umfangreichen militärischen Siege der Taliban im Sommer 2021 hat die Gruppierung nun jedoch wenig Grund, die Macht mit anderen Akteuren zu teilen (LIB).

1.3.5.2. Struktur und Führung der Taliban - Letzte Änderung: 16.09.2021

Die Taliban bezeichneten sich [vor ihrer Machtübernahme] selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Sie positionierten sich als Schattenregierung Afghanistans. Ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprachen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betrieb. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (LIB).

Die wichtigsten Entscheidungen werden von einem Führungsrat getroffen, der nach seinem langjährigen Versteck auch als Quetta-Schura bezeichnet wird. Dem Rat gehören neben dem Taliban-Chef und dessen Stellvertretern rund zwei Dutzend weitere Personen an. Die Mitglieder der Quetta-Schura sind vor allem Vertreter des Talibanregimes von 1996-2001. Neben der Quetta-Schura, welche [vor der Machtübernahme der Taliban in Kabul] die Talibanangelegenheiten in elf Provinzen im Süden, Südwesten und Westen Afghanistans regelte, gibt es beispielsweise auch die Peshawar-Schura, welche diese Aufgabe in 19 weiteren Provinzen übernommen hat, sowie auch die Miran Shah-Schura. Das Haqqani-Netzwerk mit seinen Kommandanten in Ostafghanistan und Pakistan hat enge Verbindungen zu den beiden letztgenannten Schuras (LIB).

Die Quetta-Schura übt eine gewisse Kontrolle über die rund ein Dutzend verschiedenen Kommissionen aus, welche als „Ministerien“ fungierten. Die Taliban unterhielten [vor ihrer Machtübernahme in Kabul] beispielsweise eine Kommission für politische Angelegenheiten mit Sitz in Doha, welche im Februar 2020 die Friedensverhandlungen mit den USA abschloss. Nach Angaben des Talibansprechers Zabihullah Mujahid hat diese Kommission keine direkte Kontrolle über die Talibankämpfer in Afghanistan. Die militärischen Kommandostrukturen bis hinunter zur Provinz- und Distriktebene unterstehen nämlich der Kommission für militärische Angelegenheiten (LIB).

Die höchste Instanz in religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten ist Mullah Haibatullah Akhundzada. Er ist seit 2016 der „Amir al Muminin“ oder „Emir der Gläubigen“, ein Titel, der ihm von Aiman Al-Zawahiri, dem Anführer von Al-Qaida, verliehen wurde. Er hat drei Stellvertreter: 1.) der Stellvertreter für Politisches ist Mullah Abdul Ghani Baradar, der Leiter der Kommission für politische Angelegenheiten und Vorsitzender des Verhandlungsteams der Taliban in Doha; 2.) der Stellvertreter für die südlichen Provinzen und Leiter der militärischen Operationen bzw. der einflussreichen Kommission für militärische Angelegenheiten ist Mullah Mohammad Yaqoob; 3.) der Stellvertreter für die östlichen Provinzen ist Sirajuddin Haqqani, der auch der Anführer des Haqqani-Netzwerks und der Miran Shah-Schura ist. Im September 2021 wurde angekündigt, dass Baradar in der „Übergangsregierung“ die Position des stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats einnehmen wird, Yaqoob soll Verteidigungsminister werden, Sirajuddin Haqqani Innenminister. Haibatullah Akhunzada wird sich als „Oberster Führer“ auf religiöse Angelegenheiten und die Regierungsführung im Rahmen des Islam konzentrieren (LIB).

Die Taliban treten nach außen hin geeint auf, trotz Berichten über interne Spannungen oder Spaltungen. Im Juni 2021 berichtete der UN-Sicherheitsrat, dass die unabhängigen Operationen und die Macht von Taliban-Kommandanten vor Ort für den Führungsrat der Taliban (die Quetta-Schura) zunehmend Anlass zur Sorge sind. Spannungen zwischen der politischen Führung und einigen militärischen Befehlshabern sind Ausdruck anhaltender interner Rivalitäten, Stammesfehden und Meinungsverschiedenheiten über die Verteilung der Einnahmen der Taliban. Zuletzt wurde auch über interne Meinungsverschiedenheiten bei der Regierungsbildung berichtet, was vom offiziellen Sprecher der Taliban jedoch dementiert wurde (LIB).

Die Taliban sind somit keine monolithische Organisation. Gemäß einem Experten für die Organisationsstruktur der Taliban unterstehen nur rund 40 - 45 Prozent der Truppen der Talibanführung. Rund 35 Prozent werden von Sirajuddin Haqqani, dem Kopf des Haqqani-Netzwerks und Stellvertreter von Mullah Akhundzada angeführt, weitere ca. 25 Prozent von Taliban aus dem Norden des Landes (Tadschiken und Usbeken). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (LIB).

1.3.5.3. Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten - Letzte Änderung: 16.09.2021

Nach der Machtübernahme der Taliban wurde berichtet, dass die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände. Gemäß einem früheren Mitglied der afghanischen Verteidigungskräfte ist bei der Vorgehensweise der Taliban nun neu, dass sie mit einer Namensliste von Haus zu Haus gehen und Personen auf ihrer Liste suchen (LIB).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Gegenwärtig nutzt die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn derzeit intensiv, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben. Auch wurde berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen oder Organisationen bzw. zu den [ehemaligen] afghanischen Streitkräften (ANDSF) zu finden. Viele afghanische Bürgerinnen und Bürger, die für die internationalen Streitkräfte, internationale Organisationen und für Medien gearbeitet haben, oder sich in den sozialen Medien kritisch gegenüber den Taliban äußerten, haben aus Angst vor einer Verfolgung durch die Taliban ihre Profile in den sozialen Medien daher gelöscht (LIB).

Unter anderem werten die Taliban auch aktuell im Internet verfügbare Videos und Fotos aus. Sie verfügen über Spezialkräfte, die in Sachen Informationstechnik und Bildforensik gut ausgebildet und ausgerüstet sind. Ihre Bildforensiker arbeiten gemäß einem Bericht vom August 2021 auf dem neuesten Stand der Technik der Bilderkennung und nutzen beispielsweise Gesichtserkennungssoftware. Im Rahmen der Berichterstattung über auf der Flucht befindliche Ortskräfte wurden von Medien unverpixelte Fotos veröffentlicht, welche für Personen, welche sich nun vor den Taliban verstecken, gefährlich werden können (LIB).

Im Zuge ihrer Offensive haben die Taliban Geräte zum Auslesen von biometrischen Daten erbeutet, welche ihnen die Identifikation von Hilfskräften der internationalen Truppen erleichtern könnte [Anm.: sog. HIIDE („Handheld Interagency Identity Detection Equipment“)-Geräte]. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht genau bekannt, zu welchen Datenbanken die Taliban Zugriff haben. Laut Experten bieten die von den Taliban erlangten US-Gerätschaften nur begrenzten Zugang zu biometrischen Daten, die noch immer auf sicheren Servern gespeichert sind. Recherchen zeigten jedoch, dass eine größere Bedrohung von den Datenbanken der afghanischen Regierung selbst ausgeht, die sensible persönliche Informationen enthalten und zur Identifizierung von Millionen von Menschen im ganzen Land verwendet werden könnten. Betroffen sein könnte beispielsweise eine Datenbank, welche zum Zweck der Gehaltszahlung Angaben von Angehörigen der [ehemaligen] afghanischen Armee und Polizei enthält (das sog. Afghan Personnel and Pay System, APPS), aber auch andere Datenbanken mit biometrischen Angaben, welche die afghanische Regierung zur Erfassung ihrer Bürger anlegte, beispielsweise bei der Beantragung von Dokumenten, Bewerbungen für Regierungsposten oder Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung für das Hochschulstudium. Eine Datenbank des [ehemaligen] afghanischen Innenministeriums, das Afghan Automatic Biometric Identification System (AABIS), sollte gemäß Plänen bis 2012 bereits 80 % der afghanischen Bevölkerung erfassen, also etwa 25 Millionen Menschen. Es gibt zwar keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, wie viele Datensätze diese Datenbank bis zum heutigen Zeitpunkt enthält, aber eine unbestätigte Angabe beziffert die Zahl auf immerhin 8,1 Millionen Datensätze. Trotz der Vielzahl von Systemen waren die unterschiedlichen Datenbanken allerdings nie vollständig miteinander verbunden (LIB).

Nach der Machtübernahme der Taliban hat Google einem Insider zufolge eine Reihe von E- Mail-Konten der bisherigen Kabuler Regierung vorläufig gesperrt. Etwa zwei Dutzend staatliche Stellen in Afghanistan sollen die Server von Google für E-Mails genutzt haben. Nach Angaben eines Experten wäre dies eine „wahre Fundgrube an Informationen“ für die Taliban, allein eine Mitarbeiterliste auf einem Google Sheet sei mit Blick auf Berichte über Repressalien gegen bisherige Regierungsmitarbeiter ein großes Problem. Mehrere afghanische Regierungsstellen nutzten auch E-Mail-Dienste von Microsoft, etwa das Außenministerium und das Präsidialamt. Unklar ist, ob das Softwareunternehmen Maßnahmen ergreift, um zu verhindern, dass Daten in die Hände der Taliban fallen. Ein Experte sagte, er halte die von den USA aufgebaute IT-Infrastruktur für einen bedeutenden Faktor für die Taliban. Dort gespeicherte Informationen seien „wahrscheinlich viel wertvoller für eine neue Regierung als alte Hubschrauber“ (LIB).

Da die Taliban Kabul so schnell einnahmen, hatten viele Büros zudem keine Zeit, Beweise zu vernichten, die sie in den Augen der Taliban belasten. Berichten zufolge wurden von der britischen Botschaft beispielsweise Dokumente zurückgelassen, welche persönliche Daten von afghanischen Ortskräften und Bewerbern enthielten (LIB).

Im Rahmen der Evakuierungsbemühungen von Ausländern und afghanischen Ortskräften nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul gaben US-Beamte den Taliban eine Liste mit den Namen US-amerikanischer Staatsbürger, Inhaber von Green Cards [Anm.: US-amer. Aufenthaltsberechtigungskarten] und afghanischer Verbündeter, um ihnen die Einreise in den von den Taliban kontrollierten Außenbereich des Flughafens von Kabul zu gewähren – eine Entscheidung, die kritisiert wurde. Gemäß einem Vertreter der US-amerikanischen Streitkräfte hätte die US-Regierung die betroffenen Afghanen somit auf eine „Todesliste“ gesetzt, wobei US-Präsident Biden in einer Pressekonferenz darauf angesprochen meinte, dass auf der Liste befindliche Afghanen von den Taliban bei den Kontrollen durchgelassen wurden (LIB).

1.3.6. Religionsfreiheit - Letzte Änderung: 14.09.2021

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden. Der letzte bislang in Afghanistan lebende Jude hat nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen. Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (LIB).

In den fünf Jahren vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichteten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskierten (LIB).

In Hinblick auf die Gespräche im Rahmen des Friedensprozesses, äußerten einige Sikhs und Hindus ihre Besorgnis darüber, dass in einem Umfeld nach dem Konflikt von ihnen verlangt werden könnte, gelbe (Stirn-)Punkte, Abzeichen oder Armbinden zu tragen, wie es die Taliban während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 vorgeschrieben hatten (LIB).

[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf Religionsfreiheit sind noch keine validen Informationen bekannt]

1.3.7. Ethnische Gruppen - Letzte Änderung: 16.09.2021

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 37,5 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind die größten Bevölkerungsgruppen: 32 bis 42 % Paschtunen, ca. 27 % Tadschiken, 9 bis 20 % Hazara, ca. 9 % Usbeken, 2 % Turkmenen und 2 % Belutschen (LIB).

Neben den alten Blöcken der Islamisten und linksgerichteten politischen Organisationen [Anm.: welche oftmals vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan entstanden] mobilisieren politische Parteien in Afghanistan vornehmlich entlang ethnischer Linien, wobei letztere Tendenz durch den Krieg noch weiter zugenommen hat. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB).

[Anmerkung: Über die Auswirkung der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 auf die verschiedenen ethnischen Gruppen sind noch keine validen Informationen bekannt]

1.3.7.1. Paschtunen - Letzte Änderung: 15.09.2021

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben (LIB).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Paschtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (LIB).

Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet (LIB).

1.3.8. Bewegungsfreiheit - Letzte Änderung: 16.09.2021

Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten ach der Machtübernahme der Taliban gab es Berichte über härtere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Frauen (LIB).

Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischsten ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln (LIB).

Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht „man kenne seine Nachbarn nicht mehr“ (LIB).

Die Absorptionsfähigkeit der Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und Rückkehrer bereits stark beansprucht. Dies schlägt sich sowohl im Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch im erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder. Die Auswirkungen des anhaltenden Konflikts und der Covid-19- Pandemie haben die Lage weiter verschärft. (LIB).

1.3.9. IDPs und Flüchtlinge - Letzte Änderung: 14.09.2021

UNOCHA verifizierte im Jahr 2020 332.902 Menschen als neue Binnenvertriebene aufgrund des Konflikts und Naturkatastrophen und bis 22.8.2021 wurden von UNOCHA 558.123 neue Binnenvertriebene im laufenden Jahr 2021 verifiziert. Die genaue Zahl der Binnenvertriebenen lässt sich jedoch nicht bestimmen, zumal viele in abgelegenen Regionen oder städtischen Slums Zuflucht suchen oder in Gebieten leben, die von aufständischen Gruppen kontrolliert werden und daher nicht erfasst werden können (LIB).

Die Mehrheit der Binnenflüchtlinge lebt, ähnlich wie Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran, in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen sind prekär. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlicher Teilhabe ist stark eingeschränkt. Der hohe Konkurrenzdruck führt oft zu Konflikten. Mit Stand Mai 2021 werden im laufenden Jahr etwa eine halbe Million Binnenvertriebene auf humanitäre Hilfe angewiesen sein (LIB).

Der begrenzte Zugang zu humanitären Hilfeleistungen führte vor der Machtübernahme durch die Taliban zu Verzögerungen bei der Identifizierung, Einschätzung und zeitnahen Unterstützung von Binnenvertriebenen. Diesen fehlte weiterhin Zugang zu grundlegendem Schutz, einschließlich der persönlichen und physischen Sicherheit sowie Unterkunft (LIB).

IDPs waren in den Möglichkeiten eingeschränkt, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Oft kam es nach der ersten Binnenvertreibung zu einer weiteren Binnenwanderung. Vor allem binnenvertriebene Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand hatten oft Schwierigkeiten, grundlegende Dienstleistungen zu erhalten, weil sie keine Identitätsdokumente besitzen. Das Einkommen von Binnenvertriebenen und Rückkehrern war gering, da die Mehrheit der Menschen innerhalb dieser Gemeinschaften von Tagelöhnern und/oder Überweisungen von Verwandten im Ausland abhängig war, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (LIB).

Die vier Millionen Binnenvertriebenen in Afghanistan leben unter Bedingungen, die sich perfekt für die schnelle Übertragung eines Virus wie COVID-19 eignen. Die Lager sind beengt, unhygienisch und es fehlt selbst an den grundlegendsten medizinischen Einrichtungen. Sie leben in Hütten aus Lehm, Pfählen und Plastikplanen, in denen bis zu zehn Personen in nur einem oder zwei Räumen untergebracht sind, und sind nicht in der Lage, soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung war für Binnenvertriebene und Rückkehrer bereits vor der COVID-19-Pandemie eingeschränkt. Seit Beginn der Pandemie hat sich der Zugang weiter verschlechtert, da einige medizinische Zentren in COVID-19-Behandlungszentren umgewandelt wurden und die Finanzierung der humanitären Hilfe zurückging. Es gibt eine von Ärzte ohne Grenzen betriebene mobile Klinik in Herat, die bei der Behandlung einiger chronischer Krankheiten hilft (LIB).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021

Die Auswirkungen einer schweren Dürre, einer einbrechenden Wirtschaft, der COVID-19-Pandemie und des sich verschärfenden Konflikts in den ersten acht Monaten des Jahres haben die Menschen bereits dazu veranlasst, ihre Heimat - und das Land - zu verlassen, und es wird erwartet, dass die Situation durch den Übergang zu einer Taliban-Regierung wahrscheinlich noch verschärft werden wird (LIB).

Nachdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, sind Tausende von Menschen über die Grenze von Chaman ins benachbarte Pakistan oder über den Grenzübergang Islam Qala in den Iran geflohen. Insgesamt 32 von 34 Provinzen haben ein gewisses Maß an Vertreibung zu verzeichnen. Ein ehemaliger US-Militärvertreter erklärte, Überlandverbindungen seien riskant, aber zurzeit die einzige Möglichkeit zur Flucht. Laut US-Militärkreisen haben die Taliban weitere Kontrollpunkte auf den Hauptstraßen nach Usbekistan und Tadschikistan errichtet. Die Islamisten verbieten zudem Frauen, ohne männliche Begleitung zu reisen (LIB).

Tadschikistan hat die Aufnahme von 100.000 Flüchtlingen zugesagt, jedoch müsse dafür erst die Infrastruktur geschaffen werden (und auch nach Usbekistan zieht es viele Afghanen (LIB).

1.3.10. Grundversorgung und Wirtschaft - Letzte Änderung: 14.09.2021

Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung und kontinuierlicher Fortschritte belegte Afghanistan 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index. Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Jedoch konnte die vormalige afghanische Regierung seit der Fiskalkrise des Jahres 2014 ihre Einnahmen deutlich steigern (LIB).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80 % der Bevölkerung ist die Landwirtschaft, wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7 % am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1 %, tertiärer Sektor: 53,1 %; WB 7.2019). Rund 45 % aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20 % sind im Dienstleistungsbereich tätig (LIB).

Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3 %, 2003-2013: 9 %) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird. Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9 % (LIB).

Nach der Machtübernahme der Taliban bleiben die Banken geschlossen, so haben die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (LIB).

Da keine neuen Dollarlieferungen zur Stützung der Währung ankommen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen (LIB).

Dürre und Überschwemmungen

Starke Regenfälle haben im Mai 2021 mehrere Provinzen Afghanistans, insbesondere Herat, heimgesucht und Sturzfluten und Überschwemmungen verursacht, die zu Todesopfern und Schäden führten. Die am stärksten betroffenen Provinzen sind Herat, Ghor, Maidan Wardak, Baghlan, Samangan, Khost, Bamyan, Daikundi und Badakhshan. Medienberichten zufolge sind in der Provinz Herat bis zu 37 Menschen ums Leben gekommen, Hunderte wurden vertrieben und mehr als 150 Häuser wurden zerstört. 405 Familien wurden landesweit aus ihren Häusern vertrieben (LIB).

Armut und Lebensmittelunsicherheit - Letzte Änderung: 14.09.2021

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (LIB).

Da keine neuen Dollarlieferungen eintreffen, um die Währung zu stützen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen und hat die Preise in die Höhe getrieben. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Mehl, Öl und Reis sind innerhalb weniger Tage um bis zu 10-20 % gestiegen (LIB).

Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten - Letzte Änderung: 14.09.2021

Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 lag die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard musste zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden. Auch in Mazar-e Sharif standen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankte unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich. Einer anderen Quelle zufolge lagen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen (LIB).

Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht. Allgemein lässt sich sagen, dass die COVID-19-Pandemie keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul hatte. Die Mieten sind nicht gestiegen und aufgrund der momentanen wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Kaufpreise von Häusern eher gesunken (LIB).

Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosteten vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch konnten die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls waren höher. In ländlichen Gebieten konnte man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen (LIB).

[Die möglichen Auswirkungen durch die Machtübernahme der Taliban im August 2021 auf Wohnungsmarkt und Lebenshaltungskosten können noch nicht abgesehen werden]

Arbeitsmarkt - Letzte Änderung: 16.09.2021

Vor der Machtübernahme durch die Taliban war der Arbeitsmarkt durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80 % der afghanischen Arbeitskräfte befanden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen. Schätzungsweise 16 % der prekär Beschäftigten waren Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (LIB).

Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID19-Pandemie wieder steigen ebenso wie die Anzahl der prekär Beschäftigten (LIB).

Schätzungen zufolge sind rund 67 % der Bevölkerung unter 25 Jahren alt. Am Arbeitsmarkt müssen jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (LIB).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig. Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt. Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (LIB).

Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor: Die Notwendigkeit, das Einkommen von Erwerbstätigen mit einer großen Anzahl von Haushaltsmitgliedern zu teilen, führt oft dazu, dass die Armutsgrenze unterschritten wird, selbst wenn Arbeitsplätze eine angemessene Bezahlung bieten würden. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind (LIB).

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (LIB).

[Die möglichen Auswirkungen durch die Machtübernahme der Taliban im August 2021 auf den Arbeitsmarkt können noch nicht abgesehen werden.]

1.3.11. Medizinische Versorgung - Letzte Änderung: 16.09.2021

In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten. Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Behandlung durch Mangel an gut ausgebildetem medizinischem Personal und Medikamenten, Missmanagement und maroder Infrastruktur begrenzt und korruptionsanfällig (LIB).

Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (LIB).

Die Lebenserwartung ist in Afghanistan von 50 Jahren im Jahr 1990 auf 64 Jahre im Jahr 2018 gestiegen (LIB).

Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurden 90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden (LIB).

Eine Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghaninnen und Afghanen schwierig, überhaupt eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2017, die den Zustand der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen untersuchte, wiesen viele Gesundheitszentren im ganzen Land immer noch große Mängel auf, darunter bauliche und wartungsbedingte Probleme, schlechte Hygiene- und Sanitärbedingungen, wobei ein Viertel der Einrichtungen nicht über Toiletten verfügte, vier von zehn Gesundheitseinrichtungen kein Trinkwassersystem hatten und eine von fünf Einrichtungen keinen Strom hatte. Es gab nicht genügend Krankenwagen und viele Gesundheitseinrichtungen berichteten über einen Mangel an medizinischer Ausrüstung und Material (LIB).

Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (LIB).

Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60 % der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen (LIB).

COVID-19

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium durchgeführten Umfrage hatten mit Juli 2020 35 % der Menschen in Afghanistan seit März 2020 Anzeichen und Symptome von COVID-19 gehabt. Bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (LIB), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht. Die Zahl der täglich neu bestätigten COVID-19-Fälle in Afghanistan ist in den Wochen nach dem Eid al-Fitr-Fest Mitte Mai 2021 stark angestiegen und übertrifft die Spitzenwerte, die zu Beginn des Ausbruchs im Land verzeichnet wurden. Die gestiegene Zahl der Fälle belastet das Gesundheitssystem weiter. Gesundheitseinrichtungen berichten von Engpässen bei medizinischem Material, Sauerstoff und Betten für Patienten mit COVID-19 und anderen Krankheiten (LIB).

Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testproben in die Hauptstadt und geben die Ergebnisse nach sechs bis zehn Tagen bekannt. Im Großteil der Krankenhäuser werden nur grundlegende Anweisungen und Maßnahmen empfohlen, es gibt keine zwingenden Vorschriften, und selbst die Infizierten erfahren nur grundlegende und normale Behandlung (LIB).

Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021

Angesichts der jüngsten Entwicklungen hat die Weltbank alle Hilfen für Afghanistan eingefroren. Mehr 2.500 Gesundheitseinrichtungen und die Gehälter von mehr als 2.000 Beschäftigten im Gesundheitswesen, die im Rahmen des von der Weltbank kofinanzierten Sehatmandi-Projekts unterstützt werden, werden davon betroffen sein. Derzeit sind mehr als 3.800 Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, ganz oder teilweise nicht funktionsfähig. Die NGOs, die das Projekt durchführen, haben jedoch die Umsetzung reduziert, was zur sofortigen Aussetzung einiger Dienste in den Gesundheitseinrichtungen, einschließlich Überweisungen und ambulanter Essensversorgung führte. Einige wenige Gesundheitseinrichtungen, die im Rahmen des Projekts unterstützt wurden, verfügen über genügend medizinische Vorräte um die Versorgung für einige Monate aufrechtzuerhalten. In Ermangelung einer ausreichenden Finanzierung könnte die Kürzung der Hilfe Hunderttausende Afghanen ohne medizinische Versorgung zurücklassen und unverhältnismäßig viele Frauen betreffen. Angesichts der Blockade des Flughafens Kabul rufen WHO und UNICEF zur Unterstützung bei der Lieferung wichtiger medizinischer Güter nach Afghanistan auf (LIB).

1.3.12. Rückkehr - Letzte Änderung: 16.09.2021

IOM (Internationale Organisation für Migration) verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migranten. Von den mehr als 865.700 Afghanen, die im Jahr 2020 nach Afghanistan zurückkehrten, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan (LIB).

Im Jahr 2021 wurden bis August 759.046 undokumentierte Rückkehrer verzeichnet (LIB).

Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration. Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich, da es ohne familiäre Netzwerke sehr schwer sein kann, sich selbst zu erhalten. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk. Einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder in den Iran, nach Pakistan oder weiter nach Europa migrierten. Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen. Aufgrund der Sicherheitslage ist es Rückkehrern nicht immer möglich, in ihre Heimatorte zurückzukehren (LIB).

Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren (LIB).

„Erfolglosen“ Rückkehrern aus Europa haftet oft das Stigma des „Versagens“ an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa, was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird. Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt. Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll, wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird. UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann (LIB).

Viele afghanische Rückkehrer werden de facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbst gebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB).

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der Freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. Zu Tätigkeiten vor Ort im Rahmen anderer Projekte (RADA, etc.) kann derzeit noch keine Rückmeldung gegeben werden (LIB).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zu seinen persönlichen Umständen in Afghanistan, seiner Ausreise und seinem Gesundheitszustand:

Die Feststellung zum Namen und Geburtsdatum des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers (Name und Geburtsdatum) getroffen wurden, gelten diese ausschließlich für die Identifizierung des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Muttersprache und weiteren Sprachen des Beschwerdeführers gründen sich auf seine diesbezüglich glaubhaften Angaben; das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen – im Wesentlichen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen und sich mit den Länderberichten zu Afghanistan deckenden – Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Geburts- und Aufenthaltsort, seinem schulischen und beruflichen Werdegang, seinem Familienstand und seinen Familienangehörigen waren im Wesentlichen gleichbleibend und widerspruchsfrei, weitgehend chronologisch stringent und vor dem Hintergrund der bestehenden sozio-ökonomischen Strukturen in Afghanistan plausibel. Dies gilt aus den in Punkt 2.2. dargelegten Erwägungen nicht für die vermeintliche Entführung seines Vaters durch die Taliban, weshalb auch betreffend diesen festgestellt wurde, dass er noch im Heimatdorf lebt.

Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt.

Die Feststellung zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ergibt sich aus seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung (vgl. S. 5 des Verhandlungsprotokolls) und den damit übereinstimmenden vorgelegten medizinischen Befunden (vgl. zuletzt OZ 10).

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

2.2.1. Zur Gefahr einer Verfolgung durch die Taliban:

Dass das Vorbringen des Beschwerdeführers, die Taliban hätten ihn und seinen Vater aufgefordert, Gift in das Essen von Soldaten zu mischen, sie infolge ihrer Weigerung bedroht und schließlich seinen Vater entführt, nicht glaubhaft war, ergibt sich aus einer Gesamtschau der im Folgenden dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen. Im Besonderen verstrickte sich der Beschwerdeführer im Laufe des Verfahrens in eine Reihe deutlicher Widersprüche und Ungereimtheiten, die er nicht plausibel auflösen konnte. Sein Vorbringen war teilweise auch lebensfremd und nicht plausibel.

In seiner polizeilichen Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer vor, er habe seine Heimat aufgrund der Taliban verlassen. In Afghanistan habe er für die afghanische Nationalarmee in der Küche Hilfsarbeiten durchgeführt. Die Taliban hätten ihn aufgefordert, giftige Stoffe in das Essen beizumengen. Er habe sich geweigert und habe Drohbriefe erhalten. Aus Angst um sein Leben habe er die Flucht ergriffen. Sein Leben sei aufgrund der Taliban in Gefahr. Er fürchte den Tod (vgl. AS 17).

In seiner (ersten) Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, er habe bei einer speziellen Einheit namens Special Force in Kabul gearbeitet. Diese Einheit habe nachts die Taliban angegriffen, es seien auch Amerikaner dabei gewesen. Er und sein Vater hätten gemeinsam gearbeitet, sie seien immer freitags nachhause gekommen und samstags wieder arbeiten gegangen, ansonsten seien sie die ganze Woche bei der Arbeit gewesen. Sein Vater sei Offizier gewesen und habe in der Lohnverrechnung gearbeitet. Ca. ein Jahr lang habe niemand gewusst, dass sie für diese spezielle Einheit arbeiten würden. Dann hätten die Spione der Taliban und die Dorfbewohner dies mitbekommen. Beim Freitagsgebet habe der Mullah mit ihnen gesprochen und gesagt, dass alle schon wissen würden, dass sie mit den Amerikanern kooperieren und bei der Spezialeinheit im Einsatz seien. Er habe gesagt, dass sie von ihm Giftstoff bekommen würden und diesen in das Essen der Spezialeinheit mischen sollen. Der Beschwerdeführer habe zum Mullah gesagt, dass das nicht in Frage komme. Die afghanischen Soldaten der Spezialeinheit seien auch Muslime und würden fünfmal am Tag beten. Dann hätten sie zweimal Drohbriefe der Taliban erhalten. Als sie den zweiten Brief bekommen hätten, hätten sie große Angst bekommen. Danach hätten sie ihr Haus angegriffen. Sein Vater sei ziemlich alt gewesen und habe nicht flüchten können, er sei von den Taliban mitgenommen worden. Der Beschwerdeführer habe es geschafft, nach Jalalabad zu flüchten. Er habe dann von dort aus weitergearbeitet. Für ihn sei es in dieser Einheit sicherer gewesen als zuhause. Ein Monat habe er dann weitergearbeitet, während er seine Ausreise organisiert habe. Sein Vater sei nach wie vor in Gefangenschaft der Taliban (vgl. AS 71-77).

In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, sein Vater sei ein Kommandant bei der Spezialeinheit gewesen und habe irgendwann zu ihm gesagt, dass er dort in der Küche arbeiten solle. Ca. ein Jahr habe niemand von seiner Tätigkeit bei der Spezialeinheit gewusst. Dann hätten sich die Gerüchte verbreitet und fast alle hätten davon gewusst. Eines Tages sei ihr Dorf-Imam zu ihnen nachhause gekommen und habe seinem Vater erzählt, dass die Taliban bereits wissen würden, dass sein Sohn bei der Spezialeinheit tätig sei, und möchten, dass sie etwas für sie machen. Sie sollten das Personal der Spezialeinheit vergiften. Sie hätten es nicht ernst genommen, was der Imam gesagt habe. Ca. 20 Tage danach hätten sie den ersten Drohbrief bekommen und hätten auch diesen nicht ernst genommen, weil sein Vater ein stolzer Mann gewesen sei. Irgendwann sei der zweite Drohbrief gekommen. Währenddessen seien sie normal arbeiten gegangen. Als sie nach dem zweiten Drohbrief keine Reaktion gezeigt hätten, seien Freitagnacht, als sie beide zuhause gewesen seien, die Taliban in ihr Haus gestürmt. Er habe flüchten können, aber sie hätten seinen Vater festgehalten. Er sei nach Jalalabad gegangen. Am Sonntag sei er normal zu seiner Arbeitsstelle gegangen. Es habe ca. ein Monat gedauert, bis seine Reise organsiert worden und ein Schlepper gefunden worden sei, dann habe er sein Heimatland verlassen. Sein Vater sei bis heute spurlos verschwunden (vgl. S. 9-13 des Verhandlungsprotokolls).

Zunächst ist augenscheinlich, dass sich der Beschwerdeführer bei seinem Vorbringen in eine Reihe von deutlichen Widersprüchen verstrickte. So machte er sowohl in der Erstbefragung und der behördlichen Einvernahme als auch in der mündlichen Verhandlung Angaben, die mit seiner Behauptung, sein Vater sei von den Taliban entführt worden und befinde sich in Gefangenschaft, völlig unvereinbar sind. In der Erstbefragung gab er an, sein Vater sei – wie der Rest seiner Familie – „derzeit in XXXX /Afghanistan“, seinem Heimatdorf (vgl. AS 11), und erwähnte auch bei der Schilderung seiner Fluchtgründe keine Entführung (vgl. AS 17). Letzteres wiegt angesichts des primären Zwecks und der Kürze einer Erstbefragung zwar nicht allzu schwer, warum der Beschwerdeführer aber ausdrücklich angeben würde, sein Vater befinde sich im Heimatdorf, ist dadurch nicht erklärbar. Auch in der Einvernahme vor der belangten Behörde gab der Beschwerdeführer zunächst an, dass sich beide Eltern in seinem Dorf aufhalten würden (vgl. AS 67). Erst bei einer späteren Frage nach seinen Geschwistern erwähnte er erstmals, dass sich sein Vater in Gefangenschaft der Taliban befinden soll. Auf Nachfrage der Behörde, wieso er zuvor angegeben habe, sein Vater halte sich im Heimatdorf auf, sagte er nur Folgendes: „Die ganze Familie ist im Heimatdorf, nur mein Vater wurde von den Taliban mitgenommen. Nachgefragt gebe ich an, dass ich nicht weiß, wo er gefangengehalten wird.“ (vgl. AS 68). Den Widerspruch in seinen Angaben konnte er damit nicht aufklären. Schließlich gab der Beschwerdeführer auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, dazu befragt, ob seine Ehefrau mit seiner Familie zusammenlebe, an, dass sie „mit meiner Kernfamilie, mit meinen Eltern“ zusammenlebe (vgl. S. 7 des Verhandlungsprotokolls). Auf einen Vorhalt des sich daraus ergebenden Widerspruchs durch die erkennende Richterin antwortete er: „Wo soll meine Frau leben. Es ist logisch das sie bei meinen Eltern leben.“ [sic]. Auch auf nochmalige Erläuterung der Richterin, dass sie unter „Eltern“ Mutter und Vater verstehe, sagte er nur: „Meine Frau lebt im selben Haushalt, aber ihr Zimmer ist getrennt.“ (vgl. S. 13 des Verhandlungsprotokolls).

Aus diesen sich durch das gesamte Verfahren ziehenden, bei drei verschiedenen Befragungen in den Jahren 2015, 2017 und 2021 geäußerten Angaben des Beschwerdeführers, die jeweils darauf hindeuten, dass sein Vater nach wie vor mit dem Rest der Familie im Heimatdorf lebt, ergibt sich in Zusammenschau mit seinen stets ausweichenden und die Widersprüche nicht aufklärenden Reaktionen auf die Vorhalte, dass eine Entführung seines Vaters durch die Taliban nicht glaubhaft ist. Dabei handelt es sich jedoch um einen ganz wesentlichen Aspekt seines Fluchtvorbringens. Wären, wie behauptet, sowohl der Beschwerdeführer als auch sein Vater von den Taliban aufgefordert und bedroht worden, wäre nicht nachvollziehbar, dass sein Vater noch unbehelligt im Heimatdorf leben könnte, während er fliehen hätte müssen. Die diesbezüglichen Widersprüche beeinträchtigen daher auch die Glaubhaftigkeit des übrigen Vorbringens stark.

Klare Widersprüche traten im Verfahren auch betreffend die vermeintliche Position und Tätigkeit des Vaters des Beschwerdeführers hervor. Er selbst beschrieb diesen in seinen Einvernahmen stets als „Offizier bei der Nationalarmee“, der bei einer Spezialeinheit tätig gewesen sei (vgl. AS 68, 73, 153). Er habe „insgesamt 10 Jahre lang bei der Armee gearbeitet“ (vgl. S. 6 des Verhandlungsprotokolls). Diverse vom Beschwerdeführer vorgelegte, seinen Vater betreffende Unterlagen scheinen jedoch vielmehr eine Tätigkeit bei der afghanischen Polizei nahelegen zu wollen. So betreffen vorgebliche Ausbildungsbestätigungen etwa ein „International Police Program“ (vgl. AS 178), „Afghan National Police Training Project“ (vgl. AS 179) oder wurden von einem „Police Lead Advisor“ ausgestellt (vgl. AS 182). Auch eine vermeintliche Ausweiskarte trägt klar erkennbar die Aufschrift „POLICE“ (vgl. AS 186). Erst in der Stellungnahme vom 01.12.2021 wurde erstmals versucht, diese Abweichungen zu erklären, indem vorgebracht wurde, sein Vater sei als Polizist durch das Innenministerium zur Spezialeinheit entsandt worden (vgl. OZ 10). In seinen Einvernahmen erwähnte der Beschwerdeführer aber nie, dass sein Vater Polizist gewesen sein. Dies widerspricht auch seiner Aussage, dass sein Vater den (militärischen) Rang eines Turan (Oberleutnant) gehabt habe (vgl. AS 73). In den vorgelegten Unterlagen wird sein Vater ausschließlich mit den Rängen Captain und Major bezeichnet. Aufgrund dieser Widersprüche geht das Gericht davon aus, dass es sich bei den vorgelegten, den Vater des Beschwerdeführers betreffenden Unterlagen um Fälschungen handelt und dass dieser tatsächlich weder Offizier der Polizei noch der Armee war. Es erscheint auch äußerst unplausibel, dass der Beschwerdeführer als Sohn eines Offiziers keine Schule besuchen und nicht einmal lesen und schreiben lernen würde. Die Dokumente enthalten keine besonderen fälschungssicheren Merkmale, die eine zuverlässige Überprüfung ihrer Echtheit ermöglichen würden. Die ebenfalls vorgelegten Fotos, die diverse Männer in Uniformen zeigen, sind schon deshalb nicht zum Beweis dieses Umstands geeignet, weil die abgebildeten Personen für das Bundesverwaltungsgericht nicht identifizierbar sind.

Mit seinen übrigen Angaben nicht in Einklang zu bringen war auch das Vorbringen des Beschwerdeführers dazu, wie er die Zeit von seiner Flucht aus dem Heimatdorf bis zur endgültigen Ausreise aus Afghanistan verbracht habe. Vor der belangten Behörde sagte er, er sei nach Jalalabad geflüchtet und habe noch ein Monat lang „von dort aus weiter gearbeitet“ (vgl. AS 71). Auch in der mündlichen Verhandlung gab er an, er sei nach dem Angriff der Taliban nach Jalalabad gegangen und am Sonntag wieder zu seiner Arbeitsstelle gegangen (vgl. S. 9 des Verhandlungsprotokolls). Zugleich sagte der Beschwerdeführer aber stets, dass sich seine Arbeitsstelle, der Stützpunkt der Spezialeinheit, in Kabul befunden habe (vgl. AS 73, S. 6 des Verhandlungsprotokolls). Es ist nicht nachvollziehbar, wie der Beschwerdeführer, ein Küchenhelfer, von Jalalabad aus „weiterarbeiten“ hätte können. Ebenso widersprüchlich war die Schilderung des Gesprächs mit dem Mullah, in dem sein Vater und er erstmals aufgefordert worden seien, die Soldaten zu vergiften. Während er in der behördlichen Einvernahme aussagte, der Mullah habe beim Freitagsgebet mit ihnen gesprochen (vgl. AS 71), gab er in der mündlichen Verhandlung zunächst an, der Mullah sei zu ihnen nachhause gekommen (vgl. S. 9 des Verhandlungsprotokolls). Erst als die erkennende Richterin noch einmal nachfragte, ob der Mullah zu ihnen nachhause gekommen sei oder ob das Gespräch beim Freitagsgebet stattgefunden habe, sagte er wiederum, es sei während des Freitagsgebets gewesen (vgl. S. 10). Diese Abweichung zwischen den Angaben in der freien Schilderung und auf konkrete Nachfrage spricht dafür, dass dem Beschwerdeführer durch die Nachfrage der Widerspruch zu seinem früheren Vorbringen bewusstgeworden ist.

Weiters beschrieb der Beschwerdeführer auch den Inhalt der vermeintlichen Drohbriefe abweichend von den von ihm vorgelegten Schriftstücken. In der Einvernahme vor der belangten Behörde sagte er, in beiden Briefen sei von ihnen dasselbe verlangt worden, dass sie das Essen vergiften wollen [gemeint offenbar: sollen] (vgl. AS 75). Tatsächlich wird in den vorgelegten Schreiben aber jeweils ausschließlich der Beschwerdeführer selbst und niemals sein Vater erwähnt (vgl. AS 127, 133). Er wird darin auch nicht aufgefordert, Essen zu vergiften, sondern es werden „Mujaheddin“ aus seiner Region aufgerufen, ihn zu finden und zu bestrafen, weil er die Zusammenarbeit verweigert habe. Insofern wären diese Briefe auch gar nicht an ihn gerichtet gewesen, sondern an andere Taliban-Anhänger, sodass unklar ist, warum sie vor seiner Haustüre abgelegt werden sollten. Als ihm von der Behörde vorgehalten wurde, dass in den Briefen nur er bedroht werde, antwortete er „Ich weiß es nicht“, und auf weiteren Vorhalt, dass er gerade gesagt habe, sein Vater habe ihm gesagt, was in den Briefen stehe, sagte er nur „Ja“ (vgl. AS 77). In der mündlichen Verhandlung gab er sogar – vermeintlich – wörtlich wieder, was laut seinem Vater im ersten Brief gestanden sei: „Wenn Sie unser Ansuchen nicht ernst nehmen, werden wir euch beide töten.“ (vgl. S. 11 des Verhandlungsprotokolls). Wie bereits ausgeführt wird in den vorgelegten Schreiben jedoch weder sein Vater oder sonst eine zweite Person („euch beide“) erwähnt, noch sind sie überhaupt direkt an den Beschwerdeführer gerichtet. Aufgrund dieser Widersprüche geht das Gericht auch betreffend die vorgelegten vermeintlichen Drohbriefe davon aus, dass es sich dabei um Fälschungen handelt. Für Schriftstücke dieser Art gilt generell, dass ihre Echtheit aufgrund der höchst unterschiedlichen Gestaltung von Drohbriefen der Taliban sowie in Ermangelung von Sicherheitsmerkmalen kaum überprüfbar ist. In Zusammenschau mit den aufgezeigten Widersprüchen ist davon auszugehen, dass es sich um Gefälligkeitsschreiben unklaren Ursprungs handelt, die das Vorbringen stützen hätten sollen.

Schließlich erwies sich auch die Beschreibung des vermeintlichen Überfalls der Taliban auf ihr Haus, bei dem sein Vater entführt worden sein soll, als lebensfremd und nicht plausibel. Der Beschwerdeführer gab in der mündlichen Verhandlung an, dass die Taliban gegen 2 Uhr nachts, als sie alle geschlafen hätten, plötzlich ins Haus gestürmt seien. Er habe flüchten können, weil er noch jung und kräftig gewesen sei. Sein Vater sei alt gewesen und habe nicht flüchten können. Er sei ins Auto eingestiegen und schnell nach Jalalabad gefahren. Das Haus habe zwei Eingänge, und er habe durch die zweite Eingangstür flüchten können. Die Taliban und die Festnahme seines Vaters habe er mit eigenen Aussagen gesehen (vgl. S. 11 des Verhandlungsprotokolls). Es ist nicht nachvollziehbar, wie es dem Beschwerdeführer unter diesen Umständen möglich gewesen sein soll, vor den Taliban zu flüchten. Er hätte, als diese ins Haus gestürmt seien, noch geschlafen, und dann noch mit eigenen Augen gesehen, wie sie seinen Vater festgenommen hätten. Da er sich somit offenbar in Sichtweite der Taliban befand, ist es nicht lebensnah, dass ihn diese noch aus dem Haus flüchten lassen würden. Auf entsprechende Nachfrage der Richterin gab er an, dass die Taliban ihn auch nicht verfolgt hätten, erklärte aber nicht, weshalb (vgl. S. 12 des Verhandlungsprotokolls). Kurz davor hatte er noch gesagt, die Taliban seien zu ihnen gekommen, um ihn gezielt festzunehmen und zu erwischen, was jedenfalls nahelegen würde, dass sie ihn auch verfolgen würden.

In einer Gesamtschau der dargelegten beweiswürdigenden Erwägungen, insbesondere der aufgezeigten klaren Widersprüche und Ungereimtheiten und der teilweise lebensfremden und nicht plausiblen Schilderungen konnte der Beschwerdeführer eine Bedrohung durch die Taliban nicht glaubhaft machen.

Dem Beschwerdeführer droht daher aus diesem Grund bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt durch die Taliban oder andere Personen.

2.2.2. Zur Gefahr einer Verfolgung als Rückkehrer aus Europa:

Dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan allein aufgrund seiner mehrjährigen Abwesenheit und seines Lebens in Europa bzw. in Österreich Verfolgung drohen würde, ist unter Beachtung der Situation im Herkunftsstaat und seiner individuellen Umstände nicht ersichtlich. Diesbezüglich brachte er in der Stellungnahme vom 01.12.2021 vor, dass Rückkehrern aus westlichen Ländern Verfolgung drohe. Einer Studie zufolge hätten 50 Prozent der befragten, aus westlichen Ländern abgeschobenen Afghanen Gewalt erfahren, weil sie in Europa gewesen seien. Diese Gefährdungslage treffe auch auf ihn zu, der in Österreich einen Asylantrag gestellt habe (vgl. OZ 10). Inwiefern der Beschwerdeführer aber konkret eine mit einem Leben in Afghanistan unvereinbare Lebensweise oder „westliche“ Orientierung angenommen hätte, und worin sich diese äußere, brachte er nicht vor. Auch in der mündlichen Verhandlung erwähnte er eine Gefährdung aus diesem Grund nicht.

Aus den Länderinformationen geht jedenfalls nicht hervor, dass alle Rückkehrer aus westlichen Ländern von den Taliban oder anderen Gruppen verfolgt würden. EASO führt in seiner Country Guidance vom November 2021 aus, dass Afghanen, die sich mit westlichen Werten identifizieren, von bewaffneten Gruppen ins Visier genommen werden „könnten“, wenn diese als unislamisch, regierungstreu oder als Spione wahrgenommen werden. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass das Risiko einer Verfolgung wegen vermeintlicher „Verwestlichung“ für Frauen ungleich höher ist als für Männer. Die Einstellungen betreffend „verwestlichte“ Männer sind gemischt. Männer mit „westlichen“ Werten oder jene, die aus westlichen Ländern zurückkehren, können auf Misstrauen, Stigmatisierung oder Ablehnung stoßen. UNHCR verweist in seinen Richtlinien vom 30.08.2018 auf einzelne Berichte zur Verfolgung „als verwestlicht wahrgenommener“ Personen, enthält sich jedoch einer Einschätzung zur Wahrscheinlichkeit einer solcher Verfolgung. Im konkreten Fall des Beschwerdeführers, der gar nicht konkret behauptet hat, eine „westliche“ Einstellung angenommen zu haben und nach wie vor sunnitischer Muslim und Paschtune ist, ist es nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass er im Fall seiner Rückkehr als „verwestlichter“ Mann von den Taliban oder anderen verfolgt werden würde.

2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell. Die in der Beschwerde zitierten Länderberichte sind jedenfalls durch die aktuellen, in den Feststellungen zitierten Länderinformationen überholt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Zu A.)

3.1. Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten:

3.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Gefahr der Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH vom 10. 12.2014, Ra 2014/18/0078, mwN).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der [Beschwerdeführer] die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, § 45, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrunde liegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

3.1.2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl begründete die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdeführer eine persönliche Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan nicht glaubhaft hätten machen können. Mit dieser Beurteilung ist die belangte Behörde im Ergebnis im Recht:

3.1.2.1. Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, ist das Vorbringen des Beschwerdeführers zu einer Bedrohung durch die Taliban, weil er sich geweigert habe, Gift in das Essen von Soldaten zu mischen, nicht glaubhaft. Er hat keine Drohbriefe erhalten. Sein Vater ist und war auch kein Offizier der afghanischen Armee oder Polizei und wurde nicht von den Taliban entführt.

Zwar erfüllt der Beschwerdeführer aufgrund seiner ehemaligen Tätigkeit als Küchenhilfe für die afghanische Armee grundsätzlich das in den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 beschriebene Risikoprofil der „Personen, die mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der internationalen Streitkräfte, verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen“. Im konkreten Fall hat sich dieses Risiko jedoch nicht verwirklicht. Die UNHCR-Richtlinien verlangen für die Gefährdungsbeurteilung von Personen, die ein Risikoprofil erfüllen, eine Beurteilung der jeweiligen Umstände des Falles und enthalten nicht den Schluss, dass jeder Asylsuchende, der ein Risikoprofil erfüllt, einer Verfolgung ausgesetzt wäre (vgl. VwGH 15.10.2020, Ra 2020/18/0405). Im Fall des Beschwerdeführers, der vor über sechs Jahren untergeordnete Hilfsarbeiten als Küchenhilfe verrichtet hat, nicht an Kampfhandlungen beteiligt war und – entgegen seinem Vorbringen –nicht von den Taliban kontaktiert wurde, ist es auch nicht maßgeblich wahrscheinlich, dass ihm aktuell oder künftig eine Verfolgung durch diese droht.

Vor dem Hintergrund der Feststellungen zur Lage in Afghanistan kann daher nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer insofern im Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung droht.

3.1.2.2. Hinsichtlich der behaupteten Gefährdung aufgrund einer langen Abwesenheit aus Afghanistan und des Aufenthalts in Europa sowie einer deshalb unterstellten „Verwestlichung“ ist wie in der Beweiswürdigung bereits ausgeführt nicht ersichtlich, dass dem Beschwerdeführer allein aus diesen Gründen Verfolgung drohen würde. Den zitierten UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 sowie der EASO Country Guidance 2021 ist keineswegs zu entnehmen, dass alle Rückkehrer aus westlichen Ländern von Verfolgung bedroht wären. Darauf, sich dies durch die Machtübernahme der Taliban geändert hätte, sind bislang keine Hinweise hervorgekommen. Eine auch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu prognostizierende, individuelle und konkret gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfolgung aus einem in der GFK genannten Grund aufgrund seiner Eigenschaft als Rückkehrer aus Europa bzw. vermeintlich „verwestlichte“ Person kann in seinem Fall, wie ausgeführt, nicht erkannt werden.

3.1.3. Da sich auch sonst keine konkrete gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfolgung in seinem Heimatstaat ableiten ließ, war im Ergebnis die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide abzuweisen.

3.2. Zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung:

3.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen,

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist,

wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Nach § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 leg. cit. mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 leg. cit. oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 leg. cit. zu verbinden.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 leg. cit.) offen steht.

Nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Antrag auf internationalen Schutz von Asylwerbern, denen in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden kann, und denen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann, abzuweisen (innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

3.2.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in einer Entscheidung mit der bisherigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung zum realen Risiko einer drohenden Verletzung der Art. 2 und 3 EMRK und zur ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im innerstaatlichen Konflikt auseinandergesetzt und diese wie folgt zusammengefasst (VwGH 21.02.2017, Ra 2016/18/0137):

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK eine Einzelfallprüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0053 mwN).

Um von der realen Gefahr („real risk“) einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüber hinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. etwa VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479 und 23.09.2009, 2007/01/0515 mwN).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass ein „real risk“ (reales Risiko) vorliegt, wenn stichhaltige Gründe („substantial grounds“) dafürsprechen, dass die betroffene Person im Falle der Rückkehr in die Heimat das reale Risiko (insbesondere) einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte zu gewärtigen hätte. Dafür spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob dieses reale Risiko in der allgemeinen Sicherheitslage im Herkunftsstaat, in individuellen Risikofaktoren des Einzelnen oder in der Kombination beider Umstände begründet ist. Allerdings betont der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung auch, dass nicht jede prekäre allgemeine Sicherheitslage ein reales Risiko iSd Art. 3 EMRK hervorruft. Im Gegenteil lässt sich seiner Judikatur entnehmen, dass eine Situation genereller Gewalt nur in sehr extremen Fällen („in the most extreme cases“) diese Voraussetzung erfüllt (vgl. etwa EGMR 28.11.2011, Appl. 8319/07 und 11.449/07, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Rz 218, mit Hinweis auf EGMR 17.07.2008, Appl. 25.904/07, NA gegen Vereinigtes Königreich). In den übrigen Fällen bedarf es des Nachweises von besonderen Unterscheidungsmerkmalen („special distinguishing features“), auf Grund derer sich die Situation des Betroffenen kritischer darstellt als für die Bevölkerung im Herkunftsstaat im Allgemeinen (vgl. etwa EGMR 28.11.2011, Appl. 8319/07 und 11.449/07, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Rz 217).

Thurin (Der Schutz des Fremden vor rechtswidriger Abschiebung2, 2012, 203) fasst die bezughabenden Aussagen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte dahingehend zusammen, dass der maßgebliche Unterschied zwischen einem „realen Risiko“ und einer „bloßen Möglichkeit“ prinzipiell im Vorliegen oder Nichtvorliegen von „special distinguishing features“ zu erblicken ist, die auf ein „persönliches“ („personal“) und „vorhersehbares“ („foreseeable“) Risiko schließen lassen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz bestehe nur in sehr extremen Fällen („most extreme cases“), wenn die allgemeine Lage im Herkunftsstaat so ernst sei, dass praktisch jeder, der dorthin abgeschoben wird, einem realen und unmittelbar drohenden („real and imminent“) Risiko einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sei. Diesfalls sei das reale Risiko bereits durch die extreme allgemeine Gefahrenlage im Zielstaat indiziert.

Auch im jüngst ergangenen Urteil der Großen Kammer vom 23.08.2016, Appl. 59.166/12, J.K. u.a. gegen Schweden, beschäftigte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit seiner einschlägigen Rechtsprechung und führte u. a. aus, dass die Beweislast für das Vorliegen eines realen Risikos in Bezug auf individuelle Gefährdungsmomente für eine Person grundsätzlich bei dieser liege (v.a. Rz 91 und 96), gleichzeitig aber die Schwierigkeiten, mit denen ein Asylwerber bei der Beschaffung von Beweismitteln konfrontiert sei, in Betracht zu ziehen seien und bei einem entsprechend substantiierten Vorbringen des Asylwerbers, weshalb sich seine Lage von jener anderer Personen im Herkunftsstaat unterscheide (vgl. Rz 94), im Zweifel zu seinen Gunsten zu entscheiden sei (Rz 97). Soweit es um die allgemeine Lage im Herkunftsstaat gehe, sei jedoch ein anderer Ansatz heranzuziehen. Diesbezüglich hätten die Asylbehörden vollen Zugang zu den relevanten Informationen und es liege an ihnen, die allgemeine Lage im betreffenden Staat (einschließlich der Schutzfähigkeit der Behörden im Herkunftsstaat) von Amts wegen festzustellen und nachzuweisen (Rz 98).

Der Tatbestand einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 orientiert sich an Art. 15 lit. c der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EG ) und umfasst – wie der Gerichtshof der Europäischen Union erkannt hat – eine Schadensgefahr allgemeiner Art, die sich als „willkürlich“ erweist, also sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken kann. Entscheidend für die Annahme einer solchen Gefährdung ist nach den Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union, dass der den bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr, einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein. Dabei ist zu beachten, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er auf Grund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH 17.02.2009, C-465/07, Elgafaji, und vom 30.01.2014, C-285/12, Diakité).

Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen (vgl. VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).

Darüber hinaus ist auf die Rechtsprechung der Höchstgerichte zu verweisen, wonach es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. VwGH 05.10.2016, Ra 2016/19/0158 mit Verweis auf das Urteil des EGMR vom 05.09.2013, I gegen Schweden, Appl. 61.204/09, mwH).

3.2.3. Vor diesem Hintergrund ist für den vorliegenden Fall Folgendes festzuhalten:

3.2.3.1. Die Beweislast für das Vorliegen eines realen Risikos in Bezug auf individuelle Gefährdungsmomente für eine Person liegt grundsätzlich bei ihr (vgl. VwGH 05.10.2016, Ra 2016/19/0158). Die allgemeine Lage im Herkunftsstaat ist hingegen von den Asylbehörden von Amts wegen festzustellen und nachzuweisen (zum Ganzen EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 23.08.2016, Appl. 59.166/12, J.K. u.a. gegen Schweden; v.a. Rz 91, 96 und 98).

Im Hinblick auf die jüngst erfolgte Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 und die derzeit vorherrschende höchst volatile und letztlich nicht zuverlässig beurteilbare Sicherheits- und Versorgungslage in ganz Afghanistan kann zum Entscheidungszeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, dass für den Beschwerdeführer als Zivilperson mit der Abschiebung die reale Gefahr einer Verletzung seiner Recht nach Art. 2 oder 3 EMRK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre. Festzuhalten ist, dass dies auch für die, vor der neuerlichen Machtübernahme durch die Taliban als relativ sicher geltenden, Städte Kabul, Mazar-e Sharif und Herat gilt.

Zudem ist zu beachten, dass der Beschwerdeführer nicht gesund ist, sondern an einer behandlungsbedürftigen Hepatitis-B-Erkrankung leidet. Deren angemessene Behandlung ist in Afghanistan derzeit aufgrund der allgemein katastrophalen medizinischen Versorgung nicht sichergestellt (siehe Punkt 1.3.11.). Er ist zwar grundsätzlich arbeitsfähig, im afghanischen Familienverband aufgewachsen und spricht eine Landessprache als Muttersprache, sodass er mit den wesentlichen Gegebenheiten und Bräuchen vertraut ist.

Dennoch wäre es dem Beschwerdeführer aufgrund der nunmehr in Afghanistan herrschenden Situation mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit derzeit nicht möglich, Afghanistan zu erreichen und sich dort eine Existenz aufzubauen, ohne unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens oder seiner körperlichen Unversehrtheit zu riskieren, auch durch eine existenzbedrohende Situation. Die Wirtschafts- und Versorgunglage hat sich, nicht zuletzt aufgrund des Umstandes, dass sich eine aufgrund des innerstaatlichen Konfliktes stark gestiegene Zahl von Menschen als Vertriebene innerhalb Afghanistans auf der Flucht befindet, in Verbindung mit den Auswirkungen der Dürre und Überschwemmungen, sowie der anhaltenden einschneidenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, drastisch verschärft und stellt insbesondere Rückkehrer vor große Herausforderungen. Insofern ist die Ernährungsunsicherheit gestiegen und haben sich die Möglichkeiten, ein Einkommen zu erwirtschaften bzw. die Grundversorgung zu gewährleisten verschlechtert.

Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass IOM aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration für Afghanistan mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen musste.

Die grundsätzlich instabile Sicherheitslage zeigt sich auch darin, dass nach Afghanistan entsandte Vertreter zahlreicher Staaten von ihren Heimatstaaten aufgefordert wurden, Afghanistan zu verlassen und Personal mithilfe gezielter Missionen des jeweiligen Militärs außer Landes gebracht wurde. Die Spitzenpolitiker der Taliban sind bereits aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden.

Sowohl der Verfassungsgerichtshof als auch der Verwaltungsgerichtshof haben ausgesprochen, dass spätestens ab 20.07.2021 von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass jedenfalls eine Situation vorgelegen habe, die Asylwerber bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung ihrer verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art. 2 und 3 EMRK aussetzen würde (vgl. VwGH 18.11.2021, Ra 2021/18/0286 unter Verweis auf VfGH 30.09.2021, E 3445/2021-8). Den Länderberichten ist nicht zu entnehmen, dass sich die Situation seither maßgeblich verbessert hätte.

Auch UNHCR fordert in seinem Positionspapier zur Rückkehr nach Afghanistan vom August 2021 im Hinblick auf die aktuelle Lage alle Staaten dazu auf, fliehenden Afghanen Zutritt zu gewähren und das Prinzip des Non-Refoulements stets zu respektieren. Aufgrund der derzeitig volatilen Situation erachtet UNHCR die Verweigerung internationalen Schutzes für afghanische Staatsangehörige mit dem Argument einer verfügbaren innerstaatlichen Flucht- oder Wiederansiedlungsalternative für nicht angebracht. Im Falle von Personen, deren Anträge auf internationalen Schutz zeitlich vor den jüngsten Ereignissen abgewiesen worden sind, können geänderte Umstände vorliegen, die in einem allfälligen neuen Antrag berücksichtigt werden müssen. Alle Staaten sind dazu aufgefordert, Abschiebungen – auch von Personen, deren Anträge auf internationalen Schutz bereits abgewiesen worden sind – auszusetzen, bis sich die Lage der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit so deutlich verbessert hat, dass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde möglich ist.

Vor dem Hintergrund der derzeit aufgrund der Machtergreifung der Taliban und nach wie vor höchst volatilen Situation nicht zuverlässig beurteilbaren Sicherheits- und Versorgungslage und deren Entwicklung in naher Zukunft in Afghanistan sowie der UNHCR-Position in Verbindung mit den persönlichen Umständen des Beschwerdeführers war in einer Gesamtschau festzustellen, dass nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, dass für den Beschwerdeführer mit der Abschiebung die reale Gefahr einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 oder 3 EMRK oder einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner körperlichen Unversehrtheit verbunden wäre. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht nicht, da diese Situation ganz Afghanistan betrifft.

3.2.4. Ausschlussgründe nach § 8 Abs. 3a iVm § 9 Abs. 2 AsylG 2005 liegen nicht vor, weil sie einerseits nicht hervorgekommen sind (§ 9 Abs. 2 Z 1 und 2 leg. cit.) und der Beschwerdeführer andererseits strafgerichtlich unbescholten ist (§ 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005).

Der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides war daher gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 stattzugeben.

3.2.5. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Fall des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

Das Bundesverwaltungsgericht erkannte dem Beschwerdeführer mit vorliegendem Erkenntnis den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, sodass eine befristete Aufenthaltsberechtigung in der Dauer von einem Jahr zu erteilen war.

3.2.6. Nachdem dem Beschwerdeführer mit dem vorliegenden Erkenntnis der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, waren auch die mit Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides nach § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG erlassene Rückkehrentscheidung sowie die weiteren damit verbundenen Aussprüche zu beheben, da diese ihre rechtliche Grundlage verloren haben.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal der vorliegende Fall vor allem im Bereich der Tatsachenfragen anzusiedeln ist. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist – soweit diese nicht unvertretbar ist – nicht revisibel (z.B. VwGH 19.04.2016, Ra 2015/01/0002, mwN). Auch bei Gefahrenprognosen im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 und bei Interessenabwägungen nach Art. 8 EMRK handelt es sich letztlich um einzelfallbezogene Beurteilungen, die im Allgemeinen nicht revisibel sind (z.B. VwGH 18.03.2016, Ra 2015/01/0255; 12.10.2016, Ra 2016/18/0039).

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